vonWolfgang Koch 15.12.2023

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Dass Solidarität auf Gegenseitigkeit verpflichtet, das wusste im 20. Jahrhundert niemand besser als die Mehrheitssozialdemokratin Marie Juchacz (1879-1956). Sie organisierte zunächst Textilarbeiterinnen im Aachener Raum, sprach 1919 als erste Frau im deutschen Parlament und sie gründete 1933 das erste Mal die Organisation Arbeiterwohlfahrt (AWO), und 1945, in ihrem Exil in New York, dann ein zweites Mal, nunmehr um Hilfspakete in das mit fremder Hilfe in russischen Kriegswintern und unter alliierten Bombenteppichen wiedergeborene Land zu schicken. Der bis heute gültige Grundsatz der Arbeiterwohlfahrt ist so simpel, wie ein revolutionärer Gedanke nur sein kann: die sachgemässe Durchführung der gesetzlich geregelten Wohlfahrtspflege muss von der Politik gefördert und die Sozialhilfe von den Betroffenen selbst in Ortsvereinen kontrolliert werden. Die AWO unterhält heute in allen Bundesländern über 18.000 Heime, Wohngemeinschaften, Werkstätten, Kindertageseinrichtungen, Tagesstätten, Beratungsstellen und ambulante Dienste. Auf solche Erfolge ist der gesellschaftliche Zusammenhalt gebaut, und nicht auf die Exportnation Deutschland.

Jakob Kaiser (1888-1967), Zentrumspolitiker, christgewerkschaftlicher Widerständler der Untergrundopposition im NS-Staat, lehnte sich in den 1950er-Jahren als CDU-Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen weltpolitisch weit aus dem Fenster. Mit seinem Nationalneutralismus propagierte dieser Gegenspieler von Bundeskanzler Konrad Adenauers – wie der Würzburger Geschichtsprofessor Ulrich Noack und dessen »Nauheimer Kreis« – ein blockfreies Gesamtdeutschland. Zur Umsetzung seiner aussenpolitischen Vorschläge kam es bekanntlich nie. Sie hätte dem Land vier Jahrzehnte politische Spaltung und 140 Mauertote erspart, was nicht nichts gewesen wäre; Kaisers Modell eines neutralen Deutschlands hätte weiters Europa und der Welt einen Dritten Weg durch die gefährliche atomare Blockkonfrontation von kapitalistischer und staatskommunistischer Hemisphäre geboten. Auch keine Kleinigkeit, wenn man die Verheerungen der Washingtoner und Moskauer Stellvertreterkriege aus dreissig Jahren zusammenzählt.

»Sie machen ihr Hakenkreuz auf jeden Bierfilz und jeden Türposten«, beobachtete der militante Sozialdemokrat Carlo Mierendorff (1897-1943) an den Hitler-Anhängern, und der Abgeordnete zog daraus in seiner Reichstagsrede 1932 völlig neue Schlüsse, wie der politische Gegner niederzuringen sei. Mierendorff hielt es für dringend geboten, die Sozialdemokraten als »die besseren Deutschen« herauszustellen und entwickelte eine moderne Symbolsprache, um die Schutzformation der Eiserne Front zu einer schlagkräftigen Massenorganisation aufzubauen. In der stürmisch bewegten politischen Landschaft der frühen 1930er-Jahre galt Mierendorff als »der kommende Mann« der unbeugsamen Linken. Er war befreundet mit dem belgischen Sozialisten Hendrik de Man. Doch die drei Pfeile, sein Logo für die Gegenpropaganda zum Hakenkreuz, und das psychologische Aktionsprogramm einer Umsturzbewegung von links kamen in der brauen Ära zu spät. »Schwere Jahre stehen uns bevor«, schrieb Mierendorff zehn Jahre später in seinem letzten Aufruf ›Sozialistische Aktion‹. Denn so lange konnte sich der Wühler im gleichgeschalteten Terrorstaat verbergen. »Fast übersteigt es Menschenkraft, das wieder aufzurichten, was Hitlers Machtwahn und der Krieg vernichtet haben«. Sechs Monate später begrub den Ungestümen ein Bombenangriff alliierter Flieger auf Leipzig.

© Wolfgang Koch 2023

 

Liste »Deutschlands politische Leuchtfeuer«

Moses Hess (1812-75)

Moritz Rittinghausen (1814-90)

Otto von Bismarck (181598)

Kurt Eisner (1867-1919)

Walther Rathenau (1867-1922)

Marie Juchacz (1879-1956)

Jakob Kaiser (1888-1967)

Carlo Mierendorff (1897-1943)

 

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