Kein Text hat sich in dem vergangenen zwölf Monaten auf taz.de so gut geklickt wie der Artikel über „Jürgen Trittins Fehler„. Es geht darin um die Erkenntnisse der Politikwissenschaftler Franz Walter und Stephan Klecha, die von den Grünen mit der Aufarbeitung der Pädophilie-Verstrickungen beauftragt wurden. Der Artikel erscheint eine Woche vor der Bundestagswahl, wird von allen Medien in Deutschland aufgegriffen, vielfach verlinkt und laut unserer internen taz.de-Statistik 185.000-mal geklickt. Mehr als 1.000 Leser schreiben erboste Briefe wegen des Gastbeitrags an die taz, viele beenden ihr Abo, dutzende kündigen ihre taz-Genossenschaftsanteile. Ihr Vorwurf: Die taz habe damit den Grünen im Wahlkampf geschadet. Die Redaktion sieht sich genötigt, sich bei einem Treffen mit taz-Genossen zu rechtfertigen.
Auf Platz zwei landet der Live-Ticker zu den 1.-Mai-Demonstrationen mit 143.000 Klicks. Etwa ein dutzend Mitarbeiter sind in Hamburg und Berlin im Laufe des Tages für den Ticker im Einsatz. Auch in der Vorjahren gehörten die Live-Ticker zu den bestgeklickten Artikeln – die taz war das erste Medium, das solche Ticker zu politischen Ereignissen statt zur Sportberichterstattung nutzte. Den Klick-Rekord hält der Castor-Ticker des Jahres 2011 mit 850.000 Klicks.
Auf Platz drei kommt ein Artikel über die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Haasenburg-Heimen. Der Text ist das Ergebnis monatelanger Recherchen. In der Folge kommt es zu juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem Heimbetreiber und der taz – davon zeugen die Richtigstellungen unter dem Artikel. Außerdem setzt die Landesregierung Brandenburgs eine Untersuchungskommission ein, um die Zustände bei dem Betreiber zu überprüfen. Der Bericht (hier als PDF, ab Seite 77) bestätigte die Misshandlungs-Vorwürfe. Die Landesregierung ordnet die Schließung der Heime an, am 20. Dezember werden die letzten Jugendlichen aus der Einrichtung geholt. taz-Redakteurin Kaija Kutter wird vom Medium Magazin als Lokaljournalistin des Jahres ausgezeichnet.
Mit 118.000 Klicks auf Platz vier folgt die Kolumne „Fußball-Liebe macht blind“ des taz-Sportredakteurs Andreas Rüttenauer. Er stellt darin die These auf, der Fußballwahnsinn sei zur Massenkrankheit in Deutschland geworden und der Staat habe sich selbst aufgegeben, weil er auf eine Besteuerung von internationalen Vereinswettbewerben verzichtet.
Auf Platz fünf kommt ein Text, in dem taz-Redakteur Deniz Yücel nach der Niedersachsen-Wahl die Politik des zehn Jahre lang amtierenden CDU-Innenministers Uwe Schünemann würdigt: „Tschüss, Kotzbrocken!“ Der Text erschien in dieser Fassung ausschließlich online, in der gedruckten Ausgabe erscheint lediglich eine stark gekürzte Version.
Demo-Berichterstattung wird bei der taz auch dann gut geklickt, wenn sie nicht in Form eines ständig aktualisierten Tickers, sondern als normaler Artikel daherkommt: Der Text zur Rote-Flora-Demonstration in Hamburg erhält 115.000 Klicks.
Der Artikel „Oben ohne gegen das Patriarchat“ zur Pussy-Riot-Aktion während der Weihnachtsmesse im Kölner Dom landet auf Platz sieben. Die Besonderheit: Der Text stammt von der Nachrichtenagentur dpa, war also in gleicher Form auch auf vielen anderen Webseiten zu lesen. Die taz steht regelmäßig vor der Frage, ob sie zu einem aktuellen Ereignis einen Text einer Nachrichtenagentur online stellt oder den Text eines taz-Redakteurs. Die Agenur-Journalisten sind schneller, so dass auf taz.de früher von dem Ereignis zu lesen ist. Die taz-Redakteure brauchen länger, dafür enthalten ihre Texte meist weitere Informationen und eigene Einordnungen. Wenn die taz erst einen Agentur-Text auf die Webseite stellt und später dann den Text eines taz-Redakteurs, so wird der spätere Text erfahrungsgemäß deutlich schlechter geklickt. So auch hier: Der dpa-Text kam auf 114.000 Klicks, der später online veröffentlichte (und so auch auf Papier gedruckte) Text des taz-NRW-Korrespondenten nur auf 36.000 Klicks.
Eine Provokation für alle Veganer ist der Artikel „Fleisch gehört dazu„, in der die Ökotrophologin Ulrike Gonder beschreibt, warum fleischloser Konsum nicht die Welt rettet. Der Text stammt aus dem taz-Umweltmagazin zeo2.
Ein Text aus dem Lokalteil Berlin ist auf Platz neun. Im August hatten viele Medien behauptet, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg religiöse Feste auf öffentlichen Straßen verbietet und somit auch Weihnachtsmärkte und Ramadan-Feiern. taz-Redakteurin Plutonia Plarre schrieb auf, dass das so nicht stimmt.
An der East Side Gallery fällt eines der letzten erhaltenen Mauerstücke, damit ein Investor hier Luxus-Wohnungen bauen kann – diesen Eindruck erweckten Aktivisten im März. In meinem Artikel schreibe ich, dass nichts davon wahr ist: Die Mauer fällt für eine Spree-Brücke und nicht für Luxus-Wohnungen, es geht um einen Mauerdurchbruch von 22 Metern bei einer Gesamtlänge von 1.300 Metern, die Mauer dort ist bereits an fünf Stellen unterbrochen und den Aktivisten ist die Mauer eigentlich völlig egal und sie nehmen sie in Geiselhaft, um damit andere Ziele durchzusetzen. Mit 106.000 Klicks landet der Text auf Platz zehn, er erscheint ausschließlich online.
Zum Eklat auf dem taz-Kongress um das umstrittene N-Wort stellt Deniz Yücel in seinem 105.000-mal geklickten Artikel seine Sicht der Dinge dar (in der gedruckten Ausgabe erschien der Text nur in einer gekürzten Fassung), die andere Sicht gibt es bei Sharon Otoo.
In dem Artikel „Visionen im Blödchenpark“ geht es um ein Gelände in Berlin an der Spree, auf dem eine Genossenschaft ein Paradies für Hippies und Hipster errichten will: Mit Hüttendorf, Bioladen, Sushi-Bistro, Kindergarten und „Möhrchenpark“. Der Autor Philipp Meinhold kommt zu dem Schluss, das Projekt sei „das kreative Feigenblatt für die kapitalistische Verwertung des Stadtufers, die schrullige Nachbarschaft für betuchte Loftbewohner, die selber so reich und unsexy sind, dass sie sich an der Hauptstadt Berlin aufgeilen müssen“. 104.000 Klicks.
Der Artikel zum Sturm Xaver „Land unter im Norden“ kommt auf 88.000 Klicks. Der Text erscheint nur online und stammt wieder von der Nachrichtenagentur dpa. In diesem Fall hat die taz keinen eigenen Text mit einem Überblick zum Sturmgeschehen auf ihre Webseite gestellt. Bei der Unwetterberichterstattung hat die taz – anders als etwa bei der Kirchenkritikberichterstattung – nicht den Anspruch, mehr Informationen oder bessere Einordnungen zu liefern als die Nachrichtenagenturen.
Der neue Papst Franziskus ist laut der Analyse von Deniz Yücel „ein reaktionärer alter Sack wie sein Vorgänger“ und die katholische Dogmatik ist „esotherisches Klimbim“. Beim Presserat gehen 29 Beschwerden ein, unter anderem von der Redaktion der Zeitung Bistums Speyer. Nach Ansicht der Katholiken ist der Text ein „ungeheuerliches Pamphlet“, der „mit Journalismus nicht das Geringste mehr zu tun“ habe. Nach Ansicht des Presserats handelt es sich bei dem Text um „eine kritische Bewertung katholischer Glaubensinhalte“, die „vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt“ sei. 88.000 Klicks.
Ein Text aus dem Jahr 2011 ist schon das dritte Jahr in Folge in der Klick-Hitliste, es geht darin um Latte-Macciato-Mütter im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Die Autorin gibt ihr Gespräch mit der Betreiberin eines alteingesessenen Cafés wieder, die diese Mütter als „Rinder“ bezeichnet, die mit ihren Kinderwagen die Gänge ihres Cafés verstopfen, zum Stillen ihre „Euter“ herausholen und Kaffee mit Sojamilch sowie Hackfleischsuppe ohne Fleisch bestellen: „Kinder sind für die kein Spaß, das ist ’ne Aufgabe, die sie lösen müssen. Du lieber Himmel! Ich versteh gar nicht, warum die sich das alles antun, warum die überhaupt hergekommen sind nach Berlin. Sollen die doch zurückgehen, dahin, wo sie herkommen.“ Dafür gab es auch im Jahr 2013 noch 87.000 Klicks.
Im April analysierte Jens Berger die AfD und warnte davor, sie als Ein-Themen-Partei zu unterschätzen. Die AfD sei „eine im schlimmsten Sinne marktradikale Partei, die den Ausweg aus der Krise über eine Schwächung des Sozialstaates und eine Stärkung der Marktkräfte erreichen will“. Eine „neue Ultra-FDP ist jedoch das Letzte, was unsere Gesellschaft in der jetzigen Situation braucht“.
Auf Platz 17 ist ein weiterer Dauerbrenner: Johannes Gernert wirft in seinem Artikel die Frage auf, ob es strafbar ist, Filme auf Streaming-Portalen wie kinox.to anzuschauen. Der Text erschien bereits im Mai 2012, aber auch im Jahr 2013 interessierten sich noch 85.000 Leser dafür.
Ein Artikel aus dem Lokalteil Nord zur Rote-Flora-Demonstration ist auf Platz 18: Magda Schneider gibt dort die Aussagen eines Polizei-Insiders wieder. Ihm zufolge konnte es die Polizeiführung „einfach nicht ertragen, dass die verhasste linke Szene ungehindert für ihre Ziele laufen“ könne. Dabei seien „bewusst Kollateralschäden durch Ausschreitungen in Kauf genommen“ worden – „oder besser gesagt: gewollt“.
Auf Platz 19 ist ein Interview, in dem zwei Zoophile offen über ihre sexuelle Anziehung zu Tieren berichten und wie lange ein Schäferhund bis zum Orgasmus braucht.
Und schließlich ist auf Platz 20 ein Artikel von mir über einen tödlichen Polizeieinsatz vor dem Roten Rathaus. Nach Angaben der Behörden handelte ein Polizist in Notwehr, als er einen offenbar geistig verwirrten Mann erschoss. Ein Video zeigt, was tatsächlich passiert ist. Mein Artikel dazu ist mit 78.000 Klick knapp beliebter als das Impressum mit 74.000 Klicks.
Die allen Artikel, die auf taz.de stehen, erscheinen die meisten auch unverändert in der gedruckten Ausgabe. Von den Top 20 der meistgeklickten Artikeln sind allerdings auffällig viele (sieben Stück oder 35 Prozent) entweder exklusiv für taz.de geschrieben oder erheblich überarbeitet worden. Offenbar lohnt es sich für die Klickzahlen, Extra-Aufwand in eine extra Online-Fassung eines Textes zu stecken.
Insgesamt bin ich als Journalist übrigens mit den Präferenzen der taz.de-Leser zufrieden. Es heißt ja oft, dass online nur Schund gut geklickt wird. Bei uns ist aber in den Top 20 zum Beispiel nur ein Nackte-Brüste-Artikel (die Femen-Aktion im Kölner Dom), dabei hätten wir durchaus noch mehr solcher Artikel im Angebot gehabt. Stattdessen sind in der Liste gleich eine ganze Reihe von Artikeln, die ich auch auch zu unseren journalistischen Höhepunkten des Jahres zählen würde. Es stimmt auch nicht, dass online nur kurze Info-Häppchen gut laufen: Der Text auf Platz drei hat 23.000 Zeichen, in der gedruckten Ausgabe füllte er drei Zeitungsseiten.
Die Flattr-Anzahl ist übrigens völlig unabhängig von der Klickzahl. Unter Artikeln in den Top 20 aus diesem Jahr wurde der Text zu CDU-Landesinnenminister Uwe Schünemann 219-mal geflattrt, auf Platz zwei folgt mein Artikel zur East Side Gallery mit 111 Flattr-Klicks. Beim Hassenburg-Heimskandal waren es 54 Flattr-Klicks, bei den Zoophilen 19 und je 16 gab es für den Möhrchenpark an Spreeufer und den tödlichen Polizeischuss vor dem Roten Rathaus.
Vor drei Jahren hatte ich mal die These aufgestellt, dass die Texte am besten geflattrt werden, in denen es gegen die Lieblingsfeinde unserer Leser geht. Das lässt sich auch hier an dem Spitzenplatz – der Polemik gegen Uwe Schünemann – gut erkennen. Der Klick-Spitzenreiter, der Jürgen Trittin im Wahlkampf schadete, erhielt dagegen nur drei Flattr-Klicks.
Aber ganz so leicht ist es doch nicht. Denn der East-Side-Gallery Text auf Platz zwei der Flattr-Hitliste stellt linke Freiraum-Aktivisten bloß – ein klassisches taz-Klientel. Wenn man die Kommentare und das das Twitter-Feedback liest, dann wollten die Leser uns hier wohl dafür danken, dass die taz bei einem öffentlich zu der Zeit gerade breit diskutierten Thema neue Informationen einbringt, die die Sache in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ebenso zeigen es die Flattr-Klicks für den Haasenburg-Artikel: Auch gute Recherche wird honoriert.
[…] Jahr 2013 hatte der bestgelesene Artikel noch 185.000 Klicks. Im Jahr 2014 wurden neun Artikel häufiger gelesen. Der Spitzenreiter kommt sogar auf das […]