Wir kennen Wohlstandsgesellschaften (in denen es vielen bis allen gut bis zu gut geht) und Wohlfahrtsstaaten, die, so Wikipedia, „weitreichende Maßnahmen zur Steigerung des sozialen, materiellen und kulturellen Wohlergehens“ ihrer Bürger ergreifen. Der Begriff Wohlstandsstaat hingegen wird bislang nur extrem selten verwendet (weniger als ein Prozent der Google-Treffer für Wohlfahrtsstaat), und wenn, dann mit keiner anderen Bedeutung als der Begriff Wohlfahrtsstaat.
Ich schlage hiermit eine andere Bedeutung vor. Ein Staat heiße Wohlstandsstaat, wenn er weitreichende Maßnahmen zur Sicherung des sozialen, materiellen und kulturellen Wohlergehens seiner Bürger ergreift.
Den Unterschied erkannt? Klar: Das Wohlergehen soll nicht gesteigert, sondern gesichert werden. Was
– zum ersten eine Absage an die (unrealistische) Vorstellung immerwährenden Wachstums ist, ohne gleich in Miegelsche Verzichtsgier zu verfallen;
– zum zweiten eine Anerkennung jener Forschungsergebnisse aus der Glücksforschung darstellt, wonach ab einer Pro-Kopf-Wirtschaftskraft etwa in der Größenordnung Portugals weiteres wirtschaftliches Wachstum das Glücksniveau einer Gesellschaft nicht mehr steigert, weil dann alle elementaren, aus Armut rührenden Lebensrisiken beseitigt sind; vor allem aber
– zum dritten ein Vorschlag zur Übersetzung des chinesischen Xiaokang ist – ein mehr als 2000 Jahre alter Begriff, der Wohlbefinden und Genügsamkeit miteinander verbindet (wofür es im Deutschen bislang kein Wort gibt), und offizielles Entwicklungsziel der chinesischen Führung für das Jahr 2020 ist.
So etwa in den Worten von Vizechef Li Keqiang in der heutigen Financial Times:
The term “Xiaokang” is used today to refer to a society where people can receive education, get paid through work, have access to medical services and old-age support, have a shelter and more than enough food and clothing and lead a well-off life. To build a Xiaokang society in all respects is China’s development goal by 2020.
Wer, wie China noch nicht so weit ist, dass seine Bürger den Lebensrisiken der Armut entronnen sind, muss also weiter materielles Wachstum anstreben, um seiner Rolle als Wohlstandsstaat gerecht zu werden. Wer, wie Deutschland, schon so weit ist, muss zwar als Wohlfahrtsstaat weiter auf Wachstumskurs heizen – aber als Wohlstandsstaat müsste er das nicht.
Wenn wir den Übergang nicht hinbekommen, werden wir vermutlich eines Tages den Vorgaben des (wesentlich nachhaltigeren) chinesischen Ansatzes folgen müssen. Wenn wir es selbst schaffen, von Wohlfahrts- auf Wohlstandsstaat umzustellen, haben wir Regeln und Fahrplan selbst in der Hand. Wär doch besser, oder?