In ihrem Bemühen, sich ein wertkonservatives Antlitz zu geben und sich damit rechts von der CDU/CSU positionieren zu können, bezieht sich die AfD immer wieder auf die christlichen Wurzeln der deutschen und abendländischen Kultur. Ohne diese wertkonservative Positionierung könnte die AfD vermutlich nur noch ein völkisch-national orientiertes Publikum ansprechen. Wenn man erörtern will, wie das Verhältnis einer Partei zum Christentum aussieht, so kann man dies aus Sicht der Kirchen tun oder aber die religionsbezogenen Aussagen einer Partei selbst einer Analyse unterziehen. Im Folgenden betrachten wir daher Stellungsnahmen, Parteiprogramme und die Umsetzung der propagierten Werte anhand der biographischen Daten der AfD-Mandatsträgerinnen und -träger.
Wie steht die Partei aus ihrer eigenen Sicht zum Christentum? Alexander Gauland stellt 2016 in einem Interview der Jungen Freiheit klar: „Wir sind keine christliche Partei. Wir sind eine deutsche Partei, die sich bemüht, deutsche Interessen wahrzunehmen.“ Dies schließe ein, die „kulturelle Tradition“ gegen eine „raumfremde Einwanderung“ zu verteidigen, die vom Islam ausgehe. Die heutige Verteidigung des Abendlandes setzt er in Parallele zur Verteidigung Wiens im Jahr 1683 gegen die Osmanischen Belagerer.
Ein Jahr später kommt Alice Weidel in einem Focus-Interview zur gegenteiligen Einschätzung: Die AfD sei die einzige christliche Partei, die es noch gäbe, während christliche Werte in der CDU/CSU keine Rolle mehr spielen würden.
Die kleine Gruppe von Christen in der AfD – sie umfasst nach eigenen Angaben ca. 300 von den 32.000 Parteimitgliedern – sieht ihrem Sprecher Volker Münz zufolge christliche Werte nur in der Partei und nicht in den Landeskirchen vertreten. Es sei in der Bibel auch nicht die Rede von der Fremdenliebe, sondern nur von der Liebe zum „Nächsten“. Man positioniert sich in diesem Zirkel klar gegen jegliche Form von Sterbehilfe, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare (= Zerstörung der christlichen Ehe), die Fristenlösung für Abtreibungen, die „gottlose Gender-Ideologie“ sowie gegen die Verbreitung von Kitas und fordert eine Auseinandersetzung mit dem Islam „ohne Denk- und Sprechverbote“.
Das Grundsatzprogramm der AfD verweist auf zwei Ebenen auf Religionsfragen: Die „abendländische christliche Kultur“ wird als prägend für den „Nationalstaat des deutschen Volkes“ verstanden (S. 6). Aus diesem Gedanken wird die „deutsche Leitkultur“ deduziert, die auf dem Christentum, der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, „deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden“ und dem römischen Recht beruhe (S.47). Ein ganzes Kapitel (7.6) des Grundsatzprogramms widmet sich – ausgrenzend – dem Islam: “Der Islam gehört nicht zu Deutschland.” (S. 49/50).
Verknüpft wird diese Abgrenzung mit der „Familienpolitik“, die sich am Leitbild der „traditionellen Familie mit Mann und Frau“ orientiert. Mehr Wertschätzung solle daher den Frauen entgegengebracht werden, die “nur” Hausfrau und Mutter seien (S. 41), entgegen des verbreiteten Ideals der voll erwerbstätigen Frauen (S. 43). Man vermutet, dass „staatliche Umerziehungsprogramme“ schon den Kindern falsche Rollenmodelle vermitteln: „Die Gender-Ideologie marginalisiert naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern und wirkt damit traditionellen Wertvorstellungen und spezifischen Geschlechterrollen in den Familien entgegen.“ (S. 55) Die staatliche Förderung der Gender-Forschung müsse daher sofort beendet werden (S. 52).
Die Folge dieses verfehlten Rollenverständnisses liege auf der Hand: Die Geburtenrate „deutschstämmiger Frauen“ sei nämlich zu tief für die „Bestandserhaltung“: „Jede fünfte Frau bleibt heute kinderlos, unter Akademikerinnen war es 2012 sogar jede dritte. Familien mit mehr als zwei Kindern fänden sich überwiegend in sozial schwächeren Schichten … “ (S. 41). Das träfe insbesondere auf muslimische Migranten zu und verstärke damit „den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur“ (S. 42). An dieser Stelle schimmern einerseits Argumentationen der Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts durch (die sich gegen Arbeiterfamilien oder z.B. in den USA gegen die kinderreichen, katholischen Migrantenfamilien aus romanischen Ländern wandte). Andererseits wird hier deutlich auf die in rechten Kreisen grundlegende These der „Umvolkung“ verwiesen (die letztlich auf Friedrich Burgdörfers Schrift Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung – die Lebensfrage des deutschen Volkes von 1929 zurückgeht).
Zusammenfassend lässt sich die Positionierung der AfD gegenüber dem Christentum auf zwei Aspekte reduzieren. Explizit dient das Christentum lediglich als Merkmal deutscher und abendländischer Identität in Abgrenzung zum Islam, eine inhaltliche Füllung liegt – abgesehen von der marginalen Gruppe christlicher AfDler – nicht vor. Implizit wird das „traditionelle Familienbild“ einer naturgegebenen Rolle von Mann und Frau mit der legitimen Wertekultur eben dieses Abendlandes verknüpft. Die Ironie der Geschichte aber führt nun gerade dazu, dass in diesem Punkt die Auffassungen der AfD mit denen eines konservativen Islam kompatibel sind, der fortwährend als unvereinbar mit der „deutschen Leitkultur“ charakterisiert wird.
Jedoch muss man der AfD bescheinigen, dass sie in ihrem Gender-Rollenverständnis immerhin konsequent ist: Unter den im Bundestag vertretenen Parteien hat sie mit nur 17% den geringsten Frauenanteil, in der Bundestagsfraktion gar nur 10% und in fünf AfD-Fraktionen in deutschen Landtagen gibt es überhaupt keine Frauen.
Die von der AfD vielzitierten christlich-humanistischen Wurzeln des Abendlandes gilt es in zwei Schritten etwas genauer zu betrachten: erstens mit Blick auf die Wurzeln, zweitens mit Blick auf das Verhältnis zwischen Humanismus und Christentum. Denn wenn man die Wurzeln des Humanismus im Christentum verortet, dann sollte auch erwähnt werden, dass der Humanismus der Renaissance aus der Scholastik hervorging. Ab dem 11. Jahrhundert orientierten sich Denker wie Anselm von Canterbury, Albertus Magnus und Thomas von Aquin immer stärker an die von Aristoteles geprägten Prinzipien der Vernunft und Logik.
Diese breite Rezeption von Aristoteles war jedoch nur durch die zahlreichen Übersetzungen und Kommentare islamischer Gelehrter wie Averroes, al-Ghazali und al-Kindi möglich geworden. Insbesondere das religiös tolerante Kalifat von Córdoba mit seiner mehrere 100.000 Schriften umfassenden Bibliothek ermöglichte im 10. und 11. Jahrhundert einen regen Austausch zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Gelehrten. Im Zuge der Reconquista, der Zurückeroberung der iberischen Halbinsel durch die katholischen Könige, wurden die Schriften jüdischer und islamischer Autoren meist verbrannt. Die neu eingerichtete, spanische und portugiesische Inquisition verfolgte ab 1500 dann vor allem jüdische und muslimische Konvertiten, die verdächtigt wurden, ihren alten Glauben weiter zu praktizieren (es wurde keine Religion neben der römisch-katholischen Kirche toleriert).
Was nun zweitens den Humanismus in seinem Verhältnis zum Christentum angeht, so genügt es, daran zu erinnern, dass die römisch-katholische Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) benötigte, um grundlegende humanistische Werte wie die Gewissens- und Religionsfreiheit dem Menschen anerkennen zu können. Bis dahin verbot der Index Librorum Prohibitorum jedem und jeder Gläubigen die Lektüre ausgewählter Werke von Giordano Bruno, Erasmus von Rotterdam, René Descartes, Denis Diderot, Voltaire, Immanuel Kant, Heinrich Heine, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und vielen anderen.
Kurz: vieles von dem, was unsere liberale und humanistisch geprägte Gesellschaft ausmacht, fand sich auf dieser schließlich 6000 Titel umfassenden Liste. Diese Werke durften von Katholikinnen und Katholiken im Prinzip nur mit Sondergenehmigung gelesen und nicht in katholischen Bibliotheken, Schulen oder theologischen Fakultäten angeschafft bzw. besprochen werden. Aber ich vergaß, die Protestantin Beatrix von Storch zieht es ja vor, katholische Gottesdienste zu besuchen, die dem vorkonziliaren Ritus folgen.
Also nicht nur ein geistiger Funke der Renaissance, sondern auch das frühe „antike Brennmaterial“ – um in der Metapher zu verbleiben – entstammte islamischer Gelehrsamkeit des Mittelalters. Der Humanismus wiederum kann höchstens als Ergebnis der (teils schmerzhaften) Auseinandersetzung mit Kirche und Christentum betrachtet werden. Es ist vor diesem historischen Hintergrund ein sinnloses Unterfangen, humanistische Werte „dem Islam“ oder „dem Christentum“ per se gegenüberzustellen oder zuzusprechen, ohne die jeweiligen Kontexte zu beachten.
Als letztes gilt es, die praktische Dimension der vorgeblichen Allianz der AfD mit dem „abendländischen Christentum“ zu beleuchten, zum einen mit Blick auf die Kirchenzugehörigkeit von AfD-Abgeordneten und zum anderen mit Blick auf das traditionelle Familienbild. Zunächst zeigt sich, dass der Anteil der Kirchenmitglieder fast so niedrig ist wie die Frauenquote: Im Bundestag sind nur 22% der 88 AfD-Abgeordneten in christlichen Kirchen eingebunden und auf Ebene der Landtage sind es ebenfalls nur 23%. Nur die Linke hat mit 9 % deutlich weniger Kirchenmitglieder in ihrer Bundestagsfraktion, betont die Religionsfrage allerdings auch nicht in ihrer Programmatik. Die beiden Fraktionsvorsitzenden der AfD im Bundestag, Alice Weidel und Alexander Gauland, machen keine Angaben zu ihrer Religionszugehörigkeit.
Wie sieht es nun mit der traditionellen Familie aus? Unter den AfD-Abgeordneten im Bundestag und den Landtagen sind nur ca. 53% verheiratet, ca. 35% ledig (ein Viertel davon mit Kindern) und ca. 10 % geschieden. Einzelne sind verwitwet oder leben in einer eingetragenen Partnerschaft. Alexander Gauland ist zwar verheiratet, lebt aber seit langer Zeit mit einer anderen Frau zusammen in Potsdam. Währenddessen lebt seine Kollegin Alice Weidel in einer eingetragenen Partnerschaft mit einer aus Sri Lanka stammenden Filmproduzentin und deren Kindern in der Schweiz (wo sie selbst auch Migrantin ist). Sie verfolgt damit ein liberales Lebensmodell, das ihre Partei politisch bekämpft.
Diese Lebens- und Liebesvielfalt ist an sich vollkommen unproblematisch – wenn sich die AfD nicht auf ihre patriotischen Fahnen geschrieben hätte, für die Bewahrung des christlichen Abendlandes und der von ihr eng definierten „traditionellen Familie“ einzutreten. In den christlichen Kirchen sind ihre Mandatsträger kaum engagiert und trotz des hohen Durchschnittsalters ihrer Abgeordneten sind nur die Hälfte von ihnen verheiratet. Gemessen an den Maßstäben ihrer Partei werden die vermeintlich christlichen Werte von ihren eigenen Volksvertretern nur in begrenztem Umfang gelebt. Das „Christentum“ erweist sich als leere Propaganda-Worthülse, um gegen den Islam zu mobilisieren. Mehr nicht.
Literatur:
Hubert Wolf (2006): Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. München.
Deborah L. Black (1990): Logic and Aristotle’s „Rhetoric“ and „Poetics“ in medieval Arabic philosophy. Leiden.
Bildnachweis:
Alexander Gauland (2015) von kosinsky@skillshare.eu
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Gauland#/media/Datei:2015-07-04_AfD_Bundesparteitag_Essen_by_Olaf_Kosinsky-225.jpg