vonErnst Volland 17.12.2022

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Kapitel 5 Fortsetzung 2

Mir ist nicht aufgefallen, was anderen aufgefallen ist. Meine Körperhaltung hat sich geändert, der Kopf ist leicht nach vorn gebeugt und nach unten gezogen, man könnte an eine Variante der Bechterew- Krankheit denken, die in extremsten Fällen den Körper in der Mitte in einem 90 Grad Winkel zusammen klappt und den Kranken dazu verdammt, für immer auf den Boden zu schauen.

Auch meine Stimme scheint sich verändert zu haben. Sie wirkt matt und dünn. Einige Personen aus meinem Freundeskreis bemerken diese Veränderung und reagieren darauf. Dieter, ein Apotheker, meinte neuerdings bei mir eine verlangsamte Sprechschleife mit retardierenden Momenten zu hören. „Sehr auffällig, sehr auffällig, fraglich, ob sich das wieder reparieren lässt.“

Mir geht es nicht gut, das ist sicher. Nichts kann ich kaschieren, weder meinen schleppenden Gang, noch die seltsamen Varianten meiner Bedrückung, die sich in der Stimme ausdrücken. Ich fühle mich in ein Alter von neunzig Jahren versetzt, niemand kann mich erheitern. Nicht einmal der strahlend blaue Himmel, die ersten zarten grünen Blätter an den Straßenbäumen, nicht die renovierte Fassade des Wohnhauses aus der Gründerzeit, an der ich gerade

vorbei gehe. In meiner ungeordneten Gedankencollage verstrickt, übersehe ich direkt vor mir einen Rollstuhlfahrer, dem Teile seines kleinen Rucksacks in die Speichen eines Rades gekommen sind. Ich kann nicht mehr ausweichen, stolpere und falle auf den Rücken des Rollstuhlfahrers. Durch den Ruck kann sich der Rucksack befreien und der Rollstuhl schießt mit einem Satz zehn Meter weiter. Der Rollstuhl trennt die Leine einer Bulldoge und die dazugehörige Besitzerin, die ihre Louis Vuitton Tasche fallen lässt, aus der diverse Kosmetika über den Bürgersteig rutschen, kleine Fläschchen und Tuben, vermutlich von der Besitzerin vor ein paar Minuten in der Parfümerie Douglas in stundenlangen Diskussionen von verschiedenen Verkäuferinnen erworben. Von denen jetzt eine, ein Deodorant von Dior, in einer türkis gestilten Schachtel verpackt, mit einer Kante in einem großen Haufen Hundescheiße, am Fuße eines Ahornbaumes, in einer leichtem Mulde stecken bleibt.

Bruchteile von Sekunden blicke ich auf das Schauspiel, meine rotierende Gedankencollage setzt sich neu zusammen, ohne eine Ordnung zu finden. Ich gehe weder zur Hundebesitzerin, auch nicht zur Dior Schachtel, noch versuche ich die Bulldogge an die Leine zu nehmen. Instinktiv steuere ich direkt auf den Rollstuhlfahrer zu, der mich strahlend anlächelt und fragt, ob ich ihm so viel Fahrt gegeben habe, was ich sofort bejahe, worauf er mich auffordert, diese Aktion zu wiederholen. Im kurzen Gespräch erfahre ich sein Fahrtziel. Es liegt in der gleichen Straße, in der sich die Galerie befindet, in der ich arbeite. Den behinderten Mann ein Stück zu schieben, lehnt dieser ab, er bietet mir eine Zigarette an, die ich wiederum ablehne. Ich bin unsicher, ob ich links oder rechts neben dem Rollstuhlfahrer laufen soll, vielleicht dahinter oder davor. Schweigend höre ich in gebücktem Gang dem redefreudigen Fahrer zu, der ohne Punkt und Komma erzählt.

Vor genau zwanzig Jahren kommt mir ein besoffener Lastwagenfahrer entgegen und frontal auf mich drauf. Nicht weit von hier, nur dreißig Kilometer aus der Stadt raus. Frau tot, Kind tot und ich zweiundzwanzig Monate im Krankenhaus, ein Monat im Koma, Fuß ab, inzwischen das ganze Bein ab, dritte Operation.“

Mir fällt nichts ein, was ich drauf erwiedern könnte. Ich weiß nicht, ob ich auch etwas aus meinem Leben erzählen soll, vielleicht von meinen fürchterlichsten Zahnschmerzen, die ich je gehabt habe, oder einem gebrochenen Arm. Daher sage ich ein kurzes, „Hmm, ja, Hm, tragisch.“

Ich habe eine junge polnische Hilfe, die zwei Mal in der Woche kommt. Ich hätte gern etwas mehr Kontakt mit ihr, aber stellen Sie sich vor, mein Nachbar, der ist vierundsiebzig. Der pudert die, wenn Sie wissen, was ich meine, vierundsiebzig. Das ist doch eine Sauerei, Drecksweiber!“

Kommentarlos laufe ich neben dem Rollstuhl.

Ah, da ist es ja schon. Vielen Dank für die Begleitung. Ich komme zurecht, im Haus ist ein Fahrstuhl.“

Der Rollstuhlfahrer dreht mit einem Schwung den ganzen Rollstuhl direkt vor die Tür, die sich automatisch öffnet. Dann ist er verschwunden.

Ich laufe noch einige Meter weiter zur Galerie, meine Gedanken kreisen um den Rollstuhlfahrer, dessen Schicksal, das ich mit meinem Trennungsproblem vergleiche. „Negatives mit weniger Negativem zu vergleichen gibt noch kein Plus“, denke ich und stoße die Tür zur Galerie auf.

Ein angenehmer Geruch von Ölfarben erwartet mich.

Ich bin selbst Maler, mir fehlt zur Zeit jedoch die Stringenz, eine gewisse Ausdauer, aber auch genügend Zeit und Muße, um mich aufs Malen zu konzentrieren. Schließlich muss ich meinen Unterhalt organisieren, immer wieder Jobs finden. Von der Malerei kann ich nicht leben.

Die Zusammenarbeit mit einem Galeristen beendeten wir beidseitig nach einem Jahr, er hatte keine Arbeit von mir verkaufen können. Dennoch male ich weiter, besorge mir Leinwände und Farbe, auch andere Materialien, baue Collage-Elemente in die Bilder, die manchmal ins Dreidimensionale gehen. In meinem Oeuvre ist eine gewisse Kontinuität zu erkennen. Ab und zu erwirbt jemand im Bekanntenkreis eine kleinere Arbeit.

Ich habe mehrere Jahre Kunst und Malerei studiert, wenn man das, was ich an der Hochschule gemacht habe, studieren nennen kann. In der Kunstakademie lernte man neben der Malerei mit Werkstoffen wie Holz, Eisen, Ton, Papier und Pappe umzugehen, aber auch Übungen in historischen Schriften und anlegen von Architekturzeichnungen und Modellen. Für jede Werkstatt war ein Professor zuständig. Mit großer Neugierde hatte ich mich im ersten Semester für die Werkstatt Ton entschlossen, Ton steht für plastisches Arbeiten.

Jeder von Ihnen nimmt sich jetzt aus dieser Kiste einen ordentlichen Klumpen Ton und knetet damit sein persönliches Kunstwerk.“

Das war die vom Kunstprofessor gestellte Aufgabe für die nächsten drei Stunden.

Die unmittelbare Berührung mit dem Material, das auch noch angenehm riecht, motivierte die Konzentration. Allmählich kristallisierten sich bei den Teilnehmern verschiedene Formen heraus, Brunnen, Pflanzen, figürliche Darstellungen, Köpfe, abstrakte Formationen, hoch aufgetürmt, ähnlich schon existierenden Skulpturen, wie man sie in Parks oder vor öffentlichen Gebäuden sieht.

Ich rollte drei kleine Würste, unterschiedlich lang und unterschiedlich dick. Das Rollen der drei Würste war in fünf Minuten fertig. Nach drei Stunden ermahnte der Professor alle Teilnehmer des Seminars, die Arbeiten abzuschließen und sich zu einem gemeinsamen Gespräch in einem Halbkreis aufzustellen.

Das sind Ihre ersten Stunden in dieser Hochschule mit dem Material Ton. Es sind sehr interessante Arbeiten entworfen worden. Wunderbar. Vielen Dank. Aber, jetzt möchte ich Sie bitten, alle Arbeiten wieder in die Kiste zu werfen, auf das sie wieder zu Erde werden. Ausgenommen die drei kleinen Würste.“

Der Professor beobachtete die Studenten während sie ihr Figuren in die Tonkiste warfen, stehend, neben der Kiste.

Jetzt wollen wir über die drei Würste reden. Warum habe ich die drei Würste nicht in die Kiste werfen lassen?“

Keiner antwortete. Mir war schon aufgefallen, dass meine Würste von einigen belächelt wurden. Der Professor fragte mich. So direkt aufgefordert, wußte ich nicht, was ich antworten sollte. Mir fällt es schwer, vor anderen zu sprechen.

Ich habe bisher noch nicht mit Ton gearbeitet“, stotterte ich, „also, ich meine, ich möchte es hier auch erst lernen. Es ist gar nicht so einfach, schöne kleine Würstchen zu rollen.“

So ist es“, sagte der Professor.

Und ich bitte jetzt alle Teilnehmer als erste eigentliche Übung fünf kleine Würste zu rollen, bitte fünf.“

Der Professor stand neben mir. „Sie brauchen nur noch zwei.“

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