Das »Zentrum zur Bekämpfung von digitalem Hass« (CCDH) setzt sich dafür ein, dass große Technologiefirmen ihre Dienste für Personen einstellen, die Hass und Fehlinformationen verbreiten. Das CCDH sitzt in London und Washington, D.C. und hat im Juni 2023 eine Studie darüber veröffentlicht, wie Twitter mit menschenfeindlichen Hassbotschaften verfährt, die von kostenpflichtigen Twitter-Blue-Abonnenten gepostet werden. Die Ergebnisse der lesenswerten Untersuchung sind ernüchternd:
»Forscher sammelten Hass-Tweets von 100 Twitter-Blue-Abonnenten. Die Hass-Tweets wurden bei der Plattform mithilfe der twittereigenen Tools zur Meldung hasserfüllter Inhalte angezeigt. Die Forscher stellten fest, dass Twitter vier Tage nach Meldung der Tweets bei 99% der Beiträge keine Maßnahmen ergriffen hatte und 100% der Konten weiterhin aktiv waren.«
Elon Musk zeigte sich in einer ersten spontanen Stellungnahme bestürzt und traf Imran Ahmed, den Geschäftsführer und Gründer des CCDH, am nächsten Tag zu einem mehrstündigen vertraulichen Gespräch. Bei der anschließenden Pressekonferenz äußerte der neue Eigentümer des Kurznachrichtendienstes sein tiefes Bedauern, dankte dem Zentrum zur Bekämpfung von digitalem Hass für die wertvollen Impulse und kündigte an, die Defizite innerhalb kürzester Zeit abzustellen.
Gegendarstellung
Der vorangegangene Abschnitt enthält falsche Informationen. Das Zentrum zur Bekämpfung von digitalem Hass gibt es tatsächlich, auch die Studie über den Umgang des Kurznachrichtendienstes Twitter mit Hassbotschaften wurde durchgeführt und zeitigte die dargestellten Ergebnisse.
Die einsichtige Reaktion Elon Musks ist jedoch frei erfunden. Tatsächlich verklagt er das CCDH. Das Zentrum zur Bekämpfung von digitalem Hass, so lautet der Vorwurf, habe auf illegalen Wegen Daten von Twitter erhalten. Werbekunden seien abgesprungen, wodurch ein Schaden entstanden sei. Das CCDH hat bereits 46.904 $ an Spenden gesammelt (Stand: 21.8., 8.18Uhr), um sich juristisch gegen Elon Musks Klage zur Wehr zu setzen:
»Die Forschung des Zentrums zur Bekämpfung von digitalem Hass zeigt, dass Hass und Fehlinformation sich unter Elon Musk auf X/twitter wie ein Lauffeuer verbreiten. Seine Klage ist ein direkter Versuch, die Anstrengungen gegen digitalen Hass zum Schweigen zu bringen.«
Twitter-Algorithmus: Interaktion um jeden Preis
Hinter der Fassade des niedlich tschilpenden Zwitscher-Vögelchens verbarg sich schon vor Elon Musk ein durchaus kritikwürdiges Geschäftsmodell. Gemäß einer sehenswerten Arte-Mini-Doku pusht Twitter seit 2018 aus kommerziellen Erwägungen mithilfe seines Empfehlungs-Algorithmus die Interaktionsrate, d.h. solche Beiträge, die eine unmittelbare Reaktion triggern. Kompromisslose und polemische Kommentare erhalten in der Regel den Vorrang vor abwägenden und vermittelnden Positionen. Twitters Algorithmus befördert aktiv die Emotionalisierung, Verkürzung und Polemisierung des politischen Diskurses.
Da die User:innen vorwiegend mit Informationen versorgt werden, die zur eigenen Gedankenwelt passen, entstehen »Filterblasen« (Eli Pariser). User:innen drohen sich in einer kulturellen und intellektuellen Isolation zu verlieren und eine voreingenommene Sicht auf die Welt zu entwickeln. In der Arte-Doku wird die These vertreten, die App steuere direkt das dopaminerge System im Gehirn an und mache süchtig. Robert Habeck bestätigt diese Annahmen. Im Januar 2019 hat er seinen Twitter-Account gelöscht und das eigene Nutzungsverhalten mit entwaffnender Offenheit reflektiert:
»Nach einer schlaflosen Nacht komme ich zu dem Ergebnis, dass Twitter auf mich abfärbt. Dass ich mich (…) unbewusst auf die polemische Art von Twitter eingestellt habe. Twitter ist so aggressiv wie kein anderes digitales Medium und in keinem anderen Medium gibt es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze. Offenbar triggert Twitter in mir etwas an: aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein – und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen. Offenbar bin ich nicht immun dagegen. (…) Twitter desorientiert mich, macht mich unkonzentriert, praktisch, wenn man in Sitzungen verstohlen aufs Handy schaut. Grundsätzlich, weil ich mich dabei ertappt habe, wie ich nach Talkshows oder Parteitagen gierig nachgeschaut habe, wie die Twitter-Welt mich denn gefunden hat. Und das ist die Schere im Kopf. Als wäre Politik eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dass man so redet, wie es das Medium will …«¹
Trump und Twitter
Der Aufstieg des Immobilienunternehmers und Medienstars Donald Trump zum Spitzenpolitiker wäre ohne Twitter wohl kaum möglich gewesen. Der Mikronachrichtendienst erwies sich für den Rechtspopulisten als ideale Plattform, um seine Basis in Echtzeit mit fragwürdigen Botschaften zu bespielen. Twitters Algorithmus setzte den erfolgreichen Content-Creator auf die Überholspur und trieb dem Demagogen weitere Anhänger in die Arme.
Viel ist über Donald Trump geschrieben und geredet worden. Vier Staatsanwaltschaften klagen ihn an. »Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten« lautet wohl der gewichtigste Vorwurf. Dennoch werden die Republikaner ihn aller Voraussicht nach zu ihrem Präsidentschaftskandidaten küren. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1865 war die amerikanische Öffentlichkeit nicht mehr so tief gespalten.
Immerhin übernahm die Nachrichtenplattform mit dem blauen Piepmatz am 8. Januar 2021 – zwei Tage nach dem Sturm auf das Capitol – Verantwortung, sperrte dauerhaft Donald Trumps Twitter-Account und begründete diesen Schritt mit der »Gefahr einer weiteren Anstiftung zur Gewalt«. Endlich. Elon »the-bird-is-freed« Musk hat nach einer Abstimmung seiner Nutzer:innen Trumps Twitter-Account wiederhergestellt.
Twitterisierung der politischen Kultur
Auch in Deutschland hat Twitter schleichend die Diskussionskultur verändert. Der politische Abend der bayrischen Bündnisgrünen am 1.8.23 im Ortsteil Hart der Gemeinde Chieming liefert ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Twitters aggressive Chatraum-Kultur in die Realität schwappt:
Vor dem Festzelt stehen zwei Dutzend Traktoren, ausstaffiert mit Protestplakaten. Eine Menschenmenge skandiert: »Haut ab!« Im voll besetzten Festzelt ist die Atmosphäre aufgeheizt. Katharina Schulze, die grüne Spitzenkandidatin bei der kommenden Landtagswahl, wird gemäß einer Augenzeugin obszön-sexistisch beschimpft (Badische Zeitung). Die Landtagsabgeordnete kritisiert die »Spaltung und auch Verrohung in unserer Gesellschaft«, ist aber wegen der ohrenbetäubenden Trillerpfeifen nur schwer zu verstehen:
»Verstehen Sie mich nicht falsch, niemand muss uns Grüne lieben. Man kann die Bundesregierung kritisieren. Man kann die bayerische Staatsregierung kritisieren. In einer Demokratie gehört der Streit um die besten Ideen dazu. Nur so entwickeln wir uns weiter, wenn wir diskutieren. Wenn wir argumentieren. Wenn wir miteinander ringen, um unsere Gesellschaft besser zu machen. Aber … aber zu einer Diskussionskultur gehört, dass man einander zuhört, dass man davon ausgeht, dass auch der andere mal Recht haben könnte. Und zu einer Diskussionskultur gehört, dass man nicht lügt und dass man nicht mit falschen Behauptungen durch die Lande zieht. (…) Ich glaube, dass wir Demokratinnen und Demokraten uns stärker unterhaken müssen.«
Stichwort »Unterhaken«: Vor dem Festzelt machen sich drei Männer, die sich gegenüber der SZ als »normale Handwerker« bezeichnen, eine Mordsgaudi und bieten neben Eiern und Tomaten auch »kleine Steine« und »große Steine« an. CSU-Flugblätter liegen auch aus. Am späteren Abend behauptet sich Cem Özdemir gegen das Pfeifkonzert. Vor der Bühne sichert eine martialische Phalanx von Polizist:innen die Lage. Die bierzelterprobte Katharina Schulze erklärt dem Bayerischen Rundfunk, eine vergleichbare Stimmung habe sie »noch nie erlebt«.
Veränderung von Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt eine grundlegende Veränderung von Öffentlichkeit. Früher, im Zeitalter der Massenmedien, gaben Leitmedien den Ton an. Machtvolle Sendeanstalten und Zeitungen bestimmten, worüber diskutiert und gesprochen wurde. Heutzutage entscheiden Journalist:innen und Verlage längst nicht mehr alleine darüber, was öffentlich sichtbar wird. Kennzeichnend für die Gegenwart sei gemäß Pörksen eine Öffnung des kommunikativen Raumes. Das ehemalige Publikum erhalte im Verbund mit Plattformen und sozialen Netzwerken eine neue Medienmacht. Die neue Form von Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter sei gekennzeichnet durch ein Wirkungsnetz von alten und neuen Medien, von sozialen und journalistischen Medien. Pörksen beobachtet in der Gegenwart eine »Empörungs-Kybernetik«. Sichtbar und gesellschaftlich bedeutsam würden Inhalte, wenn klassische und neuere Medien zusammenspielen und sich gegenseitig befeuern.
Handlungsbedarf
In der Bundesrepublik Deutschland werden die meisten Lebensbereiche sorgfältig reguliert. Wer etwas bauen oder Filmaufnahmen machen möchte, benötigt eine Bau- oder Drehgenehmigung. Das sind nur zwei Beispiele. Der Algorithmus einer Plattform wie Twitter ist jedoch nicht genehmigungspflichtig, trotz der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die politische Willensbildung. Wie kann das sein?
Die Bezeichnung »öffentlich-rechtlicher Rundfunk« weckt den Verdacht, dass die bestehenden Strukturen evtl. langsam aus der Zeit zu fallen drohen und weiterentwickelt werden sollten. Die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Informationen ist zweifellos nach wie vor notwendig, aber im digitalen Zeitalter leider nicht mehr hinreichend. Denn professionelle Desinformationskampagnen beeinflussen die politische Willensbildung messbar. Algorithmen von Plattformen und sozialen Medien sind daher keine Geschäftsgeheimnisse, sondern essenziell für die politische Kultur unserer Demokratie und somit von öffentlichem Interesse. Digitaler Hass muss systematisch, großflächig und entschieden eingedämmt werden. Wir brauchen dringend digitale Diskursräume, die nicht nach kommerziellen Gesichtspunkten organisiert werden. Eine wehrhafte Demokratie darf die virtuellen Marktplätze der Republik weder sich selbst noch irgendwelchen US-amerikanischen Tech-Milliardären überlassen.
Links
- Studie über twitter des Zentrums zur Bekämpfung von digitalem Hass (CCDH)
- taz-Artikel (1.8.23) über die Klage von twitter / X gegen CCDH von Johannes Drosdowski.
- dpa/AFP-Meldung über die Klage von twitter / X gegen CCDH (Badische Zeitung vom 2.8.23)
- Crowd-Funding des CCDH.
- Arte-Mini-Doku »Dopamin« über twitter. – Sehr sehenswert!
- Blog-Beitrag von Robert Habeck über seinen Abschied von Facebook und Twitter.
- Wikipedia-Eintrag zum Thema »Filterblase«.
- taz-Artikel vom 9.1.21 über die Sperrung von Donald Trump auf Twitter
- taz-Artikel vom 20.11.22 über die Entsperrung von Donald Trump auf Twitter.
- taz-Artikel vom 2.8.23 über die Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Hart/Chieming von Stefan Hunglinger.
- Artikel der Badischen Zeitung (4.8.23) über die Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Hart/Chieming von Patrick Guyton.
- SZ-Artikel (2.8.23) über die Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Hart/Chieming von Antonia Franz und Andreas Glas.
- BR24 berichtet am 2.8.23 über die Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Hart/Chieming.
- Mitschnitt der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Hart/Chieming auf YouTube.
- Interview mit Bernhard Pörksen über die Veränderung von Öffentlichkeit (Deutschlandfunk am 18.2.2018).
¹ Zur besseren Lesbarkeit wurde die Wortstellung an einer Stellung vertauscht. Im Originalbeitrag heißt es: »Twitter ist, wie kein anderes digitales Medium so aggressiv …«. Die vorgenommene Anpassung verändert den Inhalt nicht.
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