Vielleicht kann man sagen, dass es ein allgemein geteiltes Verständnis darüber gibt, wann man von politischer Pluralität spricht und wann man von einer Polarisierung der Politik sprechen kann. Die Vorstellung oder der Anspruch politischer Pluralität ist gemeinhin ein moderner (oder sogar eher ein spätmoderner) grund-demokratischer Anspruch die unterschiedlichen, in der Gesellschaft gegebenen, politischen Vorstellungen politisch abzubilden. Je weniger das gelingt, d.h. je mehr (unter der Annahme einer faktischen Pluralität) nur ganz bestimmte politische Vorstellungen in politische Programme und Wirkungen übersetzt werden, umso mehr muss sich demnach die Gesellschaft Gedanken über ihre demokratische Beschaffenheit machen. Je besser das gelingt, je vielfältiger oder differenzierter die Programme werden, umso eher kann man an dieser Stelle von gelingenden demokratischen Verhältnissen reden.
Obwohl sich der Begriff der Polarisierung hier ähnlich wie jener der Pluralität anhören mag – beides spricht ja von einer Differenz, die, wie gesagt, in Bezug auf die Pluralität eine demokratische Qualität besitzt, wird mit ihr doch etwas anderes verbunden. Polarisierung meint dann nämlich eine Differenz, die über Differenzen hinweggeht und zu einer Zuspitzung von Positionen führt. Das bedeutet aber nicht, die möglichen oder vorhandenen Positionen schärfer zu machen – es bedeutet im Gegenteil dafür zu sorgen, dass am Ende nur wenige Positionen übrigbleiben. Oft spricht man dann von einer Spaltung der Gesellschaft und kritisiert, dass im Zweifelsfall nur zwei Lager übrigbleiben, die durch überspritze Bezüge gegeneinander in Fronstellungen gebracht werden und alle Alternativen und politische Nuancen unter sich begraben. In dieser Hinsicht ist die Polarisierung also gerade nicht plural, sondern hängt viel mehr mit dem Gegenteil zusammen, von dem sich der Anspruch der Pluralität seinerseits anzugrenzen versucht.
Parteien im Wahlkampf befinden sich nun in einer schwierigen Lage. Einerseits sollen sie demokratische Vielfalt abbilden, andererseits sollen sie möglichste viele Stimmen sammeln und Wahlen gewinnen – wobei das Stimmen sammeln und Wahlen gewinnen nicht selten von einer gelungenen Strategie der Polarisierung abhängt – also davon, bestimmte Gräben in der Gesellschaft tiefer zu ziehen, entlang dieser Gräben Stimmen auf seine Seite zu ziehen und das größte Lager auf der anderen Seite des Grabens als schwächste Antwort auf die heiß diskutierten Themen aussehen zu lassen. Damit gehören Pluralität und Polarisierung irgendwie zusammen, auf der anderen Seite aber schleicht sich dadurch die Gefahr ein, Pluralität durch Polarisierung zu ersetzen. Ich glaube, das lässt sich auch in diesem Wahlkampf beobachten, der seit Anfang an beispielsweise gegen die Grünen ziemlich scharf geführt wurde und diese Position(en) durch Überspitzungen immer wieder versucht hat, aus dem Feld der demokratischen Möglichkeiten zu drängen (u.a. die Grüner-Mist-Kampagne oder die Anti-Bearbock- Kampagne der INSM). Da freilich, und das ist das Prekäre, sich die Polarisierung oft selber als Pluralität gebärdet, versucht sie sich auch selber als eigentlich demokratischen Standpunkt auszugeben, der das demokratisch Untragbare offenlegt und disqualifiziert. Natürlich ist, wie gesagt, Polarisierung nicht nur ein Problem – es kann Situationen geben, in denen eine starke Polarisierung der Gesellschaft sehr viel Gutes erzeugen oder sehr viel Übles verhindern kann. Aber Wahlkämpfe können sicher oft an Qualität gewinnen, wenn man sich gegenseitig politische Spielräume zugesteht und versucht, sich inhaltlich-konstruktiv abzugrenzen.