vonWolfgang Koch 08.07.2022

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Gisela Erlacher stellt die in der Zeit des Roten Wien errichteten Superblocks in der Gegenwart dar. Vieles hat sich seit der Nachkriegsmoderne schon wieder verändert, Bildungsheime und Konsumfilialen sind aus den Sozialwohnanlagen verschwunden, die angestammte Belegschaft der Unterschichten ist einem Heer von Wirtschaftsmigrant*innen aus den Balkanländern, aus Osteuropa und vor allem aus dem Nahen und dem Mittleren Osten gewichen.

Der demoskopische Wandel hat an den Mechanismen von Nähe und Heimeligkeit in den Superblocks eine Menge verrückt: Die Sozialhöfe werden heute nicht mehr von einem einzigen Netzwerk überspannt, sondern von vielen durchanderlaufenden kleinen ethnischen Fadengespinsten. Die turkstämmigen Bastler basteln heute für austrotürkische Wohnungsrenovierende, die serbischen für serbische Neubürger, und so weiter. Die übergreifende Solidarität der Hackler- und Arbeitlosenfamilien ist verschwunden und ihre Jugend schutzlos den Drogenmilieus ausgeliefert.

Mit dem Bewusstsein von Klasse und Urbanität sind aber Würde und Stolz nicht vollständig aus den Höfen verschwunden. Sie nehmen jetzt die verstörenden Zeichen importierter Subkulturen an. Kopftücher und Tatoos dominieren die Erscheinung der Erwachsenen. Die urbane Seinsweise der Zuwandungsgesellschaft ist nur mehr eine des Dazwischenseins, an der Grenze zweier Welten gelegen: der vermissten alten Heimat und dem ungebliebten neuen Europa.

Noch vor wenigen Jahrzehnten verschränkten die Superblocks die verschachtelten Welten von Arbeit und Wohnen, von Hof und Schrebergarten, von Sektionsabend und Heurigen. Heute sind die Wiener Sozialbauten Horte des bitteren Provinzialismus, Schattenwürfe der anatolischen Berge ebenso wie Hypomanie aus den afrikanischen Steppen und den Flüchtlingslagern des globalen Südens.

Unter den Bedingungen von Satelliten-TV und migrantischer Ökonomie bleibt die »Existenzform des Dazwischenseins« (Karl Czasny) nunmehr auf Dauer gestellt, die Superblocks integrieren nicht mehr Stadt und Land, Gebildete und Ungebildete, Religiöse und Areligiöse, usw., die Bewohner*innen koexistieren in ineinander verschachtelten Ghettos, als Paralellgesellschaften auf getrennten Stiegen.

Lässt sich diese gewandelte soziale Realität in einem Bildband abbilden? Nein; das ist auch nicht die Aufgabe von Kunst. Gisela Erlachers Bilder erzählen von einer verdoppelter und verdreifachten Stille in den Höfen, einer ganz besonderen Stille mit Kinderlärm, Müllabfuhr und Mindestsicherung, die den Menschen einfach erlaubt zu ertragen, dass alles existiert.

Erlacher hat ein erfolgreiches Erwerbsleben als Architekturfotografin hinter sich, und das merkt man auch bei ihren fotokünstlerischen Unternehmungen, die sie immer stärker zur Recherche und zum Portrait hin ziehen. Auf den 117 grossformatigen Seiten von ›Superblocks‹ gelingt es ihr, alte und neue Interessen kongenial zu verbinden. Die Architekturaufnahmen zeigen hauptsächlich Durchgänge in den Höfen; ein Sujet, das in sämtlichen Bildreportagen über den Wiener Gemeindebau geradezu penetrant wiederkehrt. Denn die Innenwelt der Bauten, die Privat- und Funktionsräume, bleiben den durch die Höfe flanierenden Dokumentarist*innen ja verschlossen.

Auch Erlacher wohnt in keinem der vier Dutzend von Superblocks, die sie durchstreift hat. Allerdings stellt sie den beliebten Torsituationen einfühlsame Portraits von Bewohner*innen der Anlagen gegenüber, und zwar immer in einem Grössenverhältnis, das das Durchschreiten der Gänge oder das Besteigen der Treppen mittels des abgebildeten Körpers plausibel macht. Wir stossen auf die Balkan-Oma, die mit dem Kaffeehäferl dasitzt, den ewigen Coolboy mit seinem Skateboard, den moslemischen Vater in farbenfrohen Batik-Shirt und Cut-up-Jeans.

Nichts ist Erlacher zu klein, nichts entbehrlich. Wir sehen Menschen ohne glückliche Herkunft, die eine unbekannte Ferne im Herz tragen, leidgeprüfte und manchmal mit Trauer verhangene Gesichter. Die unlackiert gedruckten Aufnahmen wollen aber keine Sozialreportage sein, die einen blindrissig mit der Realität überhäuft, welche die Superblocks im heutigen Wien ja auch sind: Drogen-Hotspots, Orte der brutalen Gewaltverbrechen, Klassengrenze der Ausgestossenen und der Schutzsuchenden.

Die sozialdemokratische Stadtverwaltung weigert sich vermutlich aus gutem Grund, die Suizidstatistik der Superblocks zu veröffentlichen. Wiens Sozialbauten sind keine staatsfeindlichen Zonen, in die sich die Polizei nicht mehr hineintraut, wie in die Hochhaussiedlungen der französischen Banlieues, aber, machen wir uns nichts vor, Krankheit und Abhängigkeit, Rohheit oder Kriminalität, Tierquälerei oder Frauenverachtung findet man hier auf jeder zweiten Stiege.

Neben den Gesichtern von Menschen und den Volumnia von Baukörpern gibt es noch weiteren Hauptdarsteller auf der Bühne dieses schönen Tablebooks: nämlich Pflanzen. Neben den Durchgängen und Menschen zeigt Erlacher prächtige Baumkronen und mickrige Parkpflanzen, eine verstümmelte Föhre und den mit Wasserschösslingen bedeckten Stamm einer Sommerlinde.

Die Flaneurin entwickelte im Gemeindebau eine geradezu übersteigerte Sensibilität für die Körperlichkeit der Vegetation in den Höfen, und die pflanzlichen Methusalixe und Mickrigkeiten werden auf ihren Bildern nicht etwa zu Metaphern für Existenzen, sie verweisen weder auf Symbolisches noch auf Metaphysisches, sondern variieren zurückhaltend die ramponierten Persönlichkeiten und geknickten Charakteren der menschlichen Belegschaft.

Die Schatten der Äste, die auf die in den Höfen verschachtelten Menschen fallen, sie gleichen den gekrümmten Lebenswegen. Auf dem Cover und auf den letzten Seiten des Bandes dominiert übrigens der Rundbogen, fünf, sechs Mal in der baulichen Form von Durchgängen, und einmal in Form von zwei Kindern, die auf der grünen Wiese in fröhlicher Konkurrenz eine Brücke schlagen.

Der über zwei Pfeiler oder Säulen hingewölbte Kreisbogen ist ja nie das, als was er auf den ersten Blick erscheint. Denn das Kuppenförmige dieser Baumasse enthält bereits etwas Weiteres, ein Versprechen, indem etwa die Säule schon anfängt, die Bestimmung des blossen Tragens zu verlassen, oder indem uns eine hintereinander gereihte Serie von Rundbögen in die Tiefe einer Röhre hinein saugt.

Der aufsteigende Kreisbogen, ich werde jetzt ein bisschen bautechnisch, bezieht sich in seiner Krümmung und Senkung auf einen Mittelpunkt, der nichts mit der Tragefunktion zu tun hat. Die verschiedenen Teile des Kreises tragen sich gegenseitig, stützen und setzen sich fort, so dass sie sich die Wölbung weit mehr als ein aufgelegter Balken der Schwerkraft entzieht.

Es wird eine Zeit kommen, sage ich, die, wenn sie die Wiener Superblocks studiert, nicht mehr auf Fahnenstangen und Verbotsschilder achten wird, sondern, wie Erlacher, auf Handläufe und Baumschnitte, auf die Magazinierung des Wischmops und auf die Bogen –  es wird eine Zeit kommen, sage ich, in der diese ephemeren Dinge mehr und intensiver von den Faltungen der Lebenswelt erzählen als es Historiker*innen, Lokalpolitiker und Stadtplanung je vermögen.

© Wolfgang Koch 2022

Fotos (teils Ausschnitt): Gisela Erlacher

Gisela Erlacher: SUPERBLOCKS. Hommage an eine Utopie. 117 Seiten, 318 x 234 mm, Kerber Verlag: Bielefeld 2022, 40,- EUR, ISBN-13: 9783735608109

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