Suche nach Erklärungen
Die AfD hat zwei kommunale Stichwahlen gewonnen und erlebt in Umfragen einen Höhenflug. Die Suche nach Erklärungen hat begonnen: Die Ostdeutschen fühlen sich als Bürger:innen zweiter Klasse und begehren auf … Die AfD habe sich professionalisiert und verfüttere permanent mundgerechte (Des-)Informationshäppchen an ihre Sympathisant:innen … Die vielfältigen Krisen führen zu einer großen Verunsicherung … Der Streit der Ampel-Koalition missfällt den Wähler:innen … Olaf Scholz stellt die AfD-Erfolge in einen europäischen Kontext und spricht von »Schlechte-Laune-Parteien«. Doch all das greift zu kurz.
Der vermeintlich beruhigende Blick nach Frankreich
Gleichzeitig beherrscht ein anderes Thema die Schlagzeilen: In Frankreich wurde ein Jugendlicher von der Polizei erschossen … In den Vorstädten eskaliert die Gewalt … Öffentliche Gebäude brennen … In L‘Haÿ-les-Roses wird das Wohnhaus des Bürgermeisters angegriffen. – In Deutschland reiben viele Menschen sich die Augen: Was ist denn nun schon wieder in Frankreich los? Gab es da nicht gerade erst die Proteste wegen der Erhöhung des Renteneintrittsalters? Und wollte Sarkozy seine Vorstädte nicht mit dem Kärcher reinigen, bevor er wegen illegaler Wahlkampffinanzierung selbst zu drei Jahren Haft verurteilt wurde?
In der öffentlichen Debatte werden hierzulande die Unterschiede zu Frankreich betont: Gewalt habe bei unseren Nachbarn in der politischen Kultur traditionell einen anderen Stellenwert … In Frankreich gebe es keine Sozialpartnerschaft … Eine tiefe soziale Spaltung und Parallelgesellschaften sind kennzeichnend … Die Quintessenz lautet: Frankreich ist Frankreich, damit haben wir nichts zu tun. Bei uns herrscht sozialer Frieden.
Diese Analyse erstaunt: Die AfD konnte nicht nur zwei kommunale Regierungsämter besetzen, sondern errang im Osten bei der vergangenen Bundestagswahl mehrere Direktmandate. Sind diese wiederholten Erfolge nicht ein deutlicher Hinweis auf eine sich verfestigende soziale Spaltung? Ist die Ausgrenzung von Minderheiten und migrantischen Milieus etwas Anderes als eine Form sozialer Gewalt?
Die sich konsolidierenden rechtsextremen Strukturen und Milieus sind mehr als bloßer Protest. Der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger attestiert der AfD »rassistische, antisemitische und menschenfeindliche Positionen« und bezeichnet sie als »Radikalisierungskollektiv«. Weiterhin stellt er fest: »Die Wähler wollen diese Partei. (…) In Teilen der Gesellschaft haben sich bestimmte Positionen etabliert, die (…) mit demokratischen Prinzipien unvereinbar sind.« – Ist das rechtmäßige Amtieren eines mehrheitlich gewählten AfD-Bürgermeisters und eines mehrheitlich gewählten AfD-Landrates nicht sogar besorgniserregender als das illegale Anzünden eines öffentlichen Gebäudes?
Modernisierung: eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie
Die beiden Politikwissenschaftler Seymour M. Lipset und Stein Rokkan erklären die Entwicklung von Parteiensystemen anhand gesellschaftlicher Konfliktlinien, so genannter Cleavages, an denen sich die Parteien beim Kampf um die Gunst der Wähler formieren. Die wohl wichtigste Cleavage ist die zwischen »Arbeit« und »Kapital«. Das britische Parteiensystem bildet diese Konfliktkinie lehrbuchmäßig ab. Die Grünen haben zu Beginn der 1980er-Jahre die Cleavage »Ökologie | Postmaterialismus« versus »Ökonomie | Materialismus« aufgemacht. Vieles spricht dafür, die Konsolidierung der AfD mit einer neuen Cleavage zu erklären, die die Gesellschaft in Befürworter:innen und Skeptiker der Modernisierung unterteilt. Das Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus beschrieb bereits bei der Bundestagswahl 2017 diese »neue Konfliktlinie der Demokratie«.
Vielfach ist die Rede davon, die AfD würde den politischen Diskurs durch ihre rechte Identitätspolitik in Richtung eines Kulturkampfes verschieben. Doch die Modernisierungskritik der AFD reicht inzwischen weit über kulturelle Fragen hinaus und beschränkt sich auch längst nicht mehr auf die Ablehnung von Migration und europäischer Integration. Die AfD steht in vielen Fragen – auch in Bezug auf den Umwelt- und Klimaschutz – für »den Erhalt einer Welt (…), die es so nie gegeben hat.«, wie Thomas Krüger es formuliert. Außerdem stellt er fest: »Hier tritt eine Partei auf den Plan, die die anstehende Transformation ins 21. Jahrhundert systematisch denunziert.«
Die AFD schlägt aus Modernisierungsskepsis politisches Kapital
Die Modernisierung und der soziale und ökonomische Strukturwandel verlaufen tatsächlich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und bescheren auch vormals privilegierten Berufsgruppen wie beispielsweise Apotheker:innen unerwartete Wohlstandseinbußen. Generationen deutscher Männer haben davon geträumt, mit einem schnellen Fahrzeug über die Lande zu brausen (Stichwort: Freiheit) und die eigene Person durch einen Autokauf prestigeträchtig aufzuwerten. In Zeiten, in denen die Zersiedelung der Landschaft beklagt und über die Pendlerpauschale diskutiert wird, ist selbst das Einfamilienhaus am Stadtrand nicht mehr unumstritten. Da angesichts des Fachkräftemangels offensiv um Zuwanderung geworben wird und der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert werden soll, droht sogar die eigene Nationalität als identitätsstiftende Größe abhanden zu kommen.
Kurzum: Die Modernisierung stellt über Jahrzehnte bewährte Lebensstile und Träume sowie traditionelle Leitbilder und Identitätskonzepte quasi über Nacht ins Abseits und den Einzelnen vor die Herausforderung, sich neue Gewissheiten zu suchen. Der Politikwissenschaftler Moritz Kirchner führt aus, die AfD verkaufe eine Retrotopie, »also die Vorstellung, wieder in eine bessere Vergangenheit, die angeblich ohne diese ganzen Zumutungen war, hineinzukommen.« Wenn die Demoskopie nicht völlig daneben liegt, scheint die AfD in weiten Teilen der Bevölkerung damit einen Nerv zu treffen.
Oppositionspolitik der Unionsparteien: Wasser auf die Mühlen der AfD
Die CDU/CSU begegnet der Regierungspolitik der rot-grün-gelben Mehrheit, indem jede Veränderung zu einer nationalen Krise aufgebauscht wird: Die Abschaltung dreier AKWs bedrohte die nationale Energiesicherheit. Die zögerliche Lieferung von Waffen zerstörte Deutschlands Ansehen bei den Bündnispartnern. Und das Gebäudeenergiegesetz wurde wahlweise »als politische Prosa« oder »Heizungshammer« verunglimpft.
Anstatt, wie Ralf Fücks es der CDU empfiehlt, für »Sicherheit im Wandel« einzustehen und die Regierungspolitik aus konservativer Perspektive konstruktiv zu kritisieren, macht die Union alles madig, was die Ampel anpackt, und hätte deshalb die Bezeichnung »schlechte-Laune-Partei« eher verdient als die AfD. Mit dieser Politik stiftet sie Orientierungslosigkeit und Verunsicherung, von der nicht sie selbst, sondern die AfD profitiert.
Somit wird die Union derzeit leider der Verantwortung nicht gerecht, die ihr als konservative Volkspartei der Mitte bei der Modernisierung unserer Gesellschaft eigentlich zukäme. Wird die CDU/CSU rechtzeitig vor den ostdeutschen Landtagswahlen umsteuern und die AfD aus der politischen Mitte heraus bekämpfen, Seite an Seite mit den anderen demokratischen Parteien?
Die AFD: ein partei-gewordenes Light-Produkt
Egal ob jemand abnehmen oder nicht weiter zunehmen möchte, Light-Produkte versprechen das Erreichen dieser Ziels, ohne das eigene Essverhalten irgendwie verändern zu müssen: Du darfst weiterhin so viel Aufschnitt und Käse essen, wie du willst, und wirst trotzdem dein Wunschgewicht erreichen. Du darfst einfach so bleiben, wie du bist. An diese Marketingbotschaft scheint die AfD programmatisch anzuknüpfen: Du darfst weiterhin Ausländer diskriminieren, sexistische Witze erzählen und davon träumen, mit Deinem Verbrenner-Sportwagen lahme Krücken von der Überholspur zu fegen. Wir sorgen dafür, dass kein Windrad unseren deutschen Wald verschandelt und dass Du soviel billiges Fleisch grillen kannst, wie du magst.
Kurzum: Die AfD verbreitet unter ihren Anhängern keineswegs schlechte Laune, sondern inszeniert sich erfolgreich als partei-gewordenes Light-Produkt. Die konsequent vorgetragene Modernisierungsskepsis der AfD ist das Geheimnis ihres derzeitigen Umfragehochs. Die Union geriert sich als »Muss-Weg-Opposition« (Robert Habeck) und rollt der »Du-Darfst-Partei« somit den roten Teppich aus.
Interessante Links zum Thema
- Sinusinstitut: »Bundestagswahl 2017: So haben die Sinusmilieus gewählt«.
- »Cleavage-Theorie« nach Lipset/Rokkan in der Wikipedia.
- Länderspiegel (ZDF): »Wie die AFD in Sonneberg siegte«, 15minütige Dokumentation.
- Thomas Krüger im Interview mit dem RND.
- Moritz Kirchner im Interview mit DLF Nova.
- tagesschau (ARD): »Wie es Apotheken geht«, vom 6. Juni 2023.
Bildnachweise:
- stux: »Gartenzwerg mit Victory-Zeichen« via pixabay.
- anaterate: »robuster Zaun« via pixabay.
- TIKOHO: »Wolke« via pixabay.