Sommer 2012. Während auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise die europäischen Staats- und Regierungschefs hitzig über Rettungsschirme diskutierten, wurde an den Finanzmärkten emsig auf die Instabilität der hochverschuldeten Südländer gewettet. Die Risikoaufschläge für Staatsanleihen kletterten und damit auch die Refinanzierungskosten. Kündigte sich eine Staatspleite an? War der Euro am Ende?
Im Kern ging es in jenem Sommer 2012 um Vertrauen: Würden alle Euro-Länder ihre Staatsschulden bedienen können? – In dieser historischen Krisensituation im Juli 2012 packte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi seine Bazooka aus und erklärte bei der Global Investment Conference in London:
»Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.«
»Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.«
Die Europäische Zentralbank sprang in die Bresche und machte den versammelten Investor:innen unmissverständlich klar, dass sie am kürzeren Hebel saßen und es sich nicht lohnen würde, auf einen Staatsbankrott in Südeuropa zu spekulieren. Dank Draghis Kriseninterverntion beruhigten sich die nervösen Märkte wieder und einige Wochen später, im September 2012, waren dann auch die Staats- und Regierungschefs soweit: Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) trat in Kraft, die politische Antwort auf die Staatsschuldenkrise. Die Mitgliedsländer verpflichteten sich vertraglich, im Krisenfall den immensen Betrag von 700 Milliarden aufzubringen, um die Zahlungsfähigkeit jedes einzelnen Eurolandes sicherzustellen.
Erkenntnisse aus der Eurokrise
Ludwig Erhard wird das Zitat »Wirtschaft ist zu 50% Psychologie« zugeschrieben. Stimmungen und Erwartungen können sich gegenseitig verstärken und im Extremfall eine Eigendynamik in Gang setzen. Überschießende Reaktionen und Übertreibungen sind keine Seltenheit, aber staatliche Institutionen können durch entschiedene Maßnahmen zerstörerische Abwärtsspiralen stoppen. Allein die staatliche Zusage, im Bedarfsfall hohe Geldbeträge abrufbar zur Verfügung zu stellen, kann das Wirtschaftsgeschehen nachhaltig stabilisieren.¹ Einen gigantischen Geldhaufen aufzutürmen wirkt wie ein Paukenschlag und dreht die Stimmung. Außerdem hat die Eurokrise gezeigt, dass in ökonomischen Krisensituationen der Faktor Zeit eine wichtige Rolle spielt. Die Suche nach politischen Kompromissen kann jedoch lange oder sogar zu lange dauern, vor allem wenn die politischen Grundüberzeugungen der beiteiligten Akteure weit auseinanderliegen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse
Das Bundesverfassungsgericht stützt sein Urteil zur Schuldenbremse auf »drei, jeweils für sich tragfähige Gründe« und formuliert somit Maßstäbe, an denen notlagenbedingte Kreditaufnahmen sich fortan messen lassen müssen. Unter anderem stellt das BVG fest, dass die Einhaltung der Haushaltsprinzipien der Jährigkeit und Jährlichkeit auch für notlagenbedingte Kreditaufnahmen gilt: Der Grundsatz der Jährigkeit besagt, dass die im Haushaltsplan erteilten Ermächtigungen nur für die Dauer des Haushaltsjahres gelten, das im Haushaltsgesetz ausbuchstabiert wird. Der Haushaltsgrundsatz der Jährlichkeit macht es erforderlich, im Jahrestakt über die Mittelverwendung zu entscheiden und jedes Jahr einen neuen Haushalt zu erstellen.
Das Bundesverfassungsgericht untersagt künftig »die zeitliche Entkoppelung der Feststellung einer Notlage (…) vom tatsächlichen Einsatz der Kreditermächtigungen«. Kreditermächtigungen, die zur Bekämpfung von »außergewöhnlichen Notsituationen« (§115 Grundgesetz) beschlossen werden, sind demzufolge gemäß den Prinzipien der Jährigkeit und Jährlichkeit an das Haushaltsjahr der außergewöhnlichen Notlage gebunden und verfallen an dessen Ende. Diese enge Auslegung der Schuldenbremse nimmt der Regierung die Möglichkeit, durch die Aufschichtung eines beeindruckenden Fondsvermögens eine krisenbedingte Nervösität in der Wirtschaft zu beruhigen und neues Vertrauen herzustellen, indem Unternehmen, Banken und privaten Haushalten nicht nur für die Laufzeit eines Haushaltes, sondern auch mittelfristig ein Stück Planungssicherheit gegeben wird.
Das Ende von »Wumms« und »Bazooka«
Nach dem BVG-Urteil muss die schuldenfinanzierte Krisenbekämpfung also im selben Haushaltsjahr erledigt sein, in dem die außergewöhnliche Notsituation aufgetreten ist. Eine mehrjährige Bekämpfung der Folgen einer außergewöhnlichen Notsituation durch Kredite wäre also ohne Änderung der Schuldenbremse nur möglich, wenn eine solche außergewöhnliche Notsituation Jahr für Jahr durch den Bundestag erneut festgestellt werden würde. Dabei gibt es drei Haken:
Erstens geht die psychologische Signalwirkung einer kraftvollen und entschiedenen staatlichen Krisenintervention verloren, wenn statt Mario Draghis Bazooka nur noch Knallfrösche gezündet werden dürfen. Zweitens erfordert die Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation politische Mehrheiten, die auf absehbare Zeit aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag keineswegs selbstverständlich sind. Eine zeitaufwändige Konsens- und Kompromisssuche steht jedoch im Widerspruch zu schneller und entschiedener Krisenpolitik. Drittens unterliegt die Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation »vollumfänglicher verfassungsgerichtlicher Prüfung«. Bei notlagenbedingten Kreditaufnahmen möchte Karlsruhe künftig zwar nicht mitregieren, aber doch vollumfänglich prüfen.
Der Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Haushalten
2009 wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. 2008 bemühte Angela Merkel beim CDU-Parteitag das Bild der schwäbischen Hausfrau, um für sparsames Wirtschaften zu werben. Damit setzte sie implizit private und öffentliche Haushaltsführung gleich. Das ist jedoch in mehrfacher Hinsicht sinnwidrig:
Ein Staat kann die eigenen Einnahmen und Ausgaben völlig anders steuern als ein privater Haushalt, außerdem unterscheiden sich sowohl die Zielsetzung als auch die zeitliche Perspektive des privaten und öffentlichen Haushaltens stark voneinander. Der schwäbischen Hausfrau geht es darum, durch Reduktion von Kosten und sparsames Wirtschaften mit ihrem Budget bis zum Monatsende über die Runden zu kommen und vielleicht sogar noch etwas auf die hohe Kante zu legen. Wirtschaftspolitik verfolgt hingegen zeitlich eine viel längere Perspektive. Sie darf sich nicht in Kostenreduktion und Rücklagenbildung erschöpfen, sondern muss viele Faktoren im Blick behalten (Konjunktur, Arbeitslosigkeit, Außenwirtschaftspolitik …) und durch weitsichtige strategische Entscheidungen günstige Rahmenbedingungen für das Florieren des Wirtschaftsstandorts schaffen.
»Whatever-it-takes«? – nicht mit dieser Schuldenbremse!
In Krisensituationen braucht es den Mut und die Entschlossenheit von Mario Draghis »Whatever-it-takes«. Das kleinkarierte Pochen des Bundesverfassungsgerichts auf Jährlichkeit und Jährigkeit bei notlagenbedingter Kreditaufnahme stellt eine unerwartet strenge Auslegung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse dar. Der kurze Planungshorizont erinnert ebenso fatal an das von Merkel ausgegebene Leitbild der schwäbischen Hausfrau wie die Betonung von Sparsamkeit. Eine derart kleinliche Wirtschaftspolitik ist gänzlich ungeeignet, um den Akteur:innen des Wirtschaftslebens in außergewöhnlichen Notlagen ihr Vertrauen zurückzugeben.
Somit geht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vollständig an den aktuellen politischen Gegebenheiten und ökonomischen Erfordernissen vorbei. Die Bundesregierung wird an die kurze Leine genommen und erhält nicht den fiskalpolitischen Spielraum, der für eine langfristige, wirkungsvolle Bekämpfung einer außergewöhnlichen Notlage notwendig wäre.
Neuregelung der Schuldenbremse notwendig
Die harte Interpretation der Schuldenbremse durch das Bundesverfassungsgericht offenbart die Notwendigkeit, das Grundgesetz im Hinblick auf Kreditaufnahmen während außergewöhnlicher Notlagen zu ändern. Die jetzige und alle künftigen Bundesregierungen sollten in außergewöhnlichen Notsituationen über die Option verfügen, etwaige Krisenkredite auch über die Grenzen von Haushaltsjahren hinweg mobilisieren zu können. Das ist eine Frage von enormer politischer Bedeutung, die aus dem Klein-Klein des politischen Tagesgeschäfts herausragt. Keine demokratische Partei kann ein Interesse daran haben, dass der Staat in Krisenzeiten nicht hinreichend handlungsfähig ist.
Fußnote
¹2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, traten Angela Merkel und Peer Steinbrück vor die Kameras und garantierten für die Sicherheit von Spareinlagen: »Die Sparer haben nichts zu befürchten.« Ein Schaltersturm (»bank run«) wurde dadurch verhindert.
Links
Pressemitteilung Nr. 101/2023 vom 15. November 2023 des Bundesverfassungsgerichts.
Wikipedia-Artikel über Mario Draghis »Whatever it takes«.
Wikipedia-Artikel über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM.
Zeit-Artikel über den CDU-Parteitag 2008 (Stichwort: »Schwäbische Hausfrau«)
Bildnachweis
- eigene Zeichnung
- geralt: Gegensätze via Pixabay.
“ Diese enge Auslegung der Schuldenbremse nimmt der Regierung die Möglichkeit, durch die Aufschichtung eines beeindruckenden Fondsvermögens eine krisenbedingte Nervösität in der Wirtschaft zu beruhigen und neues Vertrauen herzustellen, indem Unternehmen, Banken und privaten Haushalten nicht nur für die Laufzeit eines Haushaltes, sondern auch mittelfristig ein Stück Planungssicherheit gegeben wird. […] Somit geht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vollständig an den aktuellen politischen Gegebenheiten und ökonomischen Erfordernissen vorbei. Die Bundesregierung wird an die kurze Leine genommen und erhält nicht den fiskalpolitischen Spielraum“
Mag sein, dass der Autor die Einengung der Möglichkeiten der aktuellen Regierung bedauert, aber im Kern ist dieser Gedanke des Bundesverfassungsgerichts absolut richtig und wichtig. Es erhält nämlich den Souverenitätsspielraum zukünftiger Regierungen. Wie der Autor absolut richtig darstellt, können sich politische Mehrheiten ändern. In diesen Fällen wäre es absolut fatal, wenn eine aktuelle Regierung durch Festlegung haushalterischer Maßnahmen die Republik über Jahre – im Fall des KTF – für Jahrzehnte prägen kann, selbst dann, wenn die die Regierung tragenden Parteien längst abgewählt wurden.
Gerade deshalb ist die jährliche Neufeststellung der Notlage durch das Parlament richtig und wichtig. Wie man insbesondere an der Umwidmung der Corona-Hilfskredite sehen kann ist ggf. am Ende der Notlage noch Geld da, welches nicht verbraucht wurde. Werden Mittel aber zweckgebunden gegeben, darf man diese Mittel nicht zweckentfremden. Im Bereich der normalen Gesellschaft ist eine Zweckentfremdung zur Verfügung gestellter Gelder entweder als Betrug oder Unterschlagung regelmäßig strafbar. Im politischen Bereich daher absolut konsequent verfassungswidrig.