Allenthalben ist von einem »Bruch« der Regierungskoalition die Rede. Nimmt man es wörtlich, kann nur ein verbundenes und zusammenhängendes Gebilde zerbrechen. Tatsächlich sind SPD, Grüne und FDP nie zu einer Einheit verschmolzen. Von Anfang an hatte Lindner in der Ampel nicht ein Bündnis gleichberechtigter Partner gesehen, sondern ein befristetes Projekt mit verschiedenen Aufgabenbereichen. Sich selbst hatte er die Rolle des Dompteurs auf den Leib geschrieben, der unerbittlich auf Haushaltsdisziplin pochen musste, damit »Deutschland aus der Mitte regiert wird und nicht nach links driftet«. Das Regierungsbündnis war von Beginn an eine Fußgängerampel. Die FDP stand als Warnblicklicht etwas abseits.
Es ist unsäglich und ein Konstruktionsfehler der Ampelregierung, dem kleinsten Koalitionspartner zuzugestehen, jede Erhöhung der verfügbaren Haushaltsmittel, sei es durch höhere Steuern oder Schulden, zu blockieren und somit praktisch im Alleingang die finanziellen Spielräume der Regierung abzustecken. – Es war einmal ein mächtiger Finanzminister. Wann immer er mit seiner Schuldenbremse schnalzte, mussten im Kabinett die Etats zusammengestrichen werden, dass es ihm eine rechte Freude war. – Lindners Märchen ist vorbei. Das Spiel ist aus.
Es steht Amtseid gegen Amtseid
Bis zuletzt tarnte Lindner seine fehlende Kompromissbereitschaft als Verfassungstreue: Der Bundeskanzler habe ultimativ von ihm »verlangt, die Schuldenbremse des Grundgesetzes auszusetzen.« Dem konnte Lindner nicht zustimmen, weil er damit seinen »Amtseid verletzt hätte«. Hört, hört! Im weiteren weist er dem Kanzler die Schuld für den Regierungsbruch zu. – Auch Olaf Scholz bezieht sich auf seinen Amtseid, indem er Lindners Entlassung zur Voraussetzung dafür erklärt, »Schaden vom deutschen Volk abzuwenden«. Die gegenwärtigen Herausforderungen seien eine Notsituation. Angesichts dessen sei es nicht nur ein Recht, sondern geradezu die Pflicht zu handeln. Überdies sei für diesen Fall im vergangenen Jahr die erneute Aussetzung der Schuldenbremse verabredet worden.
Linders Verweis auf die Verfassung ist natürlich keineswegs überzeugend, auch wenn er diesen Punkt in Endlosschleife wiederholt. Es ist eben keine juristische, sondern eine politische Entscheidung, die Ausnahmeregelung zu aktivieren, die das Grundgesetz in Artikel 115 ausdrücklich vorsieht. Die Taktiererei des entlassenen Finanzministers ist bizarr: Zunächst ruft er voller Pathos einen »Herbst der Entscheidungen« aus und fordert in einem Papier die Rücknahme großer Teile der gemeinsamen Regierungspolitik. Dann beharrt er angesichts einer vergleichsweise mickrigen Lücke von sieben bis acht Milliarden im Bundeshaushalt auf der Schuldenbremse. Und obwohl er, wie soeben beschrieben, zielorientiert auf das Ende dieser Regierung hingearbeitet hatte, entblödet er sich nicht, dem Kanzler öffentlich »einen kalkulierten Bruch dieser Koalition« vorzuwerfen.
»We are Schuldenbremse«
Christian Lindner ist ein Meister prägnanter Slogans und schöner sprachlicher Bilder. »Manchmal muss ein ganzes Land vom 10er springen« ist so einer. »Digital First. Bedenken second. Denken wir neu.« war auch nicht schlecht. Man darf gespannt sein, was er beim nächsten Wahlkampf wieder aus dem Hut zaubern wird. »We are Schuldenbremse« wäre vielleicht eine Idee. Eigentlich ist es erstaunlich, dass ein Mensch von so großer sprachlicher Beweglichkeit sich als vollständig immun gegen die realpolitischen Herausforderungen der Gegenwart erweist und ausgerechnet direkt nach dem Erdrutschsieg von Trumps Republikanern in den USA aus der Regierungskoalition ausschert. Lindner selbst bescheinigt sich hingegen »Prinzipientreue«. Die Wähler:innen werden ihr Urteil fällen. Man kann nur hoffen, dass die zur Lindnersekte heruntergekommenen Liberalen ihren verkürzten Freiheitsbegriff neu denken und durch Kompromiss- und Konsensorientierung dereinst zu einer vollwertigen Regierungspartei heranreifen werden. Im FDP-Sprech: »Mehr Wissing wagen«.
Gustav Seibt bezeichnet die FDP in der Süddeutschen Zeitung wegen ihrer programmatischen Verengung auf die Schuldenbremse als »One-Trick-Pony«. So wurden junge Zirkuspferde genannt, die nur ein einziges Kunststück beherrschten und vielleicht gerade mal eine Pirouette drehen konnten. – Nach seinem Befinden gefragt, antwortete Christian Lindner 2017 kurz vor Beginn des letzten Wahlkampfes: »Ich fühle mich wie ein Rennpferd in der Box.« – Hat der FDP-Chef eventuell sein politisches Format überschätzt?
Links und Belege
- Frankfurter Rundschau vom 2.8.22: »Christian Lindner sieht FDP-Rolle in der Ampel als Korrektiv gegen ›links‹«.
- Nach Ampel-Aus: Olaf Scholz‘ Rede im Wortlaut, Berliner Morgenpost vom 7.11.24.
- Lindner wirft Scholz „kalkulierten Bruch“ vor, Statement vom 6.11.24 (ZDF).
- Robert Habeck im Interview der Woche mit Stefan Detjen (Deutschlandfunk vom 10.11.24). Habeck beziffert darin die Haushaltslücke auf sieben bis acht Milliarden Euro.
- LIVE: Statement von Christian Lindner zum Ampel-Aus, ntv am 7.11.24 (YouTube).
- Gistav Seibt: Die unfreie Partei, Süddeutsche Zeitung vom 7.11.24.
- Armin Lehmann: Update FDP-Programm zur Bundestagswahl: Christian Lindner: „Ich will Kanzler machen“ (Tagesspiegel vom 31.7.2017).
Bildnachweis
Eigene Collage unter Verwendung folgender Vorlagen:
- Silhouette eines Pferdes, Bild von Gordon Johnson auf pixabay.
- Gefieder, Bild von Gordon Johnson auf pixabay.
- Dompteur, Bildvorlage von patricia m auf flickr (CC BY-SA 2.0-Lizenz).
Wenn ich etwas ergänzen darf: gerade lässt die Finanzbehörde ohne Not rund 30 Milliarden Euro an Steuergeldern liegen, die ihr aus CumEx und CumCum zustünden.
Die 7-8 Mrd. Lücke wäre also drin, plus noch ein Bisschen Geld für die Portokasse wenn, ja wenn Lindner seinen verdammten Job gemacht hätte.
Verfassungstreue. Guter Witz, das.