vonWolfgang Koch 05.12.2023

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Weder ein Karl noch ein Friedrich, keine Klara und keine Rosa, natürlich kein Adolf – der schon gar nicht – , auch kein Kurt, kein Erich, kein Konrad, kein Willy, kein Franz-Josef, kein Helmut, nicht einmal eine Angela – oder wie die Geschichtsbuch-Deutschen alle heissen. Die Titanen und die Berühmten der Nation, die bitte haben ihre Bühne ja schon. Verdienstkreuze glitzern auf der Brust oder der Verdammungsstempel prangt auf der Stirn. Die angeblich oder tatsächlich grossen Deutschen stehen doch viel zu oft im Scheinwerferlicht!

Mich interessieren die gemeinnützigen Leistungen von Leuten, die ihrer Zeit ein listiges Stück voraus waren, die Namen derer, die bedenkenlos oder mutig gegen den zu allen Zeiten triumphierenden Strom der Opportunisten geschwommen sind oder noch schwimmen: echte Pioniere und wahre Gescheitere, Demokraten, Halbautoritäre und Wohltäter, Vertreter·innen minoritärer Meinungen ohne Angst vor der Zusammenrottung, Verfehmte in Ost oder in West. Keine Nur-Publizisten, sondern in nennenswerten Anteilen auch praktisch Veranlagte, und seien es Satiriker, die mit einem Bein im Minus und mit dem anderen im Gefängnis stecken.

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Dass unter den 16 gelisteten Persönlichkeiten gleich drei Attentatsopfer aufscheinen und drei weitere eines gewaltsamen Todes gestorben sind, weicht vom Schicksal des statistischen Durchschnittsdeutschen grob ab. Der gewaltsame Existenzverlust, Exil, Kerker oder Verbannung sind aber kein Nachweis dafür, dass die Vorkämpfer·innen mit ihrem Lebenslauf irgendwie richtig lagen. Das nicht! Doch auch dem Gegenteil fehlt Beweiskraft. Ihr Unglück ist kein Freibrief für die überwältigende Mehrheit, an Feigheit und Gesinnungslosigkeit unerschütterlich festzuhalten.

Hätte der Wiener Paradezionist Theodor Herzl das Hauptwerk des »Communistenrabbi« Moses Hess (1812-75) gekannt, hätte er auf seinen eigenen Beitrag zum jüdisch-nationalen Völkerfrühling am Ende des 19. Jahrhunderts glatt verzichtet. Titel der epochemachenden Schrift: ›Rom und Jerusalem‹. Hess, ein ekstatischer Denker des Vormärz – Voluntarist, Sanguiniker, Zionist, Sozialdemokrat – soll den heute ungleich berühmteren Karl Marx an die kommunistische Idee überhaupt erst herangeführt haben. Der frankophile Bonner Jude lehnte jedoch dessen Parteibildung und die daraus entspringende Dogmatik einer neuen Arbeiterelite ab. Hess trennt sich bereits 1846 von Marx, wandte sich 1863 ausdrücklich gegen eine »Diktatur der besitzlosen Klasse« und den »gewaltsamen Eingriff in die Produktionsweise«. Er plädiert für die konsequente »Staatsintervention« und eine harte Kritik der Geldaristokratie. Das Zauberwort der Epoche hiess »Assoziation«, und für die Radikalen unter den Fortschrittlichen, zu denen unser Kopf zählte, »freie Assoziation«. Aus Preussen exiliert, aus Paris ausgewiesen, durcheilte Hess ein Verfolgtenleben; sein Leichnam wurde in den Kibuzz am See Genezareth überführt. – Ein so untypisches deutsches Schicksal, dass sich heute nur mehr akademische Beforscher·innen des Frühsozialismus an den Mann erinnern.

Der rheinischer Demokrat Moritz Rittinghausen (1814-90) kritisierte die repräsentativen Demokratie, das Ideal des Liberalismus. Er propagierte 1850, nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution, unverzagt die Idee einer direkten Volksgesetzgebung, später dreistufig umgesetzt im Kanton Zürich. Rittinghausens politischer Entwurf: legislative Sektionen aus je 1.000 Stimmberechtigten beiderlei Geschlechtes, und darüber eine gewählte Regierung. Man möchte so einen Vorschlag zur demokratischen Gleichberechtigung einmal von einer Reformkommission der Vereinten Nationen hören! Darauf wird die Menschheit vermutlich noch Jahrhunderte warten. Der Deutsche Moritz Rittinghausen stand ohne Wenn und Aber für pionierisches Engagement in der Arbeiter·innenbewegung, das heisst in der Sozialdemokratie. Als dissidenter Abgeordneter ihrer Reichstagsfraktion rief er den Zeitgenoss·innen laut zu: »Keine Prätorianer irgendeiner Sorte mehr!« Ausserdem verlangte Rittinghausen von den Regierenden seiner Zeit, auf dem Banknoten »die Steuerzahler mit eingefallenen Wangen bildlich darzustellen«.

© Wolfgang Koch 2023

 

Liste »Deutschlands politische Leuchtfeuer«

Moses Hess (1812-75)

Moritz Rittinghausen (1814-90)

 

 

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