vonDarius Hamidzadeh Hamudi 08.02.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Immer wieder hört man dieser Tage denselben Satz: »Wir müssen die AfD stellen!« Jemanden stellen bedeutet gemäß Wahrigs Wörterbuch zum Stehen bringen, an der Flucht hindern, fangen. Als Beispielsatz wird angegeben: »Bald hatte die Polizei den Verbrecher gestellt.« Die Absicht ist ehrenwert und der Grundgedanke klingt zunächst überzeugend: Wenn die Wähler:innen anfangen, sich mit den Forderungen der AfD inhaltlich auseinanderzusetzen, werden sie ihr Kreuz lieber anderswo setzen. Offenkundig wäre beispielsweise eine Währungsreform (Rückkehr zur D-Mark) ebenso abenteuerlich wie das von Björn Höcke geforderte Sterben dieser EU. Aber schreckt das hartgesottene AfD-Wähler:innen wirklich ab?

Wie sich die hohen AfD-Zustimmungswerte nicht erklären lassen

Im vergangenen August erschien eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). AfD-Wähler:innen besitzen oft eine geringere soziale Teilhabe, ihr Einkommen und ihre Bildung sind eher gering bis mittelhoch. Ausgerechnet diese Personengruppe würde in fast allen politischen Bereichen unter der extrem neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik der AfD leiden, egal ob es um Wirtschaft und Steuern, Klimaschutz, soziale Absicherung oder Themen wie Demokratie und Globalisierung geht. Marcel Fratzscher spricht vom AfD-Paradox: »Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen.«

Der Rational-Choice-Ansatz (Anthony Downs 1957) geht von einer rationalen Wahlentscheidung aufgrund eigener Interessen aus. Die Wähler:innen stimmen für die Kandidat:innen bzw. Parteien, von denen sie sich den größten Nutzen versprechen. Keine politikwissenschaftliche Theorie zur Wahlforschung ist weniger geeignet, um den demoskopischen AfD-Höhenflug zu erklären. Aber dieses totale Versagen ist durchaus bemerkenswert und lehrreich. Handelt es sich bei AfD-Wähler:innen um die sprichwörtlich allerdümmsten Kälber, die sich ihre Metzger selber wählen? – Natürlich nicht.

Psychosozialer Nutzen einer AfD-Wahlpräferenz

Die AfD beabsichtigt zwar nicht, Politik im Interesse ihrer Wähler:innen zu machen. Dennoch profitieren die AfD-Sympathisant:innen in psychosozialer Hinsicht von ihrer Parteipräferenz. Die AfD reduziert mit ihrer Beschreibung der politischen Lage deutlich die Komplexität der krisengeschüttelten Gegenwart, indem alle gegenwärtigen Probleme auf die »unkontrollierte Massenzuwanderung« zurückgeführt werden. Dadurch vermittelt sie eine Illusion von Orientierung. Darüber hinaus wird die Verantwortung für die krisenhafte Situation klar den regierenden »Altparteien« zugeschrieben. Bündnis 90/Die Grünen haben Angela Merkel als Hassobjekt abgelöst. Durch dieses eindeutige Feindbild wertet die AfD ihre Follower narzisstisch auf. Sie schmeichelt ihren Fans mit der schönen Illusion, vom hohen Ross auf das politische Establishment herabblicken zu können. Außerdem kultiviert die AfD ihre Systemfeindlichkeit und versieht ihre Gefolgsleute mit der als attraktiv empfundenen sozialen Identität des zornig-aufständischen Wut-Bürgers.

Die AfD als sozialpsychologisches Phänomen

Ein Blick in die Geschichtsbücher genügt, um zu verstehen, dass der Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts auch als sozialpsychologisches Massenphänomen beschrieben werden kann. Elias Canetti hat sich in seinem Hauptwerk »Masse und Macht« gründlich mit der Entfesselung des Menschen in der Masse auseinandergesetzt. Ausgangspunkt waren persönliche Erfahrungen, von einer Masse mitgerissen worden zu sein. Elias Canetti verstarb 1994 und konnte sich nicht mehr zu Massenphänomenen im und durch das Medium Internet äußern. Aber es verlangt nicht viel Fantasie, um seine Definitionen und Analysen auf neuartige Massenphänomene des 21. Jahrhunderts zu beziehen.

Canetti definiert die Masse als einen Ort, in dem Menschen die Furcht vor Berührung durch Unbekannte verlieren. Lediglich in der Masse lege der Mensch diese Scheu ab und löse sich im Gedränge der Körper auf. Canetti schreibt der Masse eine Art Gravitation zu: »Sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen. Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse.«

Elias Canettis Begriff der »Hetzmasse«

Canetti unterscheidet verschiedene Arten von Massen. Sein Begriff der Hetzmasse beschreibt ein sehr archaisches soziales Gebilde: »Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie Töten will. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los. (…) Ein wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens. (…) Das Opfer kann ihnen nichts anhaben.«  Außerdem zieht Canetti eine Parallele zur Elektrizität und beschreibt das Bestreben aller Massen, sich zu entladen. »Vorher besteht die Masse nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten verlieren und sich als gleiche fühlen.« Die Hetzmasse entlädt sich durch das Töten des Opfers.

Canetti beschreibt das Wüten der Massen symbolhaft mit Feuer: Das Feuer greift um sich, es ist ansteckend und unersättlich. Die Heftigkeit, mit der es ganze Wälder und Steppen, ganze Städte erfaßt, gehört zu seinen eindrucksvollsten Eigenschaften. Bevor es ausbrach, stand Baum neben Baum, Haus neben Haus, jedes vom anderen getrennt, einzeln für sich da. Was aber gesondert war, wird vom Feuer in kürzester Zeit verbunden. Die isolierten und unterschiedlichen Gegenstände gehen alle in den gleichen Flammen auf.

Die virtuelle Hetzmasse

Die AfD-Bubble in den sozialen Medien lässt sich in Anlehnung an Canetti als eine Art körperlose virtuelle Hetzmasse beschreiben. Kurz nachdem die AfD in den Bundestag eingezog, setzte Alexander Gauland den Ton: »Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen!«

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Die virtuelle Hetzmasse ist zwar nicht so blutrünstig wie ihr reales Pendant, aber sie setzt ihren Opfern ebenso beharrlich nach und ist auch besessen von der Idee, die Gejagten politisch zur Strecke zu bringen. Für den einzelnen AfD-Fan ist es absolut gefahrlos, im Schutz der Anonymität in die Hetzmasse einzutauchen und in sozialen Netzwerken Hohn, Hass und Häme zu verbreiten. Hetzmassen sprechen die niedersten Instinkte des Menschen an und üben eine hohe Faszination aus. Der Hass schürt sich durch seine permanente Entladung selbst.

Das Satire-Portal Postillon entlarvt mithilfe eines KI-gestützten Textgenerators das primitive Strickmuster von digitalem Hass. Mit dem Grünen-Bashing-Überleitungsgenerator kann man »souverän und elegant« von jedem beliebigen Schlagwort »zu einer maßgeschneiderten Beleidigung« gegen Bündnis 90/Die Grünen überleiten. Um es mit Elias Canettis Worten zu sagen: Alles geht »in den gleichen Flammen« auf.

Sich der AfD entgegen stellen

Wird es gelingen, die AfD diskursiv zu stellen? – Ja, ein Teil der AfD-Wählerschaft kommt sicherlich ins Grübeln, wenn AfD-Vertreterinnen und Vertreter reihenweise in Talkshows und Parlamenten untergehen. Es ist jedoch fraglich, ob der Gesamtheit der AfD-Wählerschaft mit guten Argumenten beizukommen ist. Sogar desaströse AfD-Auftritte werden von der professionellen Social Media Abteilung der AfD zu mundgerechten Propaganda-Häppchen aufbereitet, die an die virtuelle Hetzmasse verfüttert werden. Diese aus dem Zusammenhang gerissenen Infoschnipsel gehen in der sozialen Medien viral und vergiften schleichend die politische Kultur. Der Blick in die USA zeigt, wie brandgefährlich Hetzmassen sogar für etablierte Demokratien sein können, auch wenn sie zunächst vor allem in der digitalen Sphäre ihr Refugium finden. In diesem Sinne warnt die Bildungsstätte Anne Frank vor einer »Speed-Radikalisierung« junger Menschen auf TikTok. Kein anderes soziales Medium versorge eine so vulnerable Zielgruppe ohne Aufsicht mit derart verstörenden Inhalten. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Begreift man die AfD als archaisches Massenphänomen und billigt man Massen, so wie Canetti es tut, Macht sowie eine gewisse Anziehungs- und Zerstörungskraft zu, dann könnte eine wirksame Strategie auch darin bestehen, sich der AfD massenweise entgegenzustellen, wie es gerade bei den deutschlandweiten Demokratie-Demos geschieht. Die Frage ist, ob es den AfD-Funktionär:innen gelingt, diese Proteste erfolgreich umzudeuten und zu diskreditieren. Zuletzt hat die extrem rechte Partei jedenfalls deutlich an Zustimmung verloren. Vielleicht beginnt die virtuelle Hetzmeute sich zu zerstreuen, wenn die Mitte der Gesellschaft ihr entschieden die Stirn bietet und weiterhin beharrlich auf den Straßen ihre Macht demonstriert? – Einen Versuch wäre es wert.

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Eigene Bildcollage unter Verwendung der folgenden Bestandteile:

 

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