vonoliverkrueger 26.01.2020

Zeitlupe

Notizen zu Gesellschaft, Medien und Religion von Oliver Krüger, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Freiburg (Schweiz).

Mehr über diesen Blog

Haben Sie sich eigentlich je darüber gewundert, dass es jede Attacke eines Hais auf einen Menschen stets in die internationalen Schlagzeilen schafft? Natürlich ist diese Erfahrung äußerst unangenehm. Aber was denken Sie: Wie viele Menschen verlieren jedes Jahr durch Haifische ihr Leben?

Es sind in der Regel fünf bis zehn Opfer zu beklagen (bei ca. 60 bis 90 Haiattacken pro Jahr). Das Risiko, durch ein Tier getötet zu werden, liegt 50-mal höher bei der Begegnung mit Elefanten oder Nilpferden – ja genau: die knuddeligen, bisweilen als Happy Hippos vermarkteten Wasserdümpler (jeweils ca. 500 Tote pro Jahr). Ungefähr 1000 Menschen sterben durch Krokodile, 5000 durch Skorpione, 25.000 durch Hunde und schätzungsweise bis zu 100.000 Menschen durch Schlangenbisse. Die Opferzahlen von durch Moskitos übertragenen Krankheiten und von Parasiten (z.B. Bandwürmer) gehen in die Hundertausende.

Aber keine der tierischen Bedrohungen ist so fest in uns verankert, wie das Erschaudern vor dem tödlichen Hai. Wenn ich im Mittelmeer schnorchelte und in das dunkle Blau der Tiefe blickte, so war diese Angst immer präsent – so unsinnig dies auch war. Denn wie viel wahrscheinlicher ist ein tödlicher Verkehrsunfall (bei ca. 1,3 Millionen Toten pro Jahr)? Und doch ergreift mich kein Schaudern beim Anblick eines Autos.

Zu verdanken haben wir diese Ängste vor dem Hai seiner immens erfolgreichen Medienkarriere als bad boy der Meere, die sich seit 1975 über die vier Kinofilme Der Weiße Hai erstreckte, in denen ein Hai jeweils Menschen auffrisst. Das englische Original firmiert noch packender unter dem Titel Jaws (=„Rachen“ / „Kiefer“). Dank dieser Filmbilder ist die Angst plastisch, sie geht unter die Haut, man spürt die scharfen Zähne im eigenen Fleisch. Die Verfolgung durch ein Nilpferd oder der Stich einer Malariamücke wird weder in unserer Imagination noch in der filmischen Dramaturgie ein ähnliches Niveau von Angst erzeugen können.

Was aber, wenn es gar nicht um Haifische, sondern um Menschen geht? Wenn jede Gewalttat eines Flüchtlings in Deutschland ein Schreckensbild zeichnet, das Ängste schürt und diese immer weiter verfestigt. Es ist auffallend, dass jedes Verbrechen, dass mutmaßlich von nichtdeutschen Tatverdächtigen ausgeübt wird, eine äußerst extensive mediale Berichterstattung erhält. Drei Tage lang titelte die Bild-Zeitung im Sommer 2019 reißerisch über einen brutalen Mord in Stuttgart auf offener Straße. Zur selben Zeit wurde auch ausgiebig über den Mord eines aus der Schweiz stammenden Eritreers berichtet, der in Frankfurt eine Frau und ihren Sohn vor einen Zug stieß. Diese Taten sind grauenvoll und erfüllen jeden mit Trauer und Fassungslosigkeit. Daran kann kein Zweifel bestehen.

Allerdings geschehen pro Jahr ca. 300 bis 400 (vollendete) Morde in Deutschland, die bei genauer Betrachtung nicht weniger brutal und verurteilenswert sind. Was aber erlangt die mediale Aufmerksamkeit? Wenn das entscheidende Kriterium für die Selektion einer Nachricht die nichtdeutsche Herkunft der Täter ist, dann wird zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass Deutschland immer unsicherer und von kriminellen Ausländern überflutet wird. Die Polizeiliche Kriminalstatistik der vergangenen Dekaden zeigt dabei einen gegenläufigen Trend auf: Die Zahl der Straftaten ist insgesamt so niedrig, wie seit 30 Jahren nicht mehr, dies gilt auch für Gewaltverbrechen. Den einzigen eklatanten Anstieg von Tötungsdelikten gab es ab 1990 nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, wie der Kriminologe Birger Antholz konstatiert.

Mit der selektiv intensivierten Berichterstattung über Verbrechen von nichtdeutschen Tätern wird noch ein zweiter Mechanismus bedient. Kriminalität wird ethnisiert, also bestimmten Ethnien zugeordnet. Wenn im Stuttgarter Fall alliterativ vom „Macheten-Mörder“  – das klingt noch brachialer als das tatsächliche Deko-Samurai-Schwert – die Rede ist, schreibt sich dies in das Narrativ eines barbarischen und brutalen Orients ein. Nicht erst seit Peter Scholl-Latours Doku-Reihe Das Schwert des Islam (1990), sondern schon in den großen Enzyklopädien der Aufklärung, wird dieses Bild befördert: Dem vernunftbasierten Europa wird meist ein unzivilisierter und gewaltverherrlichender Orient (= Islam) entgegengesetzt.

Die Ethnisierung und unterschwellige Verbindung mit der Religionszugehörigkeit werden jedoch nur in eine Richtung vorgenommen. Dazu einige Beispiele: Drei Monate vor dem Frankfurter Unglück erstach eine 75-jährige, Schweizer Seniorin einen siebenjährigen Jungen in Basel auf seinem Schulweg. Zu den weltweit schlimmsten Mordtaten der vergangen Dekade zählten die 149 Morde eines deutschen Germanwings-Piloten, der 2015 sein Flugzeug in den französischen Alpen zum Absturz brachte sowie die eines deutschen Krankenpflegers, der nachgewiesenermaßen für über 100 Todesopfer verantwortlich war (vermutet werden jedoch bis zu 300). Im November 2019 wurde gegen einen 30jährigen Bayern Anklage wegen versuchten Mordes in 88 Fällen erhoben, der als falscher Arzt junge Frauen über das Internet zu Experimenten mit elektrischem Strom überredete…. Wird hier in der medialen Berichterstattung die Frage nach ihrer deutschen, bayerischen oder Schweizer Kultur, gar nach ihrer Religionszugehörigkeit aufgeworfen? Sicherlich nicht. Werden diese Taten zum Politikum? Kaum. Auf diese Schräglage machte schon Philipp Loser im Schweizerischen Tagesanzeiger aufmerksam.

Und was wäre, wenn die Bild-Zeitung und andere Boulevardmedien jedem einzelnen dieser Todesopfer ebenfalls jeweils drei Tage ihrer Berichterstattung widmen würden? Wir hätten zwei Jahre lang Schlagzeilen über mörderische Krankenpfleger, falsche Ärzte und psychisch kranke Piloten vor Augen! Wer würde sich dann noch ruhigen Gewissens in ein Flugzeug oder Krankenhaus begeben?

Aber diese Geschichten ließen sich wohl schwerlich in einem Zeitungsmarkt platzieren, der sich zum Teil dieser rechtspopulistischen Empörungsökonomie verschrieben hat. „Wir sind die Guten und das Übel kommt von draußen“ – diese Geschichte ist so beständig, dass sie immer funktioniert. Die schwedische Autorin Astrid Lindgren berichtet in ihren Kriegstagebüchern, wie jüdische Flüchtlinge in Skandinavien als Diebe, Mörder und Vergewaltiger verunglimpft wurden und dies, als schon bekannt war, dass sie in deutschen Konzentrationslagern massenhaft umgebracht wurden. In Deutschland wurde nach Kriegsende mit schärfster Polemik auch gegen die flüchtenden Schlesier, Ostpreußen und Sudentendeutschen gehetzt… Dieser simple und wirksame Reflex basiert stets auf der Ausgrenzung der „Anderen“.

Es geht nicht darum, Probleme und oder gar Verbrechen zu verschweigen. Aber zur Wahrheit gehört auch, Fakten in Relation zu setzen, diese im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu betrachten und die dramatisierenden Mechanismen kommerzieller Medien kritisch zu durchleuchten.

Nilpferde und Bandwürmer sind gefährlicher als Haifische.

 

Quellen:

Birger Antholz: Morde 1950 bis 2015. In: Die Kriminalpolizei. Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, März 2017

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945. Berlin: Ullstein 2015.

Bildnachweis: Great White Shark, Olga Ernst (Wiki Commons)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/zeitlupe/2020/01/26/haifische-aus-eritrea/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert