vonWolfgang Koch 29.11.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es gibt im Leben eines jeden architekturbewussten Stadtbewohners den Moment, …

Der Wiener Südbahnhof ist derzeit die grösste Bahnhofskiste Österreichs (auch wenn die ÖBB nur mehr 15 Prozent ihres Geschäfts auf der Südbahn machen). Diese Kiste wird am 12. Dezember 2009 gesperrt, kurz vor Mitternacht, der letzte Sonderzug ruckelt nach Mürzzuschlag – und der dritte Südbahnhofsbau wird dann abgerissen (der dazugehörige Frachtenbahnhof wurde bereits im Sommer 2009 eingeebnet).

Was geschieht hier? Man ersetzt die respekteinflössende Truhe funktional durch einen sogenannten Hauptbahnhof Wien, der sich im hinteren Teil des heutigen Bahnhofsgeländes befinden wird, wobei allerdings nicht vor Ende 2012 mit einer Teilinbetriebnahme zu rechnen ist.

»Der neue Hauptbahnhof garantiert schnellere Zugsverbindungen, mehr Reisekomfort und optimale Anbindungen«, texten die ÖBB-Werber seit Monaten in bezahlten Inseraten, die man sich natürlich von den Fahrgästen finanzieren lässt. »In dem hellen, barrierefreien Durchgangsbahnhof mit markantem Rautendach werden Züge aus allen Richtungen…« usw. usf.

Zu solchen Hymnen zeigt man uns das Bild eines Security-Mannes, dessen Umhängestasche den Schriftzug »ÖBB Sonderinformation« trägt. Klar, »Sonderinformation«, Fahrplanauskünfte sind das ja keine. Aber sonderbar, das Präfix »sonder-« hatte doch zuletzt im Dritten Reich Hochkonjunktur, als die berühmten »Sondereinheiten« die Opfer eines mörderischen Regimes in den Konzentrationslagern »sonderbehandelten«.

Heute explodiert die Misogynie wieder als versöhnungslose Ablehnung des Gestern. Der auf eigene Kosten sonderbehandelte Fahrgast bekommt den kriechenden Ultra-Modernismus der Gegenwart so lange aufs Haupt geschlagen, bis er an den Fortschritt aus Stahl und Glas glaubt. Zitat: »Das neue Stadtviertel bietet die Mobilität, die man heute braucht, und gleichzeitig einen Lebensraum in zentraler Lage, mit kompletter städtischer Infrastruktur und einem Stück Natur vor der Haustür«.

Man baut also keinen neuen Bahnhof, nein, sondern erweitert die Zone unserer kommerziellen Verwertung. 20.000 Quadratmeter Fläche für Geschäfte und Gastronomiebetriebe. Als Konsument sollst du verweilen! Normabweichendes Verhalten wie Herumstehen, Betteln, Spielen wird von Uniformierten verfolgt. »Schnellere Verbindung und mehr Reisekomfort« – Pah! »Hauptbahnhof Wien – mehr als ein Bahnhof«: ein Slogan für Einfaltspinsel!

Für den dritten Südbahnhof, für den hier die Totenglocke läutet, gilt und galt jedes Wort, jede Silbe, die sich der Architektkritiker Adolf Loos einst über das Wahrzeichen Wiens, den Dom von St. Stephan, abgerungen hat. Vom »schönsten Innenraum« der Stadt sprach Loos 1906, vom »weihevollsten Kirchenraum der Welt« – und er dachte dabei vor allem an die Proportionen des Langschiffes.

»In der Dämmerung, wo man der Kirchenfenster nicht gewahr wird,«, so Loos, »strömt dieser Raum auf einen ein, dass man –– Ich sehe, ich kann mich nicht ausdrücken, wie er wirkt. Aber vielleicht beobachtet jeder das Gefühl, das ihn erfasst hat, wenn er nach dem Durchschreiten die Strasse betritt. Es ist stärker als nach der fünften Beethoven. Aber die dauert eine halbe Stunde. St. Stephan braucht dazu eine halbe Minute.«

Damit ist im Grund das Wesentlichste gesagt, was die Architekturqualität des dritten Südbahnhofs betrifft, der jetzt einem Mehr an Bahnhof weichen muss, das in Wahrheit ein Weniger ist. Über Jahrzehnte haben die Leute die Hallen durchschritten, wurden durch den Raum innerlich aufrichtete, und zwar so, dass er ihnen unmerklich ein Rückgrat gab in dieser an Rückgrat so erbärmlich armen Stadt Wien.

Das Wichtigste ist gesagt, aber keineswegs alles. Die Einmaligkeit und Grösse des dritten Südbahnhofs bestand nämlich aus seiner ganz unentwirrbaren Buntheit, sie setzte sich aus einer Vielzahl von farbigen Steinchen zusammen, die im Kaleidoskop bald so bald so durcheinandergeworfen wurden: das Steinchen des Achitekturmonuments, das Steinchen des Sozialgefüges, das Steinchen der Schmuggelstätte, das Steinchen der Flüchtlingsburg, das Steinchens des Stadtdokuments, usw.

Was immer wir von diesen Steinchen des dritten Südbahnhofs herausgreifen, um es zu betrachten, verwandelt sich im Kaleidoskop zu einem einmaligen Bild, das ich in diesem Nachruf mit freundlichen Grüssen der nächsten Generation zuschiebe.

© Wolfgang Koch 2009

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https://blogs.taz.de/wienblog/2009/11/29/requiem_fuer_einen_bahnhof_2/

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kommentare

  • Was für ein Schmarrn!

    Den Südbf. mit dem Stephansdom zu vergleichen – haben Sie dabei auch nachgedacht?

  • Ich bin heute das letzte Mal in meinem Leben vom Südbahnhof abgefahren (als ein aus dem südlichen Niederösterreich nach Wien pendelnder Mensch habe ich das oft getan). Ich bin traurig, weil ein großartiger Ort einem Pipifaxprojekt imaginierter Urbanität geopfert wird. Ein letztes Mal eine Dose Bier im Okay-Markt kaufen, ein letztes Mal die Fülle des Raumes (Truhe) genießen. Weil der Fahrplan der ÖBB ja eh immer sinnloser wird, habe ich viele Stunden wartend am Südbahnhof verbracht – da konnte man einfach stehen und den Leuten beim Durchqueren des Raumes zusehen, wie sie aufeinander warten, aufeinander treffen, voneinander lassen, aneinander vorbeihasten usw. Das wird es am neuen Hauptbahnhof nicht spielen, so wenig, wie am Berliner Hauptbahnof, der aber wenigstens den Vorteil hat, dass ihm weder der Ostbahnhof noch der Bahnhof Zoo geopfert worden sind und während seiner Bauziet nicht der gesamte Bhanverkehr umgekrempelt werden musste. Der Bahnhof Zoo wurde etwa zu dem reduziert, was er immer war: eine S-Bahn Station. In Wien bleibt nur die S-Bahn-Station und das schöne Drumherum, die Atmosphäre, wird am Altar der großtuerischen städtebaulichen Eitelkeit geopfert, hingeschlachtet. Ich würde ja Friedrichstraße zu meinem Lieblingsbahnhof machen, wenn der nicht auch immer mehr umbaut würde (obwohl das alles – den Wienern sei es gesagt – in Berlin viel durchdachter ist und somit letztendlich mehr Charme hat – wer hätte das gedacht?). Jedenfalls sehe ich mit spannung den Jahren entgegen, in denen der logistisch unterbemittelte Bahnhof Meidling die Funktion des Südbahnhodfs dazu kriegt – so wie ich die Organisationsfähigkeit der ÖBB kenne, wird das, gelinde gesagt, ein Desaster – und das scheint ja auch der eigentliche Zweck des Megabaues zu sein – die organisatorische Unfähigkeit durch eine große Geste zu überdecken – und so ist das wieder sehr österreichisch, oder wienerisch, wo man ja auch die Müllverbrennungsanlage zu einem Museumsstück macht, indem man sie von einem Künstler anmalen lässt.

  • Man mag ja dem alten Südbahnhof nachtrauen – aber so ein ressentimentgeladenes, schwülstiges und in seinen Assoziationen („Sonder…“) Gewäsch eines Altlinken, habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Man lese Jan Tabors Nachruf im Falter. Das ist große Architekturkritik. Herr Koch, lassen Sie das lieber mit dem Schreiben, oder denken sie ein bisserl nach. vielleicht freuen sich ein paartausend leute über arbeitsplätze? und die pendler über eine modernisierte bahn. den ostblockcharme in ehren, aber modern war das kisterl schon lange nicht mehr. sie arbeiten hier eher irgendwelche ressentiments ab – und das mit einer seltsamen gewaltsprache.
    hb

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