Der Wiener Philosoph Walter Seitter hat im dritten Corona-Jahr ein Werk des 2019 verstorbenen Philosophen Michel Serres zu seiner Sommerlektüre gewählt, und zwar dessen Kommentarnachschrift zum Hauptwerk des römischen Dichter-Philosophen Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez. Das 240-Seiten-Werk ›La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences‹ ist 1977 in Paris erschienen, doch Seitter übersetzt das Werk nicht einfach, sondern präsentiert seinen Inhalt in einem Schwall von Metakommentaren, in Fussnoten zu Fussnoten, so dass wir zwar Vernunftbegabten, aber Mindergebildeten schon nach wenigen Absätzen nur mehr Bahnhof verstehen.
Diese Ermattung ist ausgesprochen schade, denn Michel Serres zählte zu den Stimmen der jüngsten Vergangenheit, die mit einer geradezu aristotelischen Geduld und Klarheit gesprochen und geschrieben haben. Posthum ist vor zwei Jahren in Frankreich und nunmehr auch in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp eine merkwürdige Bilanzschrift seines Leben erschienen. Die darin entfaltete Diskussion scheint mir wert, in groben Zügen nachgezeichnet zu werden, damit sie eine neugierige Leserschaft findet.
Ganze 74 Jahre lang, von 1945 in Agen bis 2019 in Vincennes, hat Serres neben seiner breiten Tätigkeit als Sorbonne-Professor, Theorieautor und Herausgeber an diesem stillen Destillat seiner Lebensauffassungen gearbeitet. Er rezyklierte wieder und wieder Abschnitte von meist nicht mehr als zwei Seiten, um die Hotspots und Scheitelpunkte seines Denkens möglichst plastisch darzustellen. Herausgekommen ist dabei etwas, was man bei dem Kommunikationstheoretiker und Stichwortgeber der Systemtheorie kaum vermutet hätte: das Brevier eines Küchenkatholizismus, der sich nie in Radikalität gefällt und in jederlei Hinsicht nach Mass im Denken und Fühlen sucht.
Zum Auftakt des Buches stimmt Serres der Altertumstheorie von Ernst Renan zu, wonach das »Griechische Wunder« der europäischen Zivilisation, und damit unser Krisenbewusstsein und unsere Sozialstruktur, aus drei unsterblichen Erfindungen hervorgegangen ist. Gemeint sind die Donnerschläge von drei virtuellen Welten: nämlich a) des Geldes, das bei den Griechen Vertrauen in Tauschakte schuf, b) der Mathematik, die das kognitive Potential zur geometrischen Idealität gedrängt hat, und c) die Übernahme des Basisalphabets von den Phönizier*innen, das in Griechenland zur schriftsprachlichen Konvention wurde.
In allen drei Fällen, betont Serres, triumphierte die Virtualität über das Aktuelle, ja, dem Lichtherd des Virtuellen – unserem Leben im Imaginären – entspringe überhaupt alle Macht und alles Wissen.
Im nächsten Schritt schliesst sich Serres Jaspers‘ bekannter Hypothese von der welthistorischen Achsenzeit an und fügt den drei griechischen Wundern die Religion als das alles verbindende Element der sozialen Kosmologie hinzu. Wir globalisierte Menschen des Westens leben nach dieser Auffassung eingebettet in vier universale Netze – Geld, Wissenschaft, Sprache, Religion –, die alle gemeinsam haben, dass sie sich durch Teilung und Zerfall ausbreiten.
Dann beginnt Serres Religion und Wissenschaft zu vergleichen. Diese beiden Sphären bilden als kulturelle Konfigurationen parallele Hierarchien heraus. An der Spitze etwa entspricht der Kardinal dem Minister oder Rektor, zuunterst der Mönch dem Forscher. Das Thema der Entropie in der religiösen Sphäre entspricht makrogeschichtlich der Stille in den exakten Wissenschaften, und die Bearbeitung der Energie auf der einen Seite entspricht der Bearbeitung der Information auf der anderen.
»Jedes System«, so Serres, »stirbt an Entropie und überlebt durch Information, die über fast keine Macht, aber durch ihre Knappheit über umso grössere Dichte verfügt«. An diesem Punkt trifft der Kenntnisstand fachwissenschaftlicher Curricula offenbar auf einen Nachholbedarf an lebensweltlicher Information. Aus den Theorien, die sich auf grosse Zeiträume beziehen, schält Serres in kreisenden Bewegungen sein konkretes Interesse am praktischen Leben.
Der Autor treibt die weltgeschichtlichen Skizzen hinein in die Unterscheidung von Denkstilen, was ihm als notwendige Vorbedingung einer Wiederaneignung von Geschichte und als Vorbedingung selbstbewusster Zukunftsgestaltung erscheint. Dabei gelangt er zu einer verblüffenden Unterscheidung von Stadt und Land.
Dem städtischen Denkstil rechnet der Franzose König Ödipus, Sokrates, Paulus, Augustinus und Karl Marx zu; sie alle sind eng mit den Sozial- und Geisteswissenschaften verbunden. Dem ländlichen Denkstil hingegen repräsentieren andere grosse Namen: Jesus, Franziskus, Spinoza, La Fontaine und der Historiker Jules Michelet; ihnen stehen die harten Wissenchaften näher.
»Die Frohe Botschaft erreicht uns nicht aus den Städten«, sagt Serres. Die Stadt glaube nämlich nur an das vom Menschen Erschaffene. »Die Inkarnation, die Menschwerdung kommt aus der Erde, als Lehm und Humus verstanden«. Nur die Antworten der ruralen Fraktion auf die Problemwurzeln ihrer Zeit und ihrer Fächer seien aus den chthonischen Tiefen gedrungen, zwischen Höllen- und Himmelsfeuer, betont Serres.
Hat nicht Norman O. Brown, der Spiritus rector der Hippie-Bewegung, in den 1960er-Jahren unter Bezugnahme auf Nietzsche ganz ähnlich argumentiert? Klingt Browns »Hic Rhodus, hic salta!« nicht wie Serres‘ »Ich gerate in Ekstase, also bin ich«? Lodert das alchymische Feuer der Verschmeldung nicht in derselben Opferschale?
Nein, das tut es nicht. Serres war kein wilder Psychoanalytiker, der gegen das Realitätsprinzip und die Genitalorgansiation antrat. Wir erleben ihn in seiner goldgeprägter Nachlassschrift allerdings als einem analytischen Kopf, der auf eine Kompatibilität zwischen der Aktualität und der Virtualität durch religiöse Hingabe besteht. Nach den Darlegungen seiner Kultur- und Zeittheorien von den drei griechischen Wundern, den vier universalen Netzen, der Stadt-Land-Dichotomie und der zeitphilosophischen Differenzierung von Dauer, Rhythmus und Tempo gibt es für den Pfingstler kein Halten mehr.
Serres interpretiert die Epiphanie in der christlichen Stunde der Krippengeburt (»die Religionen entstehen nachts, unter den Sternen, bei den Hirten«), er beschreibt Jesus und seine zwölf Jünger als »dreizehn Obdachlose«, er zimmert in bester Laune am christlichen Gottestempel: Indem der Kirchenbau für die Gläubigen einen in Realpräsenz anwesenden Körper und ein ebensolches anwesenden Blut beherbergt, sagt er, sammelt sich hier »das ganze, ungeheure Universum der göttlichen Abwesenheit«.
Wir entnehmen dem Serres’schen Vermächtnis, dass allein die Religion noch zurück an die Grosse Erzählung der Welt bindet, und wir hören, dass allein die Dritte Welt heute noch das Christentum versteht. Serres wünschte sich ein existenzielles Verhalten, eine glückliche Selbstauffassung, einen ursprünglichen Weltbezug des Menschen im Ritus. Es soll weder emotional noch rational und formal sein, oder im Gegenteil beides.
Serres polemisiert gegen »die soziomediale Vergöttlichungsmaschinerie des Monotheismus«. Der Katholizismus seine Kindheit sei da aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen. Man müsse doch nur genau hinhören: Der Geist des Herrn und der Friede im Erdkreis liege in der anthropologischen Milde des Trinitätsglaubens und des Heiligenkults nicht weit vom Polytheismus entfernt.
© Wolfgang Koch 2022
Fotos: Weinbergkirche, Český Krumlov
Das Kapitel aus Lukas 24 ab Vers 13 ist ein erschreckendes Beispiel, wie Realität und Spiritismus zusammen gemengt werden. Was geschah wirklich, dem Texte nach? Der Retter von Jesus hatte ihn aus dem Grabe entfernt und gepflegt, bis er leidlich gehen konnte und sicherlich gesagt. „Verlasse das Römische Reich, denn wenn man dich findet, wirst nicht nur du, sondern auch ich getötet. Also wurde Jesus für die Flucht zurechtgemacht. Ihm wurden der Bart und die Kopfhaare beschnitten und alte Klamotten zum Anziehen verpasst. So wurde er unkenntlich gemacht. Dann wurde er aus dem Versteck fortgeschickt. Danach begegnete er Thomas, dann zwei Jünger, danach alle elf. Die erkannten ihn nicht. Jesus war kein Geist, sondern ein Mensch mit gewöhnlichen Ansprüchen, denn er war vom Herumirren hungrig und wollte essen und trinken. Also aßen sie und tranken, was völlig normal war. Dieses, im Text, erwähnte Abendessen war sein Abschied. Dabei gab Jesus den Jüngern Ratschläge, wie sie sich verhalten sollten. Danach konnte für alle die Flucht beginnen. Jesus verschwand für immer von der Bühne. Frage: „Wo ist der Körper des Jesus von Nazareth geblieben? Wann und wo ist er gestorben?“ Aus dieser Unkenntnis heraus ist die Himmelfahrt Jesu entstanden. Himmelfahrten hatten schon in den Legenden, der heidnischen Welt, Tradition, und aus diesem Märchen hatte sich die sogenannte christliche-katholische Kirche entwickelt, die nichts mehr mit dem Jesus von Nazareth zu tun hat. Das gilt auch für alle anderen Kirchen.
Gerhard Jeske Hamburg. Diakon, ex. Fotograf und Autor