vonWolfgang Koch 13.07.2022

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Nichts wird besser durch diesen Krieg, und niemand ist ernsthaft bereit, ihn zu beenden. Das kann letztlich nur bedeuten, dass die Verantwortlichen ausgetauscht werden müssen. Und zwar besser heute als morgen. Der Ultrabrite Boris Johnson macht schon mal den Anfang, und weitere werden folgen.

Auf die Europäerinnen und Europäer wartet keine kleine Aufgabe: Die regierenden Eliten in Berlin, Brüssel, Paris und London haben jahrelang seelenruhig zugesehen, wie sich ukrainische Regierungen, ermutig von den USA, strikt weigerten, das Minsker Abkommen von 2014 in ihrem Land umzusetzen. Dieses Rahmenabkommen, das von der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich im sogenannten »Normandie-Format« unterzeichnet wurde, sah unter anderem den Status einer autonomen Region für die Donbass-Provinz vor.

Selbst als im Vorjahr die Russische Föderation mehr als sechs Monate hindurch mit 120.000 Soldaten an der Grenze zu Ukraine aufmarschiert ist, um dem Abkommen Aufmerksamkeit und Nachdruck zu verleihen, fiel den regierenden Eliten Zentral- und Westeuropas nichts Tölpelhafteres ein, als im Oktober 2021 mit der ukrainischen Armee gemeinsam Nato-Manöver im Land abzuhalten.

Politik ist und bleibt das Geschäft des friedlichen Interessenausgleichs. Sie setzt dabei, anders als Clausewitz dachte, den Krieg mit anderen Mittel fort. Sobald die Waffen sprechen, hat Politik als eine die Gewaltverhältnisse entschärfende Instanz versagt und alle ihre Akteure müssen ausgewechselt werden. In Frankreich haben die Wähler*innen dazu bereits den ersten Schritt getan; der Macronismus ist als innen- und aussenpolitische Schaumschlägerei enttarnt, Kritik an der Aufrüstung der Nato-Staaten und Euroskeptizismus haben Aufwind.

Denn das ist Fakt: Mitten in Europa herrscht ein Krieg, in dem gegenwärtig Tag für Tag rund einhundert Soldaten der russischen und der ukrainischen Streitkräfte sterben müssen. Das Versagen der politischen Klasse und ihrer veralteten Diplomatie in den internationalen Gremien ist freilich nicht nur hausgemacht. Das politische Geschäft des allgemeinen Interessenausgleichs wird notorisch torpediert von Rüstungs- und Medienindustrien, deren Profit unmittelbar vom Scheitern politischer Prozesse abhängt.

Dazu kommen noch die ökonomischen, politischen und ideologischen Querschüsse aus allen möglichen Richtungen, ein unleugbarer russischer Imperialismus, die aggressive Provokation der Nato-Erweiterungen, der Revanchismus ehemaliger Ostblockstaaten gegen jedes Wort aus Moskau und die von mafiösen Strukturen durchwachsenen Staatsgebilde der semipräsidialen Russischen Förderation und der ebenfalls semipräsidialen Ukraine selbst – kurz: die Kriegsursachen sind so komplex ineinander verschachtelt, dass man sich über das lange währende Dahinschwelen der Brandnester eigentlich nur wundern kann.

Alex Tyrrell, Gründer von Global Green News und seit 2013 Vorsitzender der Parti vert du Québec (PVQ), zählte im heurigen Februar 16.000 Menschen, die in den letzten acht Jahren vor dem Kriegsausbruch in den Regionen Donezk und Luhansk durch regelmässigem Artilleriebeschuss, Scharfschützenfeuer und Terroranschläge gewaltsam ihr Leben verloren haben. Vor allem wegen dieser 16.000 von der internationalen Öffentlichkeit krampfhaft ignorierten Toten leben wir heute in einem neuen europäischen Krieg, an dem sich bereits die halbe Welt offen oder verdeckt beteiligt.

Jeder vernünftige Mensch weiss, dass die Ukraine, so sie als souveränen Staat weiter existieren möchte, geteilt werden muss. Das militärische Fortringen, die Fantasien vom »Zurückschlagen« der Invasion, dienen nur dem Kampfrausch hüben und drüben. Die Öffentlichkeit ist nach hundert Jahren in allen europäischen Ländern wieder gründlch verseucht von dummdreister Männerpsychologie und mörderischen Feindbildern. Jede Kundgebung der führenden Staatsmänner wird von den unverantwortlichen Elementen, die sich Journalist*innen nennen, leidenschaftlich und übertrieben besprochen.

»Der gute, noble, treue deutsche Michel: der schwarze, niederträchtige Russe, der in Unrecht den Ehrentitel Europäer führt«. Mit diesen Worten skizzierte der Journalist und Nichtsoldat Emil Ludwig am 5. August 1914 den »Fibelunsinn« seiner Epoche. Ganz sicher hat sich der Satiriker damals nicht vorstellen können, dass die Menschheit im Jahr 2022 schon zum dritten Mal an dieser Schlachtbank der Propagandadichtung stehen würde.

Es ist, wie es immer war: Die Wahrheit liegt auf der Seite der Unvernunft und der Grausamkeit; die Vernunft hingegen auf der Seite der Chimäre und der Boshaftigkeit. Ich bin kein Radikalpazifist, ich sage nicht, dass sich durch Gewalt keine Probleme lösen lassen, denn das ist, wie jeder Chirurg bestätigen wird, ja durchaus der Fall. Gewalt kann funktional eingesetzt werden, sie funktioniert, wenn auch nicht sehr dauerhaft. Siehe Strafgesetzbuch, siehe Exekutive.

Der Punkt an diesem Krieg ist ein anderer: Im dicht vernetzten Europa lassen sich überhaupt keine gesellschaftlichen Konflikte mehr durch organisierte Militärgewalt lösen. Man muss kein Militärexperte sein, um zu sehen, dass die Lieferungen von schwerem Kriegsgerät das Gemetzel in der Ukraine nicht beenden werden. Waffen aus den verschiedenen westlichen Arsenalen werden das Land nicht zum Sieg führen.

Das sagen Militärs, die ihrer Analyse nicht politische Wunschträume, sondern Erfahrung zugrunde legen. Es ist deshalb zu erwarten, dass der europäische Krieg im Süden und Osten der Ukraine andauern wird – mit mehr Blutvergiessen, mehr Zerstörung und mehr Menschen, die in die Flucht getrieben werden. Das Elend wird sich noch vergrössern.

Dürfen sich die Ukrainer*innen denn nicht dem Westen anschliessen und gegen Russland sein? Was sagen wir denen, die nicht unter der russischen Fuchtel leben wollen? Dass sie leider zu nahe an Russland leben?

In der Tat sind wir in einem globalisierten Raum verortete Existenzen, keine Armee kann sich im dicht besiedelten Raum auf legitime Gewaltausübung berufen. Was diese Realität betrifft, hinkt das geltende Völkerrecht der Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert weit hinterher, und der parteiische Diskurs nährt die Grausamkeiten statt sie zu beenden. 

Die Russische Förderation führt bisher so wenig einen »Angriffskrieg« gegen die Ukraine wie die Ukraine einen »Verteidigungskrieg« gegen Russland führt, um ihr demokratisches Gemeinwesen zu schützen, denn der militärische Widerstand zerstört vor unserer Augen genau das, was er zu verteidigen vorgibt: die friedliche Lebensweise der Menschen in der Ukraine, ihre Lebensgrundlagen, die Ökonomie und die Infrastruktur.

Die Ukraine führt auch keinen Verteidigungskrieg in der Tradition nationaler Befreiungskriege. Dazu hätte sie erst einmal eine Nation werden müssen, die in der Lage ist, ihre sprachlichen und ethnischen Minoritäten zu schützen.

Am Ende des Gemetzels werden die Menschen der Ukraine die Hauptverlierer*innen sein, und dafür sind als Erstes die USA und die Eliten Westeuropas verantwortlich, weil sie diese junge Nation wider besseres Wissen gedrängt haben, einen provokanten Nato-Beitritt anzustreben. Dieses Ziel ist 2019 in der ukrainischen Verfassung aufgenommen worden.

Und die Russische Förderation ist heute schon der der zweite grosse Verlierer des Krieges, denn egal, wo die neuen Grenzen der beiden Staatsgebilde in Zukunft verlaufen werden, durch den Beitritt Finnlands zur Nato ist eine neue Berührungsgrenze zu dem Militärblock entstanden und somit die Bedrohung für Russland gewachsen statt kleiner geworden. An der Argumentation des Kremls war übrigens von Anfang an faul, dass die Föderation die Sicherheitsgarantien in der Nato-Russland-Grundakte für die Grenzen mit Estland und Lettland sowie für die Enklave Kaliningrad als ausreichend ansehen, nicht jedoch für die Ukraine, die bis heute kein formelles Nato-Mitglied ist.

Keine Militärallianz hat noch je wo einen Krieg verhindert. Man kann sich das gar nicht oft genug vor Augen halten! Es ist richtig, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts durch die gebündelte Übermacht von Ost und West gegen den deutsch-österreichischen und später gegen den grossdeutschen Aggressor beendet wurden, doch noch nie hat militärische Aufrüstung einen Kriegsausbruch verhindert.

Die Zahl der Soldat*innen hoher Bereitschaft massiv zu erhöhen, wie das derzeit geschieht, zeigt nicht den Ernst der Lage in Europa. Es zeigt den Ernst der Verblendung, mit Rüstung könne Sicherheit hergestellt werden. Wir hören: »Die westliche Allianz muss alles tun, um Putin vor einer Ausweitung des Konfliktes in Richtung Westen anzuhalten«, und dieser Unterstellung folgt die den Frieden weiter gefährdende Vergrösserung des Militärpakts um die beiden nordischen Länder an den Grenzen der Russischen Förderation.

Wie zu Zeiten von Troja und noch weiter zurück in der blutigen Menschheitsgeschichte glauben die Nato-Propagandisten an die Stärke, die sie herbeireden. Wie haben diesen Unsinn gerade sechs Jahre lang über den Einsatz in Afganistan gehört, bis dann die Analphabeten der Tabilan die High-Tech-Armeen mit Schmipf und Schande aus dem Land gejagd haben. Eine robuste Abschreckung der Russischen Föderation mit möglichst vielen militärischen Verbänden erscheint dem Nato-Lager nur deswegen unerlässlich, weil sich die westliche Allianz über ihren eigenen Charakter als Konflikttreiber täuscht.

Es war, zur Erinnerung, genau diese Selbsttäuschung über die geopolitische Sicherheitsarchitektur, welche die Welt in das grelle Licht der beiden Weltkriege getrieben hat. Weder vom russischen Imperialismus noch von China oder von Indien, ja nicht einmal von Iran und Nordkorea, den aktuellen »Mächten des Bösen«, ist das Filigran des Weltfriedens bisher ernsthaft gefährdet worden. Die grösste Gefahr scheint von jenen Tyrannophoben auszugehen, die den von Clausewitz umgedrehten Grundsatz beherzigen und weiterhin meinen, der Krieg sei nur die anders fortgeführte Politik.

Stop the war! Остановите войну!

© Wolfgang Koch 2022

Abbildung: Portraitgravur der österreichischen Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner auf der 10-Euro-Gedenkmünze der Bundesrepublik Deutschland 2005

 

 

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kommentare

  • Ich weiss ja nicht wen sie mit Ihrer intelektuellen Geschichtsschwafelei beeindrucken wollen, aber kapiert haben Sie gar nichts.

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