vonDarius Hamidzadeh Hamudi 30.10.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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August 2023. Zwei Männer aus Niederbayern fahren zum Bergsteigen in den Pinzgau. Die beiden wollen hoch hinaus, das Ziel der Wanderung ist das Ingolstädter Haus, 2119 Meter über dem Meeresspiegel. Für einen von ihnen ist es erhebend, in den Alpen unterwegs zu sein, sein Blick schweift in die Ferne. Doch der andere (64) schwächelt. Für ihn wird die Tour zur Tortur. Hat er sich überschätzt? 1453 Höhenmeter muss er bezwingen und beißt die Zähne zusammen. Er schleppt sich bis zum Zustieg zum Ingolstädter Haus, doch dann unterliegt der Wille dem Körper. Dabei fehlen nur noch 169 Höhenmeter.

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Schön wäre es, wenn dies eine Geschichte über Solidarität und Mitmenschlichkeit wäre, wenn die beiden sich gegenseitig aufgemuntert und es zusammen in die Hütte geschafft hätten. Denn in Wahrheit kam es anders: Tatsächlich zog der fitte Bergsteiger seine Tour alleine durch. Im Ingolstädter Haus angekommen, legte er sich schlafen. Der erschöpfte Wanderer blieb alleine zurück, wurde aber zum Glück gefunden. Der Bergrettung gelang es in einem 16stündigen Einsatz, ihn in Sicherheit zu bringen. Epilog: Der Hüttenwirt des Ingolstädter Hauses weckte den fitten Wanderer auf und fragte, warum er seinen Begleiter im Stich gelassen hatte. Doch der hatte kein schlechtes Gewissen und meinte lapidar, der andere »hätte alleine zurechtkommen müssen«.

Das unternehmerische Selbst

»Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen«, verkündete Gerhard Schröder im März 2003 im Bundestag. Die Hartz-Gesetze traten in Kraft. Beschäftigung wurde dereguliert und die Ich-AG geboren. Der neoliberale Zeitgeist stand im Zenit. Die anstehenden Probleme wurden den Kräften des Marktes überlassen und Steuern gesenkt. Bis heute werden hohe Kapitaleinkünfte niedriger besteuert als Arbeitslöhne. »Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft«, gab Gerhard Schröder 2001 der Bildzeitung zu Protokoll. Lehrer bezeichnete er als »faule Säcke«. Nahm er die Entsolidarisierung der Gesellschaft nur billigend in Kauf oder trieb er sie aktiv voran? Erst mit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers geriet der ungebrochene Marktoptimismus ins Wanken. Bis dahin sollten noch einige Jahre ins Land gehen.

2007 beschrieb der Soziologe Ulrich Böckling das Leitbild des unternehmerischen Selbsts. Die Maxime lautet: Handle unternehmerisch! Damit verbunden ist eine radikale Individualisierung. Die Verantwortung für das eigene Leben wird alleine dem Einzelnen zugeschrieben. Man glaubt nur an den Markt und an sich selbst. Die eigene Person wird als Humankapital gedacht, aus dem durch Selbstoptimierung das meiste herausgeholt werden muss. Kosten werden optimiert, Synergien gehoben, Erträge maximiert. Kamel und Kameltreiber verschmelzen in der Ich-AG.  Jede:r steht permanent im Wettbewerb und muss sich gegen die Konkurrenz behaupten. Ob es Zufall ist, dass Ego-Shooter-Computerspiele und Ratgeberliteratur in diesen Jahren florierten?

Mitte-Studie: ca. 28 Millionen (!) mit marktförmigem Weltbild

Mitte der Siebziger Jahre begann sich der naive Marktoptimismus durchzusetzen und prägte das Denken mehrerer Generationen. In den 90ern kamen einige Schüler mit Aktenkoffern in die Klasse und sahen aus wie kleine Geschäftsmänner. Das neoliberale Versprechen lautet: »Wer sich anstrengt, beständig optimiert und an den Markt anpasst, hat Erfolg. Du hast es selbst in der Hand.« Die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat im Rahmen der neuen Mitte-Studie solche Denkmuster untersucht. Ein Drittel der Befragten der repräsentativen Stichprobe weisen ein marktförmiges Weltbild auf, hochgerechnet auf die bundesdeutsche Bevölkerung sind das ungefähr 28 Millionen (!) Menschen.

Krisenhafte Zeiten erfordern Solidarität und Gemeinsinn. Nach einem Flugzeugabsturz oder Schiffbruch suchen Menschen fast instinktiv nach anderen Überlebenden. Selbstverständlich haben nach dem Zweiten Weltkrieg alle zusammen die Trümmer weggeräumt. Ohne staatliche Unterstützung wären weder Lufthansa noch Commerzbank heute noch selbstständige Unternehmen … Doch was tun Menschen mit Ich-AG-Mindset, wenn sie wirtschaftlich in die Bredouille kommen und von sozialem Abstieg bedroht sind? Die Mitte-Studie rechnet beinahe 20 Prozent der Befragten zu diesem Personenkreis und bezeichnet sie etwas sperrig als »Entsichert Marktförmige«.

Falsche Verheißungen münden oft in Verunsicherung, Scham und Groll

Der Neoliberalismus verspricht allen, die sich genug anstrengen und anpassen, steigenden Wohlstand, Freiheit und Selbstverwirklichung. Diese Verheißungen haben sich während der jüngsten Krisen als Lüge entpuppt. Selbstoptimierer, die sich mit unternehmerischen Tugenden wie Flexibilität, Innovation und Wettbewerbsorientierung identifizieren, können umdenken. Aber es ist nicht einfach, sich die eigene Verwundbarkeit einzugestehen und die Notwendigkeit von Solidarität und staatlichen Maßnahmen anzuerkennen. Deshalb halten viele entsichert Marktförmige an ihrem Weltbild fest.

Die unerwartete eigene Bedürftigkeit ist für Menschen mit Ich-AG-Mindset eine tiefe Kränkung. Sie investieren alles in ihre Karriere, denn Erfolg ist für sie identitätsstifend. Somit steht auch viel auf dem Spiel, sie gehen all-in. Deshalb müssen sie den drohenden Statusverlust als zutiefst ungerecht empfinden. Misserfolg ist schambesetzt und wird als Gesichtsverlust erlebt. Die Angst vor dem Scheitern sorgt für eine tiefe Verunsicherung und einen unterschwelligen, ungerichteten Groll.

Groll, Leistungsethik und Staatsskepsis: “ein zündfähiges Gemisch”

Ein Weltbild, das den Menschen die ausschließliche Verantwortung für das eigene Leben zuweist, lässt wenig Raum für die Idee der Solidarität. Wenn Unglück selbst verschuldet ist und Erfolg jederzeit durch Anstrengung, Selbstoptimierung und Anpassungsbereitschaft erzwungen werden kann, entfällt die moralische Verpflichtung, einander zu unterstützen. Denkt man diese Leistungsethik zu Ende, wäre Solidarität sogar schädlich, weil dadurch Motivation und Eigeninitiative erstickt werden würden. Außerdem kultiviert das neoliberale Denken eine Skepsis gegenüber dem Staat. Öffentliche Institutionen seien ineffizient und würden verkrustete Strukturen ausprägen. Der Staat wird nachgerade zum Gegenpol des innovativen, effizienten Unternehmens stilisiert, das sich flexibel an die Erfordernisse des Marktes anzupassen versteht.

Wenn Rechtspopulisten öffentliche Institutionen verächtlich machen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen Faulheit unterstellen, können sie mit ihren Parolen nahtlos an die Staatsskepsis und Leistungsethik der entsichert Marktförmigen anknüpfen. Außerdem gelingt es den Rechtsextremen nicht selten, den Groll der enttäuschten Marktoptimisten anzustacheln und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

Drei Zahlen aus der Mitte-Studie sollen die Dramatik der Forschungsergebnisse illustrieren: Fast drei Viertel (73%) der entsichert Marktförmigen stimmen autoritären Einstellungen zu, das sind Thesen wie »Wir sollten dankbar sein für führende Köpfe, die uns sagen, was wir tun sollen.«. 40% der frustrierten Selbstoptimierer teilen neurechte Orientierungen wie »Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie.« Und jede:r Fünfte der entsichert Marktförmigen weist ein geschlossen rechtsextremes Weltbild auf.

Neoliberaler Giftmüll überstrahlt die eigene Epoche

Auch wenn ein naiver Marktoptimismus mehr als eine Dekade nach der Finanzkrise als überholt gelten darf, haben die neoliberalen Jahrzehnte unverkennbar ihre Spuren hinterlassen: Mit der Schuldenbremse wurde die Idee eines schlanken Staates dauerhaft im Grundgesetz verankert. Im Zeichen der schwarzen Null wurden viele  Chancen vertan, die die Niedrigzinsphase geboten hätte. Das Bildungssystem wurde durch Kompetenzorientierung auf Verwertbarkeit getrimmt, das Gesundheitssystem durch die Fallpauschalen effizienter gestaltet. Vor allem prägt das überkommene Leitbild des unternehmerischen Selbsts hierzulande noch immer das Selbstverständnis vieler Menschen; Solidarität und Gemeinsinn sind also keineswegs selbstverständlich. Wenn die Märkte nervös werden, gehen sie auch mit ihren größten Bewunderern nicht gerade zimperlich um. Dies ist in Krisenzeiten besonders problematisch, da viele der grollenden entsichert Marktförmigen sich als empfänglich für demokratie- und menschenfeindliche Einstellungen erweisen.

Der Erfolg von Olaf Scholz’ Respekt-Kampagne offenbart eine gewisse Sehnsucht nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und Solidarität. Die Mitte-Studie belegt auch, dass sich noch immer eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung zu den demokratischen Grundprinzipien bekennt. Das ist tröstlich, scheint aber inzwischen leider nicht mehr selbstverständlich zu sein. – Wer verletzt auf der Zugspitze liegt, braucht heutzutage jedenfalls ein bisschen Glück, dass ausgerechnet ein solidarisch eingestellter Mensch vorbeispaziert. Es es sei denn, der oder die Hilfsbedürftige hat ein paar Scheine dabei, um marktüblich für den Notruf zu bezahlen.

 

Bildnachweis

Sander Sammy: »Mann in blauem T-Shirt und blauen Jeansshorts sitzt tagsüber auf Betontreppen« auf unsplash.

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kommentare

  • Was war es für mich befreiend, um die 20 herum, für alles was mir widerfährt, die Verantwortung bei mir zu suchen und nicht mehr beim „System“, wie in der alternativeren Jugendjahren zuvor. Rückblickend war die Haltung sicherlich überzogen weil man eben Glück und Pech haben kann, aber befreiend war es.
    Zur Subprime Krise: Sie war, wie viele grosse Wirtschaftskrisen, das Ergebnis staatlichen intervenierens in den Markt. In diesem Fall durch die Regierung Clinton, welche jedem US-Bürger einen Hauskredit ermöglichen wollte etc.

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