Zu Beginn der 1990er-Jahre war ich als Schüler in Bremen auf Klassenfahrt. Mein Lehrer fragte eine Passantin nach einem großen Warenhaus und verkündete dann: »Wo Karstadt ist, ist die Stadtmitte!«. Damals leuchtete mir das unmittelbar ein. Als wir alle vor den großen Schaufenstern eingetroffen waren, wurde ein Klassenfoto geschossen; es schlummert noch in irgendeiner Fotokiste. Der Hintergrund gibt außer ein paar Schaufensterpuppen wenig her. – Hätte mein Lehrer sich nach dem Denkmal der Stadtmusikanten, dem Roland oder dem historischen Rathaus erkundigen sollen?
Konsumtempel lösen Kirchen und Kathedralen ab
Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens immer wieder verschoben. Lange vor der Existenz von Warenhäusern bildeten Feuerstellen oder auch Kirchen und Marktplätze die Mittelpunkte unserer Gruppen, Siedlungen und Städte. Erst im 19. Jahrhundert begannen in den Metropolen die ersten Warenhäuser in den Himmel zu wachsen. In den 1950er-Jahren waren sie auch in der Provinz in den Mittelpunkt des sozialen Lebens gerückt. Helmut Schelsky beobachtete eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen, die mit dem massenhaften Konsum industriell gefertigter Güter einherging. Der Soziologe bezeichnete die junge Bundesrepublik als nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Das war die Blütezeit der Warenhäuser.
Seit den 1960er-Jahren geht es kontinuierlich bergab
In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es noch fünf Warenhausketten: Neben Karstadt und Kaufhof waren das Hertie, Horten und Quelle. Aber mit dem Aufkommen von Spezialmärkten »auf der grünen Wiese« geriet das Warenhaus als Geschäftsmodell in eine Krise, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter zuspitzen sollte.
Während die Marketingabteilungen der Kaufhäuser versuchen, das Gedrängel und Gewusel an Wühltischen und Rolltreppen zum »Einkaufserlebnis« zu verklären und durch Treuepunkte die Kund:innenbindung zu stärken, bilden Versandgiganten die Idee des Warenhauses digital ab und sparen dabei konsequent die Kosten für kaufmännisches Fachpersonal und Innenstadtmieten ein. Längst hat der »Black Friday« den »Sommer-« bzw. »Winterschlussverkauf« beerbt. Der Onlinehandel schickt sich an, seinen analogen Großeltern den Rest zu geben.
Wird die Stadtmitte zur »Geisterstadt«?
Ende 2020, unter der Regentschaft des »Wunderwuzzi« René Benko, gab es immerhin noch 171 Filialen von Galeria Karstadt Kaufhof. Davon sind eine Pandemie später im April 2024 noch 92 übrig. Vor wenigen Wochen ging ein großes Aufatmen durch die Republik: Zwei Investoren hatten sich gefunden, die 70 Filialen retten wollen. Auch wenn viele das noch immer nicht wahrhaben wollen: Das Warenhaus stirbt auf Raten.
Der Handelsverband Deutschland (HDE) weist darauf hin, dass die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte seit 2015 um mehr als 60.000 auf 311.000 gesunken sei. Der HDE fordert ein »Eingreifen der Politik«, zumal die erneute Insolvenz von Galeria Karstadt Kaufhof die Unsicherheit in der Branche verstärke. Es drohe die »Entstehung von Geisterstädten«.
Émile Zola: »Das Paradies der Damen« (1884)
In Émile Zolas Roman kann man nachlesen, dass Phasen des Übergangs auch im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs ruckelfrei verliefen. »Das Paradies der Damen« ist ein Pariser Warenhaus, damals war das eine neue, bahnbrechende Geschäftsidee. Die umliegenden Händler und Fabrikanten schwören auf die Macht der Tradition. Über die Umwälzung der Marktstrukturen durch große Warenhäuser rümpften sie nur die Nase:
»Jetzt mischte (…) der Seidenfabrikant, sich ein. (…) Er beschuldigte die großen Warenhäuser, daß sie die französische Industrie ruinierten; ihrer drei oder vier diktierten allen übrigen die Preise und beherrschten den Markt. Der einzige Weg, sie zu bekämpfen, sei die Begünstigung des Kleinhandels, besonders der Spezialgeschäfte, denen die Zukunft gehöre.«
Was tritt an die Stelle des Warenhauses?
Gehören Warenhäuser zum Weltkulturerbe? Sollten sie mit öffentlichen Mitteln unter Denkmalschutz gestellt werden? Oder ist es an der Zeit, die Mitte unserer Städte neu zu bestimmen? Angesichts der Individualisierung und der zunehmenden Verrohung des öffentlichen Diskurses in den Filterblasen sogenannter »sozialer Netzwerke« wären Orte und Gelegenheiten für reale Begegnungen wichtiger denn je.
Sind Politik, Sport, Kultur, Religion und Brauchtum gemeinsam stark genug, um unseren Städten eine neue Mitte zu geben? Oder kommen Städte so wie Donuts auch ganz gut ohne Mitte aus? – Und vor allem: Sind die Lücken in den Innenstädten eventuell ein Symptom dafür, dass unserer Gesellschaft insgesamt ihre Mitte abhanden kommt?
Aktualisierung
Am 26. April gab Galeria bekannt, dass bundesweit lediglich 16 Filialen geschlossen werden.
Links:
- Statista: »Anzahl der Filialen von Galeria Karstadt Kaufhof«.
- Wikipedia: »Warenhaus«.
- Wikipedia: »Nivellierte Mittelstandsgesellschaft«.
- Deutschlandsfunk: »Tausende Geschäftsschließungen befürchtet – Handelsverband spricht von Geisterstädten« (Nachricht vom 23.4.24).
- Emile Zola: »Das Paradies der Damen/Au bonheur des Dames«, übersetzt von Armin Schwarz, Zitat aus dem Ersten Kapitel (Projekt Gutenberg).
- Tagesschau vom 26.4.2024: »Galeria schließt 16 weitere Filialen«.
Bildnachweise:
- Saf_Y: »Donut« via pixabay.
- Warenhaus Stafa: Mariahilfer Zentralpalast (gemeinfrei) in der Wikipedia.