Scott hatte noch nie einen Walzer geschrieben. Aber der Harmony Club hatte einen Walzer bestellt, also lieferte Scott einen Walzer. Drei Stücke hatte er bereits veröffentlicht, und dieses würde sein viertes sein. Der Walzer ist ihm schnell in die Hände geflossen. Wie von selbst tänzelten seine Finger über die Tasten, ein leichtfüßiger Dreivierteltakt erklang. Immer neue Motive waren ihm zugeflogen. Das Material hätte für zwei oder drei Walzer ausgereicht.
Knifflig wurde es erst, als Scott seine Komposition aufzuschreiben begann. Scott konnte zwar Noten lesen und Stücke notieren, aber es ging ihm nicht leicht von der Hand. Außerdem war seine Musik ein bisschen anders als die Stücke, die er normalerweise vom Blatt spielte. Die Harmonien des Harmony Club Waltz schienen in keine Tonart zu passen, und auch der Rhythmus war an einigen Stellen besonders. Wenn nur er selbst das Stück spielte, war das natürlich kein Problem. Aber der Walzer sollte ja veröffentlicht werden. Zum Glück gab es Marie Walker aus dem Musikgeschäft in Hannibal. Sie würde Scott bestimmt wieder einmal unter die Arme greifen. Er musste ihr seine Kompositionen mehrmals vorspielen. Beim ersten Mal lauschte sie nur mit offenem Mund, tief beeindruckt von Scotts überbordender musikalischer Fantasie. Dann musste er das Stück langsam Abschnitt für Abschnitt wieder- und wiederholen. Marie zückte ihren Bleistift und begann, hochkonzentriert Noten aufs Papier zu kritzeln …
In Sedalia existierte ein schwarzes College, an dem Scott sich einschreiben wollte, sobald er das Geld zusammen hatte. Deshalb war er nach Sedalia gezogen. Er wollte unbedingt studieren. Er wollte jede Melodie und jeden Rhythmus, den er in den Fingern hatte, sofort notieren können. Wenn er ein bedeutender Komponist werden wollte, durfte er nicht für immer von Maries Hilfsbereitschaft abhängig sein. Das einzige Problem war, alles unter einen Hut zu bekommen: Die stundenlangen nächtlichen Sessions in den Clubs und Bars und seine Klavierschüler. Nicht zu vergessen die Auftritte und Proben mit der Queen City Cornett Band. Eineinhalb Dollar kostete das George R. Smith College pro Monat, und dann kamen nochmal zweieinhalb Dollar für den Instrumentalunterricht obendrauf! … Scotts Finger spielten den Harmony Club Waltz auf Maries Zuruf mal langsamer und dann wieder schneller. Während der Komponist sich für eine Weile in einen Klavierautomaten verwandelte, flogen seine Gedanken davon.
Die Queen City Cornett, was für eine großartige Brass-Band! Das waren wirklich tolle Musiker, von denen er viel lernen konnte. Allerdings nur musikalisch. Tom und Ed haben sich neulich bei dem weißen Freudenmädchen Ada Carrol erwischen lassen! Um einer Verbannung in Schimpf und Schande zu entgehen, hatte sie versucht, durch das Fenster zu fliehen. Dabei war sie gestürzt und hatte sich auch noch verletzt. »Verkehr mit einem Schwarzen«, diese Straftat war damals auch für eine Prostituierte schwerwiegend. Tom und Ed wurden zu einer Strafe von 30 Dollar verurteilt. 30 Dollar! Das war ein kleines Vermögen. Scott hätte davon sein Studium bezahlen können! Die Zeitungen hatten davon berichtet und die ganze Stadt hatte sich darüber empört. Zum Glück wurde die Strafe später auf zehn Dollar reduziert. Ada Carol wurde nicht verbannt, sondern erholte sich wieder und nahm ihre Tätigkeit wieder auf. An einen Tag schimpften die Leute über die sittliche Verderbtheit von Tom und Ed, eine Woche später drängelten sie sich am Bürgersteig, um der Queen City Cornett Band zu lauschen. So viel Heuchelei!
Scott hatte nicht mitgezählt, wie oft er Marie den Harmony Club Waltz abschnittsweise vorspielen musste. Seine Hände hatten die Takte einfach abgerollt, bis sie »Weiter« sagte. Irgendwann stellte sie die Noten stumm vor ihn auf den Ständer. Wie elegant sie alles notiert hatte! Scott erkannte sein eigenes Stück zunächst nicht wieder. Durch die unterschiedlichen Tonarten gab es kaum Vorzeichen. Das wollte, das musste er auch lernen!
Historischer Hintergrund: Rassentrennung
Zu Scott Joplins Lebzeiten war Rassentrennung (»Racial Segregation«) allgegenwärtig. Diese wurde durch die Jim-Crow-Gesetze legitimiert (vgl. Ragtime Story #2: »Swipesy Cakewalk«). Dabei werden Menschengruppen als »Rassen« definiert und in verschiedenen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens räumlich und sozial getrennt.
Ein Beispiel ist das George R. Smith College in Sedalia, das Scott Joplin nur deshalb besuchen konnte, weil es sich um ein so genanntes »schwarzes College« handelte. Die in der Ragtime-Story geschilderte Episode mit Ada Carrol und den Musikern Tom Ireland und Ed Gravitt ist ein weiteres Beispiel. »Verkehr mit einem Schwarzen« (»consorting with a black man«) galt als Straftat von äußerster moralischer Verderbtheit (Edward Berlin 2014: 26).

Das Musikstück: Harmony Club Waltz
Der italienische Musiker Alessandro Simonetto (*1974) hat Scott Joplins »Harmony Club Waltz« eingespielt und die Aufnahme via YouTube geteilt. Er interpretiert das Stück frei, setzt verspielte Akzente und variiert bei den Wiederholungen Tempo und Dynamik. Applausi e grazie!
Cover der Sheet-Music-Ausgabe (1896)

Über die Serie: Ragtime Stories – Variationen über Scott Joplin
Ragtime Stories erzählen kurze Episoden aus dem Leben von Scott Joplin. So entsteht nach und nach eine literarische Biografie über den us-amerikanischen Komponisten und seine Zeit. Die einzelnen Folgen tragen Titel von Scott Joplins Musikstücken und ergeben somit auch eine kleine Werkschau des bedeutenden Musikers.
- Folge 1: »The Entertainer«
- Folge 2: »Swipesy Cakewalk«
- Folge 3: »Please Say You Will«
- Folge 4: »The Great Crush Collision March«
- Folge 5: »Harmony Club Waltz«
Links und Literatur
- Cover der Sheet Music Ausgabe (1896), gemeinfrei.
- Link zur Alessandro Simonettos Aufnahme des Harmony Club Waltz (YouTube).
- Foto von Russell Lee / Adam Cuerden aus Oklahoma zur Rassentrennung (Public Domain via Wikimedia Commons).
- Edward A. Berlin: King of Ragtime, Oxford University Press 2014, S. 18-32.