vonErnst Volland 14.02.2022

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Teil 4

Die Einraumwohnung

Der Tag war lang und es bedurfte viel Zeit, jedes einzelne Foto zu kommentieren und zu übersetzen. Nach acht Stunden legte sich Karin van Mourik, die Dolmetscherin, auf das mit einer bunten Wolldecke bezogene Bett, auf deren Kante wir beim Arbeiten zu dritt saßen, um sich ein wenig auszuruhen. 

Es gab keinen Tisch. Vor dem Bett stand eine Art Hocker aus Holz, auf dem nur das Telefon und ein Notizblock Platz hatten. Gleich neben diesem wackeligen Gestell, das durch schmale braunen Tesafilm zusammengehalten wurde, begann übergangslos die Dunkelkammer. Links an der Wand hing ein einfühlsames Portrait von Konstantin Simonow, Schriftsteller und Kriegskorrespondent wie Chaldej. 

Auch Simonow  dokumentierte die letzten Tage des Krieges 1945 in Berlin. Er war einer der engsten Freunde Chaldejs. Sein Gedicht „Wart auf mich“, das Simonow unmittelbar nach Ausbruch des Krieges geschrieben hatte, beklagte den Abschied von einer Geliebten. 

Viele Soldaten trugen dieses Gedicht, von Hand geschrieben, wie einen Talisman in ihrer Brusttasche an der Front bei sich. 

Gleich neben Simonows Portrait standen drei solide Vergrößerungsgeräte. Das Zubehör lag griffbereit. Einen breiten Raum nahm ein großes stabiles Becken in Anspruch, genau in der Mitte durch einen Zwischenwand geteilt. In der Fotosprache Wanne genannt, dient sie zum Fixieren und Wässern der Abzüge. Jeweils 40 cm tief, 1 Meter lang und 80 cm breit, aus grauen Kunststoff und direkt an der Wand verschraubt. In dieser Größe arbeitet ein normales professionelles Fotolabor.  

Dunkelkammer, Schlafzimmer, Wohnstube in einem. Mehr Nähe ging nicht. Ein Fotograf, der in der eigenen Dunkelkammer schlief, war mir bisher noch nicht begegnet.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes blickte Simonow auf das große Fotoportrait einer schönen Frau. Es war Chaldejs Frau.

Am nächsten Morgen klopften wir wieder an die mit mehreren Schlössern gesicherte Tür. Wir waren um sieben Uhr morgens aufgestanden, nahmen wenig später die moskauer Metro, stiegen einen permanent nach billigen Fusel Öl riechenden vollbesetzten Bus bis in die Nähe seiner Wohnung, die mitten in einer nüchternen Plattenbausiedlung lag. Inzwischen zwei Stunden unterwegs, liefen wir den restlichen Weg von der Bushaltestelle, nachdem wir einige schlecht gelaunte Passanten fragten und es angefangen hatte zu regnen, in einer viertel Stunde. 

„Wer ist da?

„Ernst aus Berlin und Karin, Dolmetscherin.“

„Ernst, ah gut, ich machen auf.“

Wir traten in die schmale Einraumwohnung. 

„Bitteschöön.“

Das Wort „Bitteschöön“ benutzte er in den nächsten Jahren häufig. Die zweite Silbe des Wortes zog er einen Moment wie ein Clown in die Länge. Bitteschöön bedeutete: Alles ist möglich, oder, kein Problem.

Von der Balkontür im 6. Stock des schon baufälligen Neubaus, die Fassade blätterte an mehreren Stellen ab, wehte eine leichte Brise. Es war bereits um 10 Uhr morgens drückend heiß. Der Regen hatte aufgehört.

„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, war aufgeregt, die vielen Erinnerungen. Krieg, Krieg, Krieg. Dann habe ich mich einfach auf das Bett gelegt, angezogen, genau in die Mulde, in der Karin lag und habe von ihr geträumt. Dann konnte ich schlafen.“

Wir beugten uns wieder über seine Fotos. Chaldej saß im Unterhemd am Rand des Bettes.

„Entschuldigung, zu heiß.“

Foto: Ernst Volland

 

Foto: Ernst Volland
Foto: Ernst Volland

Fotos 1-3 in der Einraumwohnung, 

Auf dem Holzschemel stand jetzt eine 5 Liter Wodkaflasche mit einem Griff. So etwas  hatte ich noch nie gesehen. Das Telefon klingelte. Chaldej machte es kurz. Unser Besuch war ihm wichtig. Das Telefon klingelte erneut. An der Wand hingen Fotos, großformatige Abzüge seiner Negative. Stalin in einem Korbsessel in schneeweißer Uniformjacke. Daneben die Führungsspitze der Nazis auf der Anklagebank in Nürnberg. Die Flagge auf dem Reichstag. Wieder klingelte das Telefon.

„Ich vertraue niemandem meine Negative und Abzüge an. Ich mache alles selbst. Auch große Formate sind kein Problem.“

Am Bett entlang hing vom Kopfende bis an das Fußende in einem Winkel ein handbreites Holzregal, in dem verschiedene Gegenstände zur Ablage verwahrt waren. Auf diesem standen in eine Reihe unterschiedliche Objekte, teils mit der Hand gefertigt, darunter  das Modell eines russischen Schlachtschiffs  und das  eines Atom-U-Bootes: „Von Freunden aus Murmansk“. 

Chaldej erklärte die Herkunft der Objekte. Es waren kleine Geschenke, die man ihm  bei Besuchen oder Ausstellungen überreicht hatte. Zwischen dem Ende des Bettes und der Zimmertür stand ein Karteischrank aus hellem Holz. Dort schlummerten, so Chaldej, mindestens sechstausend Negative. Das war aber nur ein Teil seines Ouvres, denn insgesamt besaß er etwa Zwanzigtausend. 

Die Negative im Schrank waren nach Themen geordnet. Jedes Negativ ruhte in einem Umschlag, auf den er ein entsprechenden Kontaktabzug des Motivs geklebt hatte.  Diese optimale Übersicht erleichterte die Recherche nach gefragten Motiven. Chaldej versprach von allen  ausgesuchten Negativef für eine kommende Ausstellung in Berlin sorgfältige Prints in den nächsten Wochen eigenhändig in diesem Zimmer herzustellen und zu retuschieren. Die Frage, ob er damit nicht zu viel Mühe habe, wischte er mit einer Handbewegung und einem langgezogenen „Njeet“ beiseite.

Für die Retusche hatte er sich einen versierten Kollegen engagiert, aber die Fotos, die können nur, wie er mehrmals betonte, nur von ihm selbst abgezogen werden.

„Das ist doch eine Selbstverständlichkeit und mein Job seit sechzig Jahren“.

Chaldej zeigte mir ein Foto, das ich am Tag zuvor erfragt hatte. Es war ein Motiv, das sich in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Auf dem Foto steht eine klagende, gebeugte Frau auf freiem Schnee verwehtem Feld. Sie beweint die vielen Toten, die vor ihren Füßen liegen. Ich hatte nach diesem Foto gefragt in der Annahme, es sei von ihm. Ohne dass eine Antwort von ihm kam,  ging das Gespräch durch eine spontane Frage der Dolmetscherin in eine andere Richtung und wir kamen nicht mehr auf das Foto zurück. Es war ein kleiner Abzug, mit einer handgeschriebenen Signatur auf der Rückseite. Ich las den Namen „Baltermans“.

„Dieses bekannte Foto ist von meinem Kollegen Dimitri Baltermans. Du kannst es behalten.“ 

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und zeigte meine Verlegenheit. Ungläubig fragte ich nach, ob das Geschenk ein Scherz sei.

„Nein, du kannst es behalten. Aber sag nicht der Tochter von Baltermans, wenn du sie triffst, dass du das Foto von mir hast.“

Ich bat ihn auf der Rückseite zu vermerken, dass das Foto sein Eigentum sei und er es mir überlässt.

„Kein Problem, bitteschöön.“

 

Foto Dimitri Baltermanz

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