vonDarius Hamidzadeh Hamudi 18.09.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Fotoshooting im Fulton County Jail. Trotzig blickt der vormalige Präsident in die Kamera. Nach dem Verlassen der Haftanstalt in der Rice Street lässt Trump das Dienstsiegel des Sheriffs von der Aufnahme entfernen und postet das Bild wie eine Trophäe in den sozialen Netzwerken. – Der spanische Fußballfunktionär Luis Rubiales außer Rand und Band: Seine Mädels sind Weltmeisterin! Bei der Siegerehrung überschüttet er die Spielerinnen mit Glückwünschen und knutscht sie ab.  Bei Jennifer Hermoso legt er noch einen drauf, packt ihren Kopf mit beiden Händen und drückt ihr einen Kuss auf den Mund. – Der Spiegel berichtete über ein spezielles Rekrutierungs-System im Umfeld des Sängers Till Lindemann. Andere Teile der Spiegel-Berichterstattung untersagt das Landgericht Hamburg, um die Persönlichkeitsrechte des Musikers zu schützen. Am 29.8. teilt die Generalstaatsanwaltschaft Berlin der Presse mit, dass das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt worden ist.

Die Mechanik der Macht

Der Politiker, der Sportfunktionär und der Musiker bzw. Performancekünstler sind sehr verschiedene Typen. Und doch gibt es essenzielle Parallelen, geht es doch in allen drei Fällen um Männer und Macht. Über die drei wird diskutiert, ihr Gebaren beschäftigt bzw. beschäftigte die Justiz. Haben sie gegen geltende Gesetze verstoßen? Auch wenn nicht, stellt sich die moralische Frage: Haben die drei eventuell ihre Macht missbraucht? Existierte ein System von willfährigen Helfer:innen, das die Alphamännchen mehr oder weniger tatkräftig dabei unterstützt hat, ihrer Macht Geltung zu verschaffen?

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Kaum ein soziales Phänomen ist so schillernd und schwer zu greifen wie Macht. Macht manifestiert sich darin, Entscheidungen durchsetzen zu können, die das Leben anderer Menschen betreffen, und zwar auch gegen deren Willen. Ein wesentliches Machtmittel ist die Möglichkeit zur Patronage, also Menschen auf gewissen Posten zu platzieren und sie ggf. auch wieder von dort zu entfernen. Angela Merkels Kanzlerinnendämmerung wurde greifbar, als sie nicht mehr Volker Kauder als Fraktionschef durchsetzen konnte. Auch Joschka Fischer betont die hohe Bedeutung von Personalentscheidungen.

Macht funktioniert, wenn sie intakt ist, sehr geräuschlos. Kein Potentat muss mit der Faust auf den Tisch hauen, um seiner Position Geltung zu verschaffen. Breitbeinig intonierte Machtworte – man denke an Schröders »Basta« – können sogar darauf hindeuten, dass die Macht gerade den Bach hinuntergeht. Macht ist oft unsichtbar. Sie umhüllt und schützt den oder die Machthaber:in und erzeugt eine soziale Blase von Kofferträger:innen, die in irgendeiner Weise an der Macht partizipieren oder schlichtweg ihren Job behalten wollen.

Al Capone: Macht in Reinkultur

Joschka Fischer beschreibt den Machtverlust Helmut Kohls folgendermaßen:

»Als 1999 die CDU-Parteispendenaffäre explodierte, saß ich eines Morgens auf der Regierungsbank und sah Helmut Kohl. Der war über viele Jahre der dominante Elefantenbulle im Deutschen Bundestag. Dem konnte keiner was von der Opposition. Und der meinte, es wäre immer noch so, er saß da als sein eigenes Denkmal in der fünften Reihe. Und als er dann angegriffen wurde, meldete er sich. Nur hatte er nicht mehr die Aura des Leitbullen, er wurde mit Zwischenrufen angegriffen. Da ging er unter.«

Die von Joschka Fischer präzise beobachtete »Aura des Leitbullen« lässt sich in Reinkultur im kriminellen Millieu studieren, da Macht dort nicht durch Recht und Gesetz zivilisiert wird. In die Filmgeschichte eingegangen ist Don Vito Corleone: »Der Pate«. Der Kinoklassiker atmet die Aura des Leitbullen. Das Logo zeigt das Spielkreuz eines Marionettenspielers, der geräuschlos seine Fäden zieht. – Alphonse Capone ist bis heute das Sinnbild des Mafiabosses. Auf dem Höhepunkt seiner Macht führte er ein Antiquitätengeschäft, gab dem Dienstpersonal großzügige Trinkgelder und pflegte einen freundlichen Umgang mit den Medien. Er musste sich nicht mehr selbst die Finger schmutzig machen, dafür hatte er seine Leute.

Don Vito und Don Trump

Andrian Kreye schlägt in der SZ den Bogen von Don Vito, dem Paten, zu Don(ald) Trump, der sich auf dem Polizeifoto im Sheriff’s Office des Fulton Countys als Mafiaboss inszeniert habe:

»Der Don war aber immer schon die Rolle seines Lebens, egal ob er die Skyline von Manhattan umbaute oder die Demokratie von Amerika. Seinen Höhepunkt fand das nun im Polizeifoto, das am Donnerstag bei seiner kurzen Festsetzung (…) in Georgia gemacht wurde.«

Anfang August wurde Trump in Washington u.a. wegen Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten angeklagt. Die 45seitige Anklageschrift ist – im Vergleich zu offiziellen Schriftsätzen aus dem deutschen Rechtssystem – in verständlicher Sprache geschrieben und liest sich passagenweise wie ein Mafiathriller. (Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung.) Die Vorwürfe gegen Trump und seine sechs Mitverschwörer sind monströs. Hat der Leitbulle seine Puppen tanzen lassen?

In Georgia wird Trump auf der Grundlage des Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Gesetzes (kurz Rico-Act) angeklagt. Dieses Anti-Mafia-Gesetz zielt auf einflussreiche Personen innerhalb von kriminellen Vereinigungen ab, die – so wie einst Al Capone – willfährige Schergen um sich scharen. »Rico« könnte sogar Donald Trump besonders gefährlich werden.

Der Kuss oder »Wer über Einvernehmlichkeit entscheiden darf«

Eigentlich sind es schöne Bilder: Sportlerinnen defilieren an Honoratior:innen vorbei und werden mit Glückwünschen überschüttet. Im Freudentaumel liegen sie sich in den Armen und erklimmen den Fußballolymp. Soeben dort angelangt, macht Jennifer Hermoso eine Begegnung der besonderen Art … Bis vor 14 Jahren hatte Luis Rubiales selbst gekickt. Seit 5 Jahren ist er Präsident des spanischen Fußballverbandes, wird er sich auf diesem Posten halten können? …  Jennifer Hermoso erklärte danach, dieser Kuss habe nicht einvernehmlich stattgefunden, der Funktionär habe sie sexistisch belästigt und nicht respektiert. Eine Welle der Wut und Empörung brandete auf. Alle rechneten damit, dass Luis Rubiales seinen Hut nimmt. Doch es kam zunächt anders: Gleich fünf Mal wiederholte Rubiales, nicht zurücktreten zu wollen. Und er holt zum umfangreichen Gegenschlag aus:

»Es geht hier nicht um Gerechtigkeit. Es geht um Rufmord. Man versucht mich sozial umzubringen. (…) Es gibt einen falschen Feminismus, der nicht nach Gerechtigkeit sucht und nicht nach der Wahrheit.«

Besonders bemerkenswert ist die Figur der Täter-Opfer-Umkehr, die von Trump hinlänglich bekannt ist. Während der ehemalige US-Präsident sich als das Objekt einer von den Demokraten inszenierten Hexenjagd stilisiert, wähnt Luis Rubiales sich als Opfer des »falschen Feminismus«.

Machismo ist ein gesellschaftliches Phänomen

Der Fall Rubiales elektrisiert die spanische Öffentlichkeit. Antonia Blau, die Leiterin des Goethe-Instituts in Madrid, hat das aufmerksam verfolgt: Hier entzünde sich eine Debatte, die schon lange schwele. Man müsse noch immer von »zwei Spaniens« ausgehen. Auf der einen Seite gebe es ein sehr konservatives, auch durch Machismo geprägtes Land, auf der anderen Seite ein sehr progressives Spanien, das im internationalen Vergleich in Bezug auf Frauen- und Minderheitenrechte eine Vorreiterrolle einnehme.

Die Spielerinnen solidarisieren sich mit Hermoso, die linke spanische Regierung attackiert Rubiales scharf. Dessen Mutter tritt in den Hungerstreik, um die Hetzjagd zu beenden. – Doch Mama hat umsonst gedarbt, inzwischen hat Rubiales seinen Rücktritt angekündigt.

Das System im Umfeld Till Lindemanns

Till Lindemanns Anwälte waren sehr fleißig und beantragten mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg Unterlassungsverfügungen beim Landgericht Hamburg. Über Lindemanns juristische Erfolge erfolgte eine breite mediale Berichterstattung. Ich möchte an dieser Stelle ein besonderes Augenmerk auf die juristischen Schlappen legen, die Lindemann und seine Anwälte hinnehmen mussten:

Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« hat gemäß einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 14. Juli 2023 (Az. 324 O 228/23) zwar in Teilen seiner Berichterstattung die Persönlichkeitsrechte Till Lindemanns verletzt. In Teilen bejaht die Kammer des Landgerichts jedoch ausdrücklich »ein Überwiegen des Berichterstattungsinteresses der Antragsgegerin«, [womit der Spiegel gemeint ist], da es »unstreitig im Umfeld des Antragstellers [gemeint ist Till Lindemann] ein System gab, bei dem im Vorfeld von Konzerten Teilnehmende für die Partys und die ›Row Zero‹ ausgewählt wurden, welche sich vorab per Fotos und Videos beworben hatten und bei denen auch auf das Outfit geachtet wurde (…). Dass eine Band ein solches System unterhält, ist ein Vorgang von hohem öffentlichen Interesse, der besonders bemerkenswert ist.«

Die öffentliche Debatte über dieses »System« hat Shelby Lynn (24) ins Rollen gebracht. Sie ist seit ihrem 15. Lebensjahr Rammstein-Fan. Nach dem Besuch des Konzertes in Vilnius hatte sie Tweets abgesetzt, gegen die Till Lindemann ebenfalls gerichtlich vorging und eine Unterlassungsverfügung beantragen ließ. Das Landgericht Hamburg wies dieses Ansinnen am 15. August 2023 zurück (Aktenzeichen 324 O 256/23). Ich zitiere aus dem Beschluss:

»In ihren Tweets vom 25.05.2022 (…) schildert die Antragsgegnerin [gemeint ist Shelby Lynn], dass sie auf der Pre-Party zunächst zwei Drinks zu sich genommen habe, einen Wodka-Red Bull und einen Prosecco. Später habe T. L. allen anwesenden Frauen einen Tequila-Shot ausgeschenkt. Kurze Zeit darauf habe sie sich wie ein menschlicher Zombie gefühlt und habe gesungen, getanzt, sei gestolpert und gestrauchelt (“I’m like a human zombie, singing dancing, but also stumbling tripping“). Nachdem sie einige Zeit später unter erheblichen Schwierigkeiten zurück in ihr Hotelzimmer gelangt sei, sei sie lange Zeit wach und unter dem Einfluss gewesen von Was-auch-immer ihr verabreicht worden sei (“I stay awake the entire day and night into the next day, still on whatever I was drugged with“); sie habe sich nicht aus dem Bett bewegen können ohne zusammenzubrechen, habe erbrochen und Durchfall gehabt (“I can’t even move from my bed without collapsing, I’m vomiting, diarrhoea“).«

Till Lindemanns Anwälte von der Kanzlei Schertz/Bergmann werten das Urteil dennoch als Erfolg für ihren Mandanten und begründen dies in einer Presseerklärung vom 17.8.23 folgendermaßen:

»Wir hatten für Till Lindemann beantragt, Shelby Lynn die Behauptung zu untersagen, ihr seien anlässlich eines Rammstein-Konzerts in Vilnius Drogen in den Drink gemischt worden. Im Verfahren hat sie sich mit dem Argument verteidigt, sie habe unseren Mandanten mit ihren über twitter und Instagram verbreiteten Äußerungen persönlich gar nicht beschuldigt. (…) Diese Argumentation hat das Landgericht Hamburg aufgegriffen und den Verfügungsantrag mit der Begründung zurückgewiesen, Shelby Lynn habe keinen Verdacht zulasten unseres Mandanten geäußert, sondern (…) lediglich eine wertende Schlussfolgerung gezogen, die unseren Mandanten nicht in seinem Persönlichkeitsrecht verletze. (…)«

Die Anwälte legen also großen Wert darauf, dass Shelby Lynn den Musiker »persönlich gar nicht beschuldigt« habe, ihr etwas in den Drink gemischt zu haben. Das scheint ein strafrechtlich relevanter Punkt zu sein, denn – so führen die Anwälte weiter aus – »dies dürfte Auswirkungen auf das derzeit noch bei der Staatsanwaltschaft Berlin anhängige Ermittlungsverfahren haben«. Diese Prophezeiung der Kanzlei Schertz/Bergmann erwies sich als zutreffend.

 Al Capone: Verfall der Macht

Thesab: »Al Capones Zelle in der Eastern State Penitentiary« mit CC BY-SA 4.0-Lizenz via Wikimedia Commons.

1929 wurde Alphonse Capone in Philadelphia wegen Waffenbesitzes festgenommen und zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Zunächst wurde er  in einem berüchtigten Gefängnis in Holmesburg inhaftiert, dank einflussreicher Verbündeter erfolgte nach kurzer Zeit die Verlegung ins Eastern State Penitentiary in Pennsylvania. Die Gefängniszelle verrät einiges über Capones Vorliebe für gut erhaltene Antiquitäten. Aus der Haft führte er seine Geschäfte fort und wurde nach zehn Monaten ironischerweise wegen guter Führung entlassen.

Al Capones Gefängniszelle im Eastern State Penitentiary symbolisiert gleichzeitig den Fortbestand und den beginnenden Verfall seiner Macht. Die komfortable Position, die er sich durch Bandenkriege in den 1920er-Jahren in Chicago erkämpft hatte, währte nicht lange und wurde bereits in den 1930er-Jahren brüchig. Die staatlichen Behörden entfalteten einen hohen Verfolgungsdruck. Zunächst fügten sie Capones Verbrecher-Syndikat durch Razzien nur finanziellen Schaden zu, was seine Position in der Unterwelt geschwächt haben dürfte. Als entscheidend erwies sich die Kooperation von Finanz- und Polizeibehörden. Im Oktober 1931 wurde der Mafiaboss wegen Steuerhinterziehung (!) zu einer Geldstrafe und Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Zunächst führte er wiederum aus der Haft seine Geschäfte weiter, das wurde durch eine Verlegung in das Hochsicherheitsgefängnis von Alcatraz unterbunden. Die Macht des Mafiabosses war gebrochen.

Die juristischen Verfahren gegen Rubiales, Trump und Lindemann

Die rechtliche Aufarbeitung der drei Fälle gestaltet sich unterschiedlich. Der königlich spanische Fußballverband hatte sich hinter Rubiales gestellt und vier Fotos veröffentlicht, die die Einvernehmlichkeit des Kusses beweisen sollen. Außerdem kündigte der Verband Klagen an, um die »Ehrenhaftigkeit« des Herren Präsidenten zu verteidigen. Das Sportgericht beschäftigte sich mit dem Kuss und eröffnete gegen Rubiales kein Verfahren wegen »sehr schweren Fehlverhaltens«, sondern nur eines wegen »schweren Fehlverhaltens«. Nach Jennifer Hermosos Anzeige nimmt der Fall gerade richtig Fahrt auf.

Die Staatsanwaltschaften in Georgia, New York und auch der Sonderermittler Jack Smith entfalten zweifellos einen hohen Verfolgungsdruck gegen Donald Trump. Dass sein ehemaliger Vize Mike Pence sich von ihm abgesetzt hat und in den Prozessen wohl gegen ihn aussagen möchte, könnte Don(ald) juristisch allerdings in eine brenzlige Situation bringen …

Mau-Mau

Der Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke hat die Presseerklärung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Till Lindemann unter die Lupe genommen. Die Ermittlungsbehörde geht unter anderem auf die Angaben der YouTuberin Kyla Shyx ein und fährt fort: »Andere von der Zeugin [gemeint ist Kyla Shyx] benannte Personen (…) konnten auch durch die weiteren polizeilichen Ermittlungen nicht namhaft gemacht werden. Eine unmittelbare Vernehmung war daher nicht möglich.« Solmecke kritisiert die Berliner  Generalstaatsanwaltschaft sehr deutlich:

»Mit anderen Worten, hier wird gesagt: ›Ja, da können noch andere gewesen sein, aber wir haben die nicht gefunden.‹ Und das ist das, was mich so ein bisschen wundert. Das heißt, hier steht noch massig was im Raume, auch in den Medien ist was erhoben worden, aber die sind alle nicht gefunden worden oder haben nie ausgesagt. Und das … das kann ich seitens der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen. Dass man da nicht mehr gebohrt hat und gesagt hat: ›OK, die packen wir uns jetzt mal. Die kriegen wir und dann sagen wir: ›Okay, die waren nicht glaubwürdig oder die wollten sich aufspielen.‹‹ Hätt’ ja sein können (…). Aber nö, mit denen gar nicht zu sprechen und zu sagen: ›Tja, sind wir einfach nicht rangekommen …‹,  find’ ich persönlich ein bisschen schlapp.«

Außerdem heißt es in der Presseerklärung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft:

»Der in der Presseberichterstattung dargestellte Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen über eine junge Frau, die vermeintlich als 15-Jährige (kurz vor Vollendung des sechzehnten Lebensjahres) eine sexuelle Beziehung mit dem Beschuldigten eingegangen sein will, konnte ebenfalls nicht erhärtet werden. Denn auch diese Zeugin blieb anonym und konnte deshalb nicht vernommen werden.«

Selbst Solmecke ringt bei seiner Bewertung dieses Abschnitts hörbar um die richtige Wortwahl und landet bei einem bekannten Kartenspiel:

»Und das, liebe Leute, ich meine, die Medien haben gesagt, es war die beste Freundin … der Tochter eines Bandmitglieds. Das stand ja so in den Medien. Und die konnte man nicht finden? Also das wundert mich jetzt einfach. Also das find ich echt…  Das ist mir zu mau, muss ich sagen, das ist mir jetzt zu mau: ›Haben wir nicht gefunden, die 15jährige!‹ Alle haben die gefunden, haben mit ihr gesprochen. Die Medien haben mit ihr gesprochen. Die Staatsanwaltschaft Berlin findet die nicht.«

Die gesellschaftliche Verankerung der Alphamännchen

Der Fall Al Capone zeigt die hohe Bedeutung des Verfolgungsdrucks, den staatliche Institutionen entfalten können. Ich finde es auch bemerkenswert, dass die Macht des Alphamännchens Capone auf einflussreichen Unterstützern und einer Verankerung in der Breite der Bevölkerung beruhte: In Chicago gab es starke Vorbehalte gegen das staatliche Alkoholverbot, die Prohibition, die Al Capone gewerblich aushebelte. Außerdem war Alphonse Capone ein Selbstdarsteller, pflegte im Gegensatz zu anderen Gangstern einen lockeren Umgang mit der Presse und lächelte gerne in Kameras. All das brachte ihm viele Sympathien ein, so dass sich der Mafiaboss auf dem Höhepunkt seiner Macht sogar einer gewissen öffentlichen Anerkennung erfreuen konnte. – Ab 1930 kippte die Stimmung. Al Capone wurde von der Presse nur noch als Staatsfeind bezeichnet. Eineinhalb Jahre später saß er hinter Schloss und Riegel.       

Gerichtsverfahren verengen den Fokus der Debatte

Haben die drei Alphatiere ihre Macht missbraucht? Haben sie um sich herum ein System von willfährigen Handlangern aufgebaut? Und falls ja, ist dieses System toxisch? In diesen Fragen der Moral, des Respekts und sozialen Miteinanders herrscht weder bei Trump noch bei Rubiales oder Lindemann gesellschaftlicher Konsens. Das verwundert nicht. Denn Alphamännchen fallen nicht von Himmel. Sie entsteigen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, reflektieren deren Einstellungen und verkörpern deren Ideale. Ohne diesen Rückhalt droht den Leitfiguren jederzeit der Absturz in die soziale Bedeutungslosigkeit.

Mit Blick auf Trump, Rubiales und Lindemann ist zu sagen, dass sich jeder der drei derzeit auf eine solide gesellschaftliche Unterstützung verlassen kann: Während Shelby Lynn in den so genannten sozialen Medien mit Shitstorms überzogen wird, füllt Till Lindemann mit seiner Band wie eh und je die Konzerthallen. Der spanische Fußballverband ist ebenso machista wie weite Teile der spanischen Gesellschaft. Und Donald Trump ist auf dem sicheren Weg zu seiner dritten Präsidentschaftsnominierung durch die »Grand Old Party«.

Drei Leitbullen sind ins Fadenkreuz der Justiz geraten, und die Medien stürzen sich auf jedes Infohäppchen. Bei diesen Spektakeln gerät die Berichterstattung über die Machtbasis der Alphatiere, ihren sozialen Nährboden oft ins Hintertreffen. Die juristische Perspektive verengt alles auf die Frage, ob nachweisbar gegen geltendes Recht verstoßen wurde. Doch das greift viel zu kurz.

Mythos »Al Capone«

Alphonse Capone mordete zum ersten Mal als junger Mann, machte mit Alkohol, Glücksspiel, Schutzgelderpressung und Prostitution ein Vermögen.  Als sein Stern zu sinken begann, verschaffte er sich Respekt, indem er bei einem Mafia-Bankett illoyale Gefolgsmänner effektvoll mit einem Baseballschläger niederschlug und sie anschließend erschießen ließ. Er war machthungrig und skupellos. Mit seinem Mafia-Syndikat verbreitete er Angst, Schrecken und Gewalt.

Dennoch wurde Alphonse Capone nach seinem Tod glorifiziert. Um den Mobster entstand ein Mythos, unzählige Spielfilme stilisierten ihn zum Sinnbild des virilen Mafiosos im Nadelstreifenanzug und erzählen die Geschichte des Gangsters als dunkle Version des amerikanischen Traums. Capone verkörpert bis heute Werte wie Eleganz, Loyalität und Durchsetzungsstärke. Als wichtiger Referenzpunkt des Gangsta-Rap ist seine Strahlkraft als männliches Rolemodel bis heute ungebrochen, im Karneval ist das Klischee seines Outfits nach wie vor beliebt. Noch heute werden unter Al Capones Namen Zigarillos verkauft. In einer aktuellen ZDFinfo-Dokumentation schwärmt seine Großnichte von seinem ausgeprägten Familiensinn.

Der Weg in eine Welt jenseits toxischer Männlichkeit ist noch weit.

Bildnachweis:

zdnet: »Puppentheater« via pixabay.

Thesab: »Al Capones Zelle in der Eastern State Penitentiary« mit CC BY-SA 4.0 – Lizenz via WikimediaCommons.

Links:

  • Anklageschrift gegen Donald Trump in Washington
  • Wikipedia-Artikel über Al Capone
  • ZDFinfo-Doku: Mafia Der Aufstieg von Al Capone.
  • Interview mit Antonia Blau vom Goethe-Institut Madrid
  • Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 14. Juli 2023 (Az. 324 O 228/23): siehe besonders Abschnitt 38
  • Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 15.August 2023 (Aktenzeichen 324 O 256/23): siehe besonders Abschnitt 5
  • Presseerklärung der Rechtsanwälte Schertz Bergmann zum Verfahren Till Lindemann gegen Shelby Lynn vom 17.8.23
  • Pressemitteilung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Till Lindemann
  • Rechtsanwalt Christian Solmecke kommentiert die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Lindemann

 

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