vonDarius Hamidzadeh Hamudi 27.09.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Dosenravioli werden nach zwei Jahren schlecht, ungekochte Nudeln halten theoretisch ewig, Personalausweise hingegen verlieren nach zehn Jahren ihre amtliche Ausweiskraft. Danach muss ein neues Foto her, seit 2010 muss es biometrisch sein. Die Vorgaben des Bundesinnenministeriums sind eindeutig: »Die Person muss mit neutralem Gesichtsausdruck und geschlossenem Mund gerade in die Kamera blicken.« Dann können innerhalb des Gesichtsfeldes Augen, Nase, Mund und ihre Position zueinander genau vermessen werden. Meine Fotografin stammte aus Italien, sie kannte die amtlichen Vorgaben hierzulande ebenso gut wie die europäische Kunstgeschichte. Vor der Aufnahme gab sie das Kommando:

»Und jetzt ganz leicht lächeln wie die Mona Lisa!«

Der Alte war ein Profi, doch seine Zeit ist abgelaufen

Zehn Jahre lang war mein biometrisches Abbild zwischen Bank- und Bahncard eingeklemmt gewesen. Unverdrossen hatte er mit neutralem Gesichtsausdruck aus dem Sichtfenster des Personalausweises in die Dunkelheit meiner wechselnden Portemonnaies geblickt.

Einmal hatte ich ihn nicht dabei und lief prompt vor den Augen des Gesetzes über eine rote Fußgängerampel. Das geschah an einem Sonntagmorgen. Die Straßen waren menschenleer, wenn da nicht etwas abseits dieses Polizeiauto gestanden hätte. Ich wurde ’rangewunken und konnte mich nicht ausweisen. Mit einer polizeilichen Anordnung wurde ich nach Hause geschickt. – Unterwegs malte ich mir aus, wie die skeptischen Blicke des Ordnungshüters zwischen dem realen Darius in Sportkleidung und meinem biometrischen Doppelgänger im Rollkragenpullover hin- und herspringen würden. Sollte der Uniformierte getrost innerhalb unserer Gesichtsfelder Augen, Nasen, Münder und ihre Position zueinander vermessen. Wir hatten nichts zu verbergen. – Als ich wenig später etwas außer Atem die handliche Karte übergeben wollte, hatte der Vertreter der exekutiven Staatsgewalt das Interesse daran verloren. Auch die Girocard hätte ich nicht gebraucht. Er ließ mich ohne Bußgeld laufen.

Abgesehen von dieser Ausnahmesituation war mein treuer Begleiter vor allen Dingen damit beschäftigt gewesen, dienstbeflissenen Zugbegleitern meine Identität nachzuweisen. Während der Pandemie hatte ich konsequent auf Bargeld verzichtet. Wegen des ausbleibenden Raschelns hatte er sich daher immer größere Sorgen gemacht, aber stets die Contenance bewahrt. Er war ein absoluter biometrischer Profi, dennoch war seine Zeit abgelaufen.

Rätselspiel

Für Führerschein und Ausweis schnitt mir die Fotografin zwei Bilder zu. Die verbliebenen sechs Konterfeis meiner selbst blickten mich aus dem Fotoraster an und lächelten geheimnisvoll. Ich legte meinen alten Perso daneben und verglich die biometrischen Fotos. Zehn Jahre Zukunft hatten sich in Vergangenheit verwandelt, aus Absichten und Plänen waren Erfahrungen geworden. Das Ganze erinnerte mich an ein Rätselspiel aus meiner Kindheit: Finde zehn Fehler. Welchen Irrtümern war der Jüngere aufgesessen? Mit welchen Projekten ist er gescheitert, welche kann der Ältere als Erfolg in seinem Lebenslauf verbuchen? Welche Ideale hat der Ältere sich aus dem Kopf geschlagen … schlagen müssen, angesichts schlechter Erfahrungen oder vermeintlicher Sachzwänge? Und handelt es sich überhaupt noch um dieselbe Person? – Der augenfälligste Unterschied zwischen beiden Aufnahmen war das leise Lächeln.

In der Tiefe der verfallenen Tage

Während ich im Bürgeramt darauf wartete, dass meine Nummer angezeigt wurde, schlug ich in der Wikipedia die Seite der Mona Lisa auf. Die Kunstgeschichte rätselt seit Jahrhunderten über ihre Identität: Handelt es sich um Lisa del Gioconda, Isabella d‘Este oder Pacifica Brandani, die Geliebte eines unehelichen Sohnes von Giuliano di Lorenzo de‘ Medici? Auch Isabella von Aragonien und Caterina Sforza kommen in Betracht. Oder hat Leonardo gar seinen Adoptivsohn Andrea Salaino Florentine gemalt – in Frauengestalt? Mithilfe moderner Gesichtserkennungssoftware müsste es doch möglich sein, innerhalb ihres Gesichtsfeldes Augen, Nase, Mund und ihre Positionen zueinander zu vermessen und das Resultat mit den Bildnissen der fraglichen historischen Persönlichkeiten abzugleichen. Ich las noch mehr über die Besonderheiten des Gemäldes, besonders gut gefiel mir das Zitat des englischen Essayisten Walter Horatio Pater: Die Mona Lisa trage die Tiefe der verfallenen Tage in ihrem Gemüt. – Liegt darin das Geheimnis ihres Lächelns?

Die Sachbearbeiterin forderte mich auf, meine Fingerabdrücke abzugeben. Dann hielt sie das Foto hoch, blickte auf meinen alten Ausweis und sah zu mir herüber. »Sie haben sich aber gut gehalten.« Ich konnte mir das nicht erklären, schließlich sah ich älter aus als vor zehn Jahren. Vielleicht lag es am Mona-Lisa-Faktor :-).

 

Bildnachweis:

eigene Bildcollage unter Verwendung von Leonardo da Vinci: La Gioconda, Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Weiterer Link:

Fotomustertafel für biometrische Passbilder des BMI.

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