vonWolfgang Koch 11.09.2022

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Im Nachlasswerk ›Relire le relié‹ von Michel Serres, deutsch unter dem Titel ›Das Verbindende‹ bei Suhrkamp erschienen, stehen glänzende Formulierungen im Vokabular der Wärmelehre. »Alles Seiende kämpft gegen die Entropie; jedes Existierende widersteht ihr auf je eigene Weise«. Sprache galt diesem Autor »als die besten und die schlimmste Sache der Welt«. Zugleich polemisierte er gegen die neuen Sozialmaschinen, das heisst gegen den neuen real-virtuellen Status der Medienbilder und was dieser in den Seelen anrichtet. Die Medien, meinte Serres, reissen die Zeremonien an sich und verhexen die Massen.

In der »verbrecherischen Ideologie« des Nationalsozialismus erkannte der französische Philosoph einen Abstieg »von der spirituellen zur weltlichen Macht«. – Das sind nun schon vier Zumutungen für den faulen Menschenverstand. Aber der Serres wollte mit seinem Denken in langsamer, schmerzhafter Arbeit auf das Ganze unseres Lebens und das unserer Kinder hinaus. Dabei spielten nicht etwa die Leistungen der Philosophie, sondern die christliche Heilsbotschaft in seiner privaten Auslegung die Hauptrolle.

Ich habe grundsätzlich ja nichts gegen die Neuinterpretationen sakraler Texte. Warum auch? Sie gehören den Theolog*innen und Schriftgelehrten so wenig wie das Symbol des Kreuzes oder das Flammenzeichen den Kirchen gehört. Ich habe nichts dagegen, die Obstsammlerin Eva aus der Paradiesgeschichte zur Schutzpatronin des Veganismus zu erklären. Mit dem verbotenen Apfel im Buch Genesis hat das Volk Israel das Menschenopfer verworfen und die göttliche Botschaft landete moralisch auf einer Ebene mit dem europäischen Stierkampf.

Die Christenheit ging dann ernährungstechnisch einen Schritt weiter und hat schliesslich in der Jona-Geschichte (Matt. 8.23f) auch das Tieropfer überwunden. »Der Fisch rettet den Menschen, ohne selbst zu sterben«, insistiert Serres auf diese Opferbefreiung. Der obdachlose Menschensohn Jesus vertrieb dann die Händler*innen von Opfertieren aus dem Tempel. Bis heute sind es zwei pflanzliche Produkte, Hostie und Wein, die in der Eucharestie zu Fleisch und Blut werden. Das will für das moderne Veganertum doch bitte was heissen!

Und dann erst die Universalität der christlichen Verkündigung, die sich bekanntlich an alle und jede im Erdkreis richtet – da siegt Jesus über Hegel, erklärt Serres begeistert. Die Heilige Familie deutet er als Überwindung der auf Abstammungslinien begründete Gesellschaften; das Lebensmodell, in dem der Sohn nicht der Sohn und der Vater nicht der Vater ist, sondern beide etwas anderes, dekonstruiert die für natürlich gehaltene Blutsverwandtschaft. Folgerichtig gründet der Aufstieg der christlichen Zivilisation für Serres denn auch auf den im Römischen Recht entwickelten Standpunkt der Adoption.

Ich lese solche Darlegungen gerne und habe auch nichts dagegen, wenn ein Essayist gelegentlich mit zweifelhaften Weisheiten um sich wirft, sofern das Gros des Gesagten stringent und originell bleibt. In ›Das Verbindende‹ gibt es einiges Unverbundenes und Gewagtes, Haarsträubendes möglicherweise. Zum Beispiel: »Der Frieden besteht darin, das Schwert niemals anzurühren«, »Das Loch in der Horizontalen ist es, in dem das Vertikale sich auftut«, »Gewalt übt als dunkle Seite der Energie universale Herrschaft über uns aus«.

Doch sich philosophisch verbreitern, auf ungeschulte Leser*innen zugehen, heisst nun Mal nicht Fusswaschungen zu veranstalten, sondern freundlich ein Lesepublikum zu betören, um es dann mit einem Eimer eiskalten Wassers zu überschütten.

Serres hat in seinen lebenslangen privaten Meditationen eine Menge riskiert, er wagte neue Zungen und Sprachen, er demaskierte das masslose Besserwissertum durch geduldiges Beharren auf seinen Überlegungen. Freilich hat die »existenzielle Synthese« bei einem Publizisten, der sich jahrzehntelang intensiv mit den exakten Wissenschaften beschäftigt hat, nicht nur einen melancholischen, sondern eben auch einen resignativen Zug.

Serres suchte, wie wir jetzt sagen können, sein Erwachsenenleben lang nach einer christlichen Neuordnung des Symbolischen: weder natürlich noch kulturell und formal sollte es sein, sondern etwas Drittes. Er sah im Dogma der Unbefleckten Empfängnis und der mütterlichen Jüngfräulichkeit ein notwendiges Gegengewicht zum Mysterium der nicht minder unglaublichen männlichen Dreifaltigkeit.

»Jener philosophischen Totalität, an der ich, ohne es zu ahnen, gearbeitet habe, fehlten also Religion und Politik«, bilanzierte der Sinnsucher sein eigenes Schaffen. Ein anderer französischer Philosoph, Gilbert Simondon, hat in seiner Dissertation »Du mode d’existece des objects techniques / Die Existenzweisen technischer Objekte‹ 1958 ein Denkmodell vorgestellt, in dem einander nicht die drei universalen Netze Ökonomie – Wissenschaft – Sprache gegenüber stehen und durch die Ganzheitsfunktion der Religion verbunden werden. Simondon unterschied zwei getrennte Sphären: das technische und das religiöse Denken, die technische Objektivation und die religiöse Subjektivation, die durch die Ökumene der Kunst magisch und durch die Erkenntnisoperationen der Philosophie begrifflich überbrückt werden.

Diese Anordnung der Realitätsmodi räumt der Ästhetik einen viel höheren Stellenwert ein als Serres, der nur im Empfinden von Musik Ähnliches erfahren hat wie durch den wiederauferstandenen Christus: eine Erspüren des eigenen Vitualitätskerns, verstanden als wesensgemässe Ausrichtung seiner Tugenden. »Jesus war zweifellos der reinste Mensch der Weltgeschichte«, lässt Serres uns wissen, und: »Durch die Freude des Lobens und Preisens wird die Seele weit«.

Das reflexive Denken identifiziert Serres mit einem sezierenden Rationalismus, welcher blind ist für Ethik und Moral, ja schlimmer noch, dessen strenger intra-exogener Charakter habe zur schuldhaften Konstruktion und der Anwendung der Atombombe 1945 geführt. Hier zeigt sich, dass Serres tatsächlich das historische Verständnis politischer Vorgänge abging, zu denen eben auch das militärische Kalkül zählt, durch eine begrenzte und abschreckende Zahl von Tötungen einen langen Krieg und eine noch viel grössere Zahl von Tötungen zu verhindern.

Serres wünschte sich zur Lösung der irdischen Probleme das Palaver »divergenter Meinungen unter dem sanften Einfluss eines Vereinfachers«. – Diese Art von Expertisentum, fürchte ich, haben wir schon zur Genüge. In der Politik nennen wir sie Populismus.

Simondons Diskussion der »Grund-Wirklichkeiten« war deutlich ausgewogener und dynamischer. Er vermittelte ein tieferes Verständnis der technischen Welt und gestand Kunst und Philosophie das zentralen Momentum des Verbindenden zu. Simondon betraute die Epistemologie mit jener Aufgabe zu, die der Ontologie vom Philosophenmosaik in Neapel bis herauf zu Peter Sloterdijks Sphären-Triologie zugeschrieben worden ist: nämlich eine Relation im Allgemeinen herzustellen, die Gesamtheit aller möglichen Verbindungen aufzuzeigen, eine Beziehung des Seienden zum Ganzen bzw. eine Relation des Lebenden zum Sein aufzubauen.

Für den jungen Simondon hatte die religiöse Geste schlicht die natürliche Welt und die menschliche Welt fortgesetzt. Aber erst die ästhetische Impression im religiösen Denken, so dachte er, würde den Samen der Biogée, die alle Grundkräfte und Grundeigenschaften des Universums enthält, aufkeimen lassen.

Das lag eigentlich nicht weit weg von dem Serres’schen Finalwerk, nach dessen Schilderungen der kognitiven Dualismus aus Körper und Geist mittels Musik und Religion überwunden werden kann. Doch für Serres führten nur diese beiden Dinge zu einer anderen Totalität und einer subjektiven Synthese. Philosophie, bildende und darstellende Künste ergattern keinen Platz mehr in seinem mit Weihrauch vernebelten Andachtsraum.

Alles löst sich bei Serres auf in einem ruhebedürftigen religiösen Begehren. Er gesteht der Philosophie keine Kraft des Entkommens mehr zu in der fortgesetzten und nie abgeschlossenen »Koordination von Zweifel und Beweis«, wie das Max Bense formuliert hat. Nur Klangkunst und Gebet vereinen das Subjektive des Körpers und der Seele; nur sie sind es, die am wenigsten Modifikationen des intersubjektiven System voraussetzen.

Zuguterletzt scheint es bei vielen Denker*innen des Millenniums und der Gegenwart darum zu gehen, wieviel Realitätsvermögen sie dem Denken zutrauen. Wir wollen selbstbehauptend wissen, in welcher Modalität wir existieren, wenn wir unser Dasein gründlich ergründen, also ob das gründliche Denken schon wertvoll genug ist für das Individuum und das Kollektiv, und ob wir im Umkehrschluss auf sensualistische Verbindungen innerhalb der technischen Welt verzichten können oder eben nicht.

Serres hat mit dem Versuch einer Synthese seines immensen philosophischen Werks viel riskiert. Er machte sich Pascal zum Bruder und René Girad zum Kumpel. Er wünschte sich Zeremonien im Kollektiv zurück, die als Filter gegen das Unechte fungieren. Er galvanisierte im Gebilde des Denkens die römisch-katholische Glaubensrichtung ohne Sympathien für den theologischen Diskurs zu »einem Mono-Polytheismus, einer Synthese zwischen der gewöhnlichen Religion des Sozialen und der ungewöhnlichen der Propheten, zwischen Anthropologie und Mystizismus«.

Es ist diesem herausragenden Mann offenbar eine emotionale Abkühlung seiner geistigen Existenz gelungen; Serres hat die erlebte Erfahrung einer Pilgerfahrt gewonnen vor dem gefährlichen Sprung in die Auferstehung. Sein letzter Satz beim Abschied von der Erde: »In der mystischen Ekstase, die in allen Religionen gegenwärtig und wirksam, also universal ist, erfüllt die Gegenwart Gottes und des Göttlichen diejenigen, die sie erleben, mit einer souveränen, vollkommenen, friedlichen, mit einer von allem Bösen erlösten, begnadeten Freude«.

© Wolfgang Koch 2022

Fotos: Český Krumlov, Weinbergkirche

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kommentare

  • Die Logik ist eine schreckliche Göttin, noch die kleinste falsche Annahme wuchert zu einem gargantuesken monströsen Ungeheuer.

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