vonHelmut Höge 22.05.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Am 18.Mai starb der Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin.

Er wurde 92 Jahre alt. Seine ethnopsychoanalytischen Bücher, die er zusammen mit seiner Frau Goldy und seinem Freund Fritz Morgenthaler schrieb, waren in der Studentenbewegung quasi Pflichtlektüre. In den letzten 15 Jahren veröffentlichte er vor allem Erzählungen. Antonia Herrscher und ich interviewten ihn im Sommer 2008 – über „Jugoslawien“ und die dortige „Partisanenkrankheit“.

1948 hatte er, der zuvor als Arzt bei den “Tito-Partisanen” gearbeitet hatte, einen psychiatrischen Bericht über die in Jugoslawien nach dem Krieg bei demobilisierten Partisanen massenhaft aufgetretene “Partisanenkrankheit” veröffentlicht. Es war seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung und diese Krankheit bezeichnete er in seinem Aufsatz als hysterische bzw. epileptische “Kampfanfälle”. Sie bedeuteten für ihn das Gegenteil einer “Kriegsneurose”: Während diese den davon heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen quasi schützt, legte jene nahe, dass der oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals etwa 120.000 zumeist junge, ungebildete vom Land stammende Demobilisierte (1/3 davon waren Frauen).

Hier einige Teile aus unserem Interview mit Paul Parin:

„Die Arbeit als Chirurg bei den Partisanen in Jugoslawien war eine wichtige Erfahrung für mich. Zunächst während des Krieges, im Januar 1946 war ich dann noch einmal in Jugoslawien – in Nordbosnien. Das war noch vor meiner Arbeit als Psychoanalytiker. Und die „Partisanenkrankheit“ dann war so interessant, dass ich alles aufgeschrieben habe. Der Artikel für das renommierte Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, der daraus dann entstanden ist, hat lange gelegen. Ich habe ihn Professor Bruns geschickt, der ein Gutachten dazu gemacht hat, das muß in meinem Archiv in Wien liegen, das Gerry Trübswasser verwaltet. Bei Prof. Bruns habe ich dann auch eine Analyse gemacht. Eine Zürcher Kollegin, Ursula Hauser, die in Costa Rica ein psychoanalytisches Institut mit aufgebaut hat, beschäftigt sich in Nicaragua mit einer ähnlichen Symptomatik wie die Partisanenkrankheit. Es handelt sich dabei um Miskitos, sie sind früher von Wiedertäufern beeinflußt worden und waren dann als Gesellschaft derart isoliert, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Schließlich wurde der Stamm in zwei Teile geteilt – die einen wurden Sandinistas, die anderen Contras. Zuletzt kam es unter ihnen zu einer „ansteckenden Neurose“ – ähnlich der „Partisanenkrankheit“ (PK).

In Jugoslawien – gegen Ende des Krieges – waren die Ärzte zunächst ratlos – angesichts der plötzlich massenhaft auftretenden „PK“: eine „ansteckende Epilepsie? Das gibt es doch nicht!“ 1/3 der Kranken waren Frauen. Die demobilisierten Partisanen, die schon in der zuvor zusammengestellten Volksbefreiungsarmee gekämpft hatten, waren ratlos – sie drängten in ihre Einheiten zurück. 90% des Landes war verwüstet durch den Krieg. Die Häuser ihrer Eltern zerstört und ihre Eltern lebten vielleicht gar nicht mehr. Was sollten sie machen? Ihr Kampfanfall war auch ein Wunsch. In unserem Spital kam es immer wieder zu solchen Anfällen – einer umgedrehten Kriegsneurose. Das Spitalpersonal hielt sie fest, ich habe vorgeschlagen, laßt sie los, aber das ging nicht, sie verletzten sich bei ihren Anfällen. Besonders hat sich ein jugoslawischer Psychiater namens Klejn um sie gekümmert. Er hat dann später seine Praxis aufgegeben und ist Regisseur an der Belgrader Oper geworden. Ich habe einen Briefwechsel mit ihm über die PK geführt – Klejn hat ihren Sinngehalt genauso gesehen wie ich, auch in bezug auf die Ansteckung. Der Briefwechsel befindet sich im Archiv von mir.

Ich arbeitete erst in einem Spital in Montenegro, dann in einem auf einer Insel nahe Corcula, wo wir bis Februar 1945 in einem Franziskaner-Internat untergebracht waren. Dann wurde das Spital aufs Festland verlegt – nach Herzegnowy, wo wir das ehemalige Spital der königlich-jugoslawischen Marine übernahmen. Ich war der einzige Arzt dort für 660 Schwerverletzte und Typhuskranke. Zur chirurgischen Assistenz stand mir eine sehr gute Krankenschwester zur Seite. Die Tschetniks hatten ihren Mann und ihre Kinder erschossen. 2007 erfuhr ich: sie hatte neu geheiratet und einen Sohn, der Arzt in Paris geworden war.“

1. Exkurs – wie Paul Parin der Krankenschwester einmal das Leben rettete, sie sollte erschossen werden. Von Herzegnowy ging es nach Belgrad, wo sein Kollektiv in einem Vorort ein Spital der deutschen Luftwaffe übernahmen. Paul Parin operierte dort bis Juni 1944 (oder war es bis 1945 – nachkucken in: „Stell dir vor, es ist Krieg und wir gehen hin“), Goldy arbeitete dort bis November.

„Die Partisanenkrankheit ist in Slowenien, bei slowenischen Partisanen, nicht aufgetreten – es gab dort kein Sexualverbot. Zu wenig betont habe ich in meinem Artikel darüber, dass die Partisanenkrankheit ideologisch vorgebildet war – in Form von Trancezuständen. In Nordbosnien wurden die Töchter verheiratet. Wenn der Braut der Mann nicht gepaßt hat, dann bekam sie „Zustände“, um der Ehe mit ihm auszuweichen – bis ein Mann ausgesucht wurde, der ihr gepasst hat. Das habe ich nicht gewußt damals. Und wahrscheinlich ist die Partisanenkrankheit dort entstanden. Schließlich waren 80.000 – 120.000 junge Leute praktisch geisteskrank.“

2. Exkurs: Jugoslawische Politik in der ersten Nachkriegszeit. Der Sowjetische Wirtschaftsplan sah eine Abhängigkeit von der UDSSR vor. Tito wollte diesen Plan nicht annehmen. Die jugoslawische Fluglinie war bereits sowjetisch, und die Aktien der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft befanden sich ebenfalls in sowjetischem Besitz. Tito schickte zu Verhandlungen stets eine Delegation, statt selbst dorthin zu fahren. Tito ließ Belgrad im Oktober 1944 durch seine eigenen Truppen – fast ohne die Russen – befreien, die anschließend keine größeren Operationen in Jugoslawien mehr durchführten. Anfang 1948 stimmte das Zentralkomitee Titos Ablehnung des sowjetischen Wirtschaftsplanes für Jugoslawien zu. Und der Titoismus wurde zum Hauptfeind der UDSSR. Jugoslawien blieb russenfrei – und behielt dadurch seine Stellung zwischen Ost und West.

3. Exkurs über den 5-Sternegeneral der Sanitätstruppen Goyko Nikolis, dem obersten Vorgesetzten von Paul Parin, der über die Vereinigung der ehemaligen Spanienkämpfer in Jugoslawien Kritik an der Parteiführung äußerte, die er jedoch erst im französischen Exil veröffentlichte, er lebte dort in der Nähe von Bordeaux, wo es ihm dann sehr schlecht ging.

4. Exkurs über Alexandr Tisma: Er war Pfadfinder – als Jude, und der einzige der im Pfadfinderlager einen Pyjama mit dabei hatte.

Buchtip von Paul Parin: Lojze Kovacic „Die Zugereisten“ – eine Familienchronik über die Slowenen und ihre Unterdrückung.

Recherchen von mir über die Partisanenkrankheit:

Die Partisanenkrankheit war zuvor auch schon von Nadeshda Mandelstam
beobachtet worden: Sie fuhr mit ihrem Mann 1922 nach Suchumi – auf dem
Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem
Bürgerkrieg zurückkehrten, und ständig kam es unter ihnen zu solchen
“Kampfanfällen”.

Zuletzt berichtete Ursula Hauser in Gesprächen mit Paul Parin von ähnlichen Symptomen. Sie hatte in Costa Rica ein psychoanalytisches Institut aufgebaut und in Nicaragua Miskito-Indianer behandelt. Diese waren früher von wiedertäuferischen Brüdergemeinen beeinflußt worden, hatten ansonsten jedoch derart isoliert gelebt, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Ihr Stamm wurde dann in zwei Teile geteilt: die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras. Nach Beendigung der Kämpfe kam es unter ihnen ebenfalls zu einer “ansteckenden Neurose” – ähnlich der Partisanenkrankheit.

Von “Ansteckung” redet auch Roger Caillois in seinem Buch “Méduse & Cie”, in dem es um die “Mimese” geht, die er als tierisches Pendant zur menschlichen Mode begreift. Beides gründet für ihn “auf eine undurchsichtige Ansteckung”. Gilles Deleuze und Félix Guattari sprechen bei der Banden-, Meuten- und Schwarmbildung von “Ansteckung”, insofern es dabei um ein “Werden” geht. Dieses kommt durch Bündnisse zustande: “Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‘zu scheinen’ noch ‘zu sein’. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.”

Dies scheint mir, bei allem Respekt vor marxistischen (politökonomischen) Analysen, auch für die 68er-Studentenbewegung zu gelten, die sich u.a. in Frankreich und Italien mit den Arbeitern verbündete. Es gab kaum ein Land auf der Welt, das nicht von dieser Protestbewegung erfasst wurde. Und das geschah eben auf dem Wege der Ansteckung: über die Protest-Formen, -Moden, -Musiken, ihre mediale Verbreitung und durch direkten Kontakt mit den Protestierenden selbst. In wissenschaftlicher Hinsicht kann es so etwas wie eine “ansteckende Neurose” nicht geben, dennoch kennen wir solche Phänomene schon seit langem: im Mittelalter die Veitstänze und in den Sechzigerjahren die Hysterien der Beatlesfans. Sogar bei den frühen Sartre-Auftritten war es bereits zu solchen hysterischen Ohnmachten gekommen. Daneben gilt das Lachen, aber auch das Gähnen als ansteckend (nicht einmal Hunde können sich dem entziehen).

Um während der Studentenbewegung die Ansteckungsgefahr zu bannen, d.h. die Revolte an der Ausbreitung zu hindern, setzten die konservativen Kräfte in den meisten Ländern auf die heilsame Wirkung von Polizeiknüppeln. In der Protestbewegung selbst wußte man jedoch, dass gerade die Polizeiknüppel auf Demonstrantenschädel eine bewußtseinserweiternde Wirkung hatten – sogar auf unbeteiligte Fernsehzuschauer. Erst 20 Jahre Jahre später und nach dem “Zusammenbruch des Sozialismus” trauten sich die Politiker wieder, für alle Übel dieser Welt “68″ verantwortlich zu machen: Bei Tony Blair und Nicolas Sarkozy war dies sogar (analytischer) Teil ihres Regierungsprogramms. Auch die Universitätspräsidenten beeilten sich landaus landab, “die letzten Folgen von 68″ zu beseitigen, wie sie lauthals zu verkünden wagten. Die nächste Protestpest wird deswegen um so gewisser sein. Zumal es bis jetzt noch keinerlei Forschung darüber gibt, wie die Ansteckung wirklich erfolgt – geschweige denn, wie man sie im Keim ersticken kann.

Zur Sexualmoral der Partisanen:

In vielen Partisanenbewegungen – während des Zweiten Weltkriegs, aber auch noch im „Vietnamkrieg“ – herrschte eine rigide Sexualmoral: Die Kämpfer – Männer wie Frauen – waren auf das meist bäuerliche Umfeld, dem sie nicht selten selbst entstammten, angewiesen. U.a. darauf, dass man ihnen aus den Dörfern Mädchen und Frauen hochschickte, die sich als Versorger, Kuriere, und Mitkämpfer zur Verfügung stellen wollten, wie Paul Parin schrieb.

Der serbokroatische Schriftsteller Mladen Oljaca beschrieb in seinem Partisanen-Roman „Das Vermächtnis“, wie schrecklich sich diese Abhängigkeit gestalten konnte: Seine Gruppe nahm einmal zwei der Spionage für die Deutschen verdächtige junge Mädchen gefangen. Zwar kam beim „Verhör“ heraus, daß sie keine Spione waren, aber da man sie physisch gefoltert hatte, wurden sie trotzdem erschossen: Derart zerschlagen hätte man sie nicht ins Dorf zurücklassen dürfen, wo man weiterhin auf die Unterstützung der Bauern angewiesen war.

Der österreichische Historiker Erik Eberhard schreibt in einer neuen Studie über den kommunistischen Widerstand in Griechenland: „In den Bergen, außerhalb der Kontrolle von Familie und Dorfgemeinde, entwickelten sich freiere soziale und sexuelle Beziehungen, die aber von den Führungen von EAM (Nationale Befreiungsfront) und ELAS (Volksbefreiungsarmee) auch als Problem gesehen wurden. Denn natürlich führten sie dazu, daß immer wieder unverheiratete junge Frauen, die in der ELAS kämpften bzw. sie als Trägerinnen, Köchinnen, Krankenpflegerinnen unterstützten, schwanger wurden. In den konservativen Dorfgemeinden brachte das sowohl für die Frauen als auch für die Haltung gegenüber der ELAS ernste Probleme mit sich. Deshalb untersagte die ELAS-Führung Annäherungsversuche gegenüber Dorfbewohnerinnen und ahndete Belästigungen mit schweren Strafen. Innerhalb von ELAS und EAM wurde eine puritanische Moral gepredigt. Sexuelle Beziehungen waren streng verboten. Eine Aktivistin vom Peloponnes kam zu folgender Einschätzung: ‚Wenn nicht so strenge Standards bestanden hätten, wären weder Frauen noch Mädchen der Organisation beigetreten, noch hätten die Dörfler jemals die Kader und die Partisanen in ihre Häuser und dort schlafen gelassen, noch wäre ich persönlich in der Lage gewesen, mein Haus zu verlassen und am Widerstand teilzunehmen. Die Leute wußten, daß romantische Verwicklungen verboten waren‘. Beziehungen mußten der Organisation gemeldet werden, und in manchen Fällen wurde das Paar geographisch getrennt. Die EAM übernahm eine disziplinierende Rolle, die üblicherweise den Eltern vorbehalten war. Es wurde argumentiert, daß sexuelle Beziehungen ‚dem Kampf schaden‘ würden und dem Gegner die Möglichkeit zur Propaganda gäben, daß EAM und ELAS eine ‚degenerierte Gesellschaft‘ anstrebten.“

Teilweise unterwarfen sich auch die italienischen Partisanen einer ridigen Sexualmoral. Die Piemonteser Partisanen-Kurierin Anna Maria Follo legte jedenfalls noch 1995 Wert auf die Feststellung: „Es gab nicht einen einzigen Fall von Respektlosigkeit mir gegenüber. Ich bin ‚rein‘ aus den Bergen wieder zurückgekommen“ – das war im April 1945, als sie sich an der „Befreiung Turins“ beteiligte.

In den Partisanenbewegungen Osteuropas – insbesondere in Weissrussland, Litauen und Polen – wurde die Sexualmoral dagegen nicht derart betont. Im Gegenteil – kam eine der Meldegängerinnen in Andrej Wajdas berühmten Spielfilm über den Warschauer Aufstand 1944 „Der Kanal“ sogar zu dem Schluß: „Mit Liebe ist es leichter zu sterben“. Sie erschoß sich am Ende, weil ihr Geliebter ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Eine zweite Meldegängerin – „Gänseblümchen“ – versuchte ihren verwundeten Geliebten zu retten. Die ARD interviewte 2004 eine der wirklichen Kämpferinnen des Warschauer Aufstands – Wanda Stawska, die dabei auch auf „die schönen Momente des Warschauer Aufstands“ zu sprechen kam: Alle Jungs seien in die Kämpferinnen verknallt gewesen – „wir waren doch alle so jung. Und es entstand eine so unglaubliche Solidarität und Nähe in dieser ganzen Aussichtslosigkeit“. Ähnlich äußerten sich auch einige andere weibliche Verbindungssoldaten im Warschauer Aufstand, die der Freiburger Regisseur Paul Meyer 2006 für seinen Film „Konspirantinnen“ interviewte. So meint eine der Frauen z.B.: „Es war die schönste Zeit in meinem Leben“.

Auch die in den Wäldern untergetauchten bzw. von den Wäldern aus operierenden Partisanen waren dort in sexueller Hinsicht eher freier als in ihren alten Milieus zuvor – und das wirkte anscheinend auf die Dörfer zurück. Der polnische Dichter Jan Himilsbach schrieb – über seine Mutter, die während des Krieges mit Deutschen Umgang hatte: Die Nachbarn sagten ihr, wenn sie einen Kerl haben wolle, dann „solle sie sich als Patriotin und Antifaschistin jemanden aus dem Wald holen, wo in letzter Zeit Partisanen wie Pilze aus dem Boden schossen.“

Nicht selten sehnten sich die Partisanen nach dem Sieg zurück „in die Wälder“, wo ein stärkeres „Gemeinschaftsgefühl“ geherrscht hatte. Zudem überdauerten die dort eingegangenen Liebesbeziehungen nur selten das Ende der Kampfhandlungen. Rochelle Sutin, eine Partisanin aus Litauen schätzt, dass etwa 80% der Paare, die im Wald bzw. im Kampf zusammen gefunden hatten, danach wieder auseinander gingen: „Die Überlebens- und Nützlichkeitsaspekte waren in Friedenszeiten nicht mehr tragfähig“. Sie selbst trennte sich nicht von ihrem Mann, dennoch mußte auch sie „umdenken“: „Ich war inzwischen wie ein Waldtier – ich hatte mich an das Leben in frischer, freier Luft gewöhnt“.

Im Wald konnte man jedoch von einer „Waldkrankheit“ befallen werden. Der polnische Schriftsteller Yuri Suhl hat sie in seinem Roman „Auf Leben und Tod“, der von jüdischen Partisanen in einem ukrainischen Wald handelt, die unter der Führung von Mischa Gildenmann kämpften, beschrieben. Eine Krankenschwester in einem Waldlager erklärte sie gegenüber einem Patienten so: „Der Wald kann dich heilen und krank machen. Einige Partisanen haben jahrelang Krankheiten gehabt, die im Wald verschwanden. Keiner weiß warum. Es ist ein Rätsel. Und andere, die vorher nie etwas gehabt haben, werden krank, so wie du, mit hohem Fieber und Schüttelfrost.“

In der Sowjetunion gab es im Zweiten Weltkrieg die größten Partisaneneinheiten und von ihnen befreite Gebiete in Weissrussland. Dort entstand später dann auch eine Literatur, vor allem von Ales Adamowitsch und Wassil Bykau, die sich fast ausschließlich mit dem Partisanenkampf befaßte, weil der Einzelne dabei noch moralische Entscheidungen treffen kann und muß, während er in der Armee nur noch ein Rädchen im Getriebe einer gigantischen Militärmaschinerie ist, auch wenn er weiterhin Teilnehmer an einem „gerechten Krieg“ bleibt. Diese daraus entstandene Literatur kann man als „sozialistischen Existentialismus“ bezeichnen. In Frankreich entstand aus dem Partisanenkampf gegen die Deutschen zur selben Zeit explizit ein „Existentialismus“, er ist mit den Résistancekämpfern Sartre und Camus verknüpft. In Italien sprach man von Neoverismus oder Neorealismus, der dann vor allem durch Filme – u.a. von Rossellini – berühmt wurde. Das erste neorealistische Manifest wurde bereits 1943 in einer Partisanenzeitschrift veröffentlicht.

Die vietnamesische Partisanenarmee versuchte die strenge Moral der Bauern anscheinend sogar noch zu überbieten. Dazu kam, dass sie in ihrem Kampf gegen die Militärdiktatur und das US-Militär immer wieder auch auf die Unmoral der Amerikaner abzielte: Die Amerikaner zerstörten das Land und trieben die Bauern in die Städte, wo sie nur in Bars und Bordellen arbeiten oder kriminell werden konnten. Ein Sprecher der Nationalen Befreiungsfront erklärte ihren siegreichen Kampf schließlich mit dem – was man fast ein „Partisanengesetz“ nennen könnte: „Der Unterschied in der Feuerkraft wird durch den Unterschied in der Moral aufgehoben“. Umgekehrt wurde der Zusammenbruch der gegnerischen Wehrpflichtigenarmee Südvietnams damit erklärt, dass „sie moralisch am Ende“ war. Wenn ein Bauer in einem der von den Amerikanern eingerichteten „Wehrdörfer“ seine Töchter dort zur Schule schicken mußte, dann verbot er ihnen u.U. Jeans zu tragen oder Kaugummi zu kauen – was ihn nicht selten sogleich in Verdacht brachte, ein „Vietkong“ zu sein. Bald war für die Amerikaner jeder Vietnamese ein „Vietkong“. Der während des Krieges in Hué als Arzt tätig gewesene Erich Wulff schrieb in seinem Buch „Lehrjahre in Vietnam: Die Guerilla auf dem Land „wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt“.

Wenn man Paul Parin folgt, dann hatte das rigide partisanische Sexualtabu in Jugoslawien, mit der Ausnahme Slowenien, zur Folge, daß nach dem Krieg dort die „Partisanenkrankheit“ epidemische Ausmaße annahm. Dabei bekamen die ehemaligen Kämpfer plötzlich massenhaft hysterische Kampfanfälle: „In früheren Kriegen hatten Kriegsneurosen stets den verborgenen Sinn, einem unerträglichen Geschehen zu entrinnen…Bei Jugoslawiens Partisanen war es umgekehrt. Vielen war es unmöglich, den Kampf aufzugeben“, schrieb Paul Parin. Es wurden deswegen Spezialkliniken für diese nach dem Sieg im Volkskrieg immer häufiger auftretenden Fälle eingerichtet – und jugoslawische Ärzte begannen mit der Erforschung dieser im Gegensatz zur „Kriegsneurose“ bis dahin noch unbekannten Krankheit.

Durchgesetzt hat sich seitdem jedoch die andere Seite – mit einer anderen Begrifflichkeit: Als die US-Soldaten nach dem Vietnamkrieg nach Hause kamen, wurden sie von der kriegsmüden und in der Haltung zum Krieg gespaltenen Bevölkerung nicht gerade freudig empfangen. Sie organisierten sich und gründeten die gewerkschaftsähnliche Organisation der Vietnam Veterans. Mit ihrer Lobbyarbeit gelang ihnen 1980 die Anerkennung und damit Etablierung der PTSD „Post-Traumatic-Stress-Disorder“ (posttraumatischen Belastungsstörung) durch die „American Psychiatric Association“. „Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden,“ schreibt die Soziologin Eva Illuoz. Von den Vietnam-Vets aus wurde „das PTSD dann auf immer mehr Vorkommnisse und Fälle ausgeweitet, etwa auf Vergewaltigung, terroristische Angriffe, Unfälle, Verbrechen etc..“ Inzwischen sind wir mehr oder weniger und im Zweifelsfall alle gestresst. Der Stress der Vietnam-Vets ist ein Vorläufer der Kriegsneurose, genauer gesagt: ein Nachläufer. PTSD ist die Verlängerung der Kriegsneurose in den Frieden. Letztere wird seit dem Ersten Weltkrieg systematisch erforscht und klassifiziert, vorher gab es nur Simulanten. Beim PTSD wie auch bei der Partisanenkrankheit ging es in Friedenszeiten nicht zuletzt auch um die Rente – dafür war ihre offizielle Anerkennung als Leiden Voraussetzung. Anders gesagt: „Die Klassifizierung von Pathologien entsprang der Tatsache, dass die mentale Gesundheit aufs engste mit der Versicherungsdeckung verknüpft wurde.“ (Eva Illouz)

Das ist noch nicht lange so. Partisanen hat es dagegen schon immer gegeben, so lange wie es Volkskriege und -aufstände gegen innere oder äußere Bedrückungen gab. Und meistens standen sie in einem Zusammenhang mit der Landbevölkerung. Einige Partisanentheoretiker, wie der BBC-Programmchef Steward Hood, der im Zweiten Weltkrieg Partisanenführer in der Toskana war, meinen, dass nunmehr, mit dem Verschwinden der Bauern auch kein Partisanenkampf mehr möglich ist. Nach dem euphorischen Friedensschluß, auf dem Weg nach Hause, überfiel ihn seiner eigenen Aussage zufolge erst einmal ein Posttraumatisches Syndrom, das sich jedoch eher in Erschöpfung denn als Weiter-Kämpfen-Wollen äußerte.

Was der Wilderer im Frieden, ist der bäuerliche Partisan im Krieg bzw. unter fremder Besatzung. Deswegen empfiehlt Paul Parin den siegreichen Partisanen nach ihrem Krieg statt zu herrschen lieber jagen oder angeln zu gehen. In einer fast durchurbanisierten Welt kann es laut Hood höchstens noch eine Stadtguerilla geben – und ihre Krankheit, das wäre das PTS. Tatsächlich begriffen sich die Mitglieder der RAF und der „Bewegung 2.Juni“nach ihrer Entlassung aus der Haft dann auch als „traumatisiert“. In langen Gesprächen mit Psychologen löste sich dieses Idiotenwort (all labelling is lethal) jedoch auf – zugunsten der dahinter sich verbergenden individuellen Leidensgeschichten. Siehe dazu: „Nach dem bewaffneten Kampf“, herausgegeben von Angelika Holderberg – im Psychosozial Verlag.

Neuerdings gibt es – in der Berliner Edition Freitag – ein weiteres Buch mit Geschichten von RAF-Frauen, herausgegeben von Traute Hensch und Katrin Hentschel: „Terroristinnen Bagdad 77“.

Traute Hensch gab zuvor in der selben Editionsreihe auch einige Bände mit Erzählungen von Paul Parin heraus. Sie sind alle ganz wunderbar. Am meisten hat mich allerdings seine Geschichte „Die Leidenschaft des Jägers“ beeindruckt – und vor allem überrascht. Sie wurde in einem der Verlage von Sabine Groenewold veröffentlicht.

Paul Parin war selbst ein leidenschaftlicher Jäger und Angler, der bereits als 13jähriger bei seinem ersten tödlichen Schuß auf ein Haselhuhn einen Orgasmus bekam: „Seither gehören für mich Jagd und Sex zusammen“. Dieser Doppelschuß, wenn man so sagen darf, machte ihn zum „Mann: glücklich und gierig“. Vor dem offiziellen Erwachsenenstatus steht aber noch eine sadistische „englische Erziehung“: Bei einer Jagd mit Hunden beging er als junger Treiber so viele Fehler, dass sein gutsherrschaftlicher Vater ihn von seinem Förster auspeitschen läßt – „auf den blanken Hintern“ inmitten der Treiberschar. Die darf ihn sich gleich anschließend noch einmal im Keller des Landschlosses vornehmen, dabei ziehen sie ihn ganz aus. Sein „Papa stand daneben und genoss das Schauspiel“. Anschließend legte sich einer der Burschen nackt neben ihn, „nahm meinen Pimmel in die Hand, steckte ihn in den Mund und fing an zu saugen und mit der Zunge zu streicheln. ‚Er will mich trösten‘, dachte ich und drehte mich so, dass ich seinen Pimmel auch zu fassen kriegte, und steckte ihn meinerseits in den Mund. Es war wirklich ein Trost.“

Das war aber noch nicht die eigentliche „Initiation“. Die kam erst mit 17 – als er seinen ersten Bock schoß. Ein Onkel hatte ihn in seine Jagdhütte eingeladen, als Paul Parin oben ankam, bedrängte dieser gerade mit heruntergelassener Hose seine Haushälterin am Kachelofen. „Komm in zehn Minuten wieder,“ rief ihm der Onkel zu, „dann sind wir mit Vögeln fertig. Dann sind auch die Mädels da, die ich gemietet hab. Sie sind scharf auf dich, haben sie gesagt“. Abends erzählt der Onkel Jagdgeschichten, danach geht der Bub mit einem der drei Mädchen auf sein Zimmer. Erst läßt sie sich von ihm mehrmals mit der Hand befriedigen, dann holt sie ihm einen runter. Anschließend schläft sie sofort ein, er kann nicht schlafen, stattdessen zieht er sich wieder an, schnappt sich sein Gewehr und geht in den Wald, wo er dann von einem Hochsitz aus einen „starken Bock“ mit Blattschuß erlegt. Beim Frühstück muß er alle Einzelheiten erzählen. Auch das gehörte zum „Ritual“.

Seitdem erfaßte ihn „das Jagdfieber immer wieder mit der gleichen Macht wie sexuelles Begehren“. Das ging auch seinem Jugendfreund so: „Dulli war Jude und zeitlebens dem Jagdfieber verfallen. Von seinem liebsten Jagdkumpan an die deutsche Besatzungsmacht verraten, wurde er Widerstandskämpfer und in der titoistischen Republik Slowenien Minister für Jagd und Fischerei“. Ein „aufgeklärter Mensch jagt nicht“ und auch ein „Jude jagt nicht“ – das sind „gleichermaßen Gesetze abendländischer Ethik. Ich muss mich zu den Ausnahmen zählen“. Aber Paul Parin hat von sich selber und vielen anderen erfahren: „Wenn mein Vater nicht seine Jagd gehabt hätte, wären wir Kinder in der strengen und sterilen Familienatmosphäre erstickt“. Deswegen kann er jetzt eher genuß- als reuevoll z.B. seine Jagd auf eine Gazelle in der Sahara und das Forellenfischen in Alaska – als Sucht – beschreiben.

„Sucht heißt, dass der narzisstische Genuß am Morden mit der Jagd weltweit einen Freibrief hat“. Am Beispiel von Milovan Djilas, leidenschaftlicher Angler, Mitkämpfer und Vertrauter Titos, gibt er jedoch zu bedenken: „Später, als Dichter, wusste Djilas: Keine Ausübung der Macht über das Volk, über die Schwachen bleibt ohne verbrecherische Taten. Wäre es nicht besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben und den flinken Forellen nachzustellen…?“ Im Russischen gibt es ein volkstümliches Wort für Jagd und Lust: Ochota. Parins eigene „Jagdleidenschaft“ erlosch bald nach dem 84. Geburstag seiner Frau Goldy, am 30 Mai 1995: „An diesem Tag habe ich im Fluß Soca in Slowenien die größte Forelle meiner Laufbahn gefangen“. Anschließend erzählte er seiner Frau, daß er am Fluß einen jungen verwilderten Mann, der ihn beklauen wollte, fesselte – dann hätte er ihn ausgepeitscht bis zum „Flash“, woraufhin sie beide zum Orgasmus gekommen wären. Während Paul Parin diese Geschichte schließlich als eine „Phantasie“ darstellt, ist die Psychoanalytikerin Goldy sich da „nicht so sicher…Kann sein, dass du nicht nur die Riesenforelle erwischt hast, sondern auch einen Gayboy aus Kärnten“. Sie einigen sich darauf: „Es könnte so sein oder auch nicht…Gehen wir schlafen“.

In einer Art Nachwort rühmt Christa Wolf Paul Parins „Lebenskunst und Schreibkunst“, diese im richtigen Augenblick kennengelernt zu haben, hält sie für eine „glückliche Fügung“. Mich hat sie nun eher verwirrt. Während meiner Arbeit als landwirtschaftlicher Betriebshelfer hatte ich oft mit Bauern zu tun, die Jäger bzw. Treiber waren. Und oftmals kam mir das Dorfleben völlig oversexed vor, voller roher Triebe, die mich erstaunten, aber denen gegenüber ich meine eigenen auch als verzärtelt und allzu harmlos empfand. So erfuhr ich z.B. von einer Melkerin, mit der ich in einer LPG bei Babelsberg arbeitete, dass sie beim letzten Fest mit zwei Kollegen angetrunken aufs Feld gegangen wäre, um mit ihnen zu vögeln. Aber statt über sie, die sich bereits nackt hingelegt hätte, dankbar herzufallen, hätten die beiden Nichtsnutze sie bloß angepisst. Solche Schufte gäbe es. Ich war erstaunt, mit welcher Freimütigkeit sie mir das erzählte. Wollte sie mich schockieren? Nie hätte ich das sündige Dorfleben aber mit der Jagd in Zusammenhang gebracht, obwohl die Männer andauernd und bis ins hohe Alter den Frauen hinterherjagten, wie sie das selber nannten, und ich dabei selbst auch nicht gerade erfolglos war, obwohl mir weder die Jagd auf Wild noch das Angeln Spaß macht: Das eine bereitet mir hernach schlechte Träume oder ein schlechtes Gewissen, das andere langweilt bzw. im Anbissfall ekelt mich. Zudem waren und sind die Jagdgesellschaften meistens Männerrunden, mit deren Geschichten und Ritualen ich nichts anfangen kann. Als unnützen „Sport der Reichen und Mächtigen“ lehnten selbst „meine“ Bauern die Jagd zunehmend ab. Paul Parin ist 1916 auf einem slowenischen Landschloß geboren. Und in seiner Jugend lagen die Worte für Fleisch (viande), Vergewaltigung (viol) und Gewalt (violence) vielleicht noch enger zusammen als es bis heute im Französischen semantisch der Fall ist. Diesen Einbruch der Natur in die Kultur haben wir inzwischen mit der urbanen Trennung des Tieretötens vom Fleischessen vielfach für uns abblockiert, wobei das Morden – Jagen oder Schlachten – ebenfalls hochkultiviert/industrialisiert wurde. Von hier aus stellt sich mir die Lektüre der Jagd-Erzählungen von Paul Parin wie ein gelungener – weil verstörender – Einbruch in meinen psychischen Haushalt dar. Bisher hatte mich die ganze Jägerei – pro und contra – eher kalt gelassen.

In der Zeitschrift „konkret“ hat Klaus Theweleit gerade noch einmal den Aspekt des Lustmordens bei den deutschen Vernichtungsfeldzügen in Osteuropa herausgearbeitet, wobei er von Pasolinis Film „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ ausging und diese „Transgressionen ins gesellschaftlich Unerlaubte“ als „Parallelhandlungen zum politischen Ermächtigungsgesetz“ bezeichnete. Demnach wäre die Jagd eine „Transgression des Lustmordens ins gesellschaftlich Erlaubte“.

Nun gibt es aber noch eine erregendere Tätigkeit als die des Jägers: das ist die des Wilderers, „der gleichzeitig Jäger und Gejagter ist“, wie der Sozialforscher Norbert Schindler in seiner wunderbaren Studie über das Salzburger Land „Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution“ schreibt. Darüberhinaus ist der bäuerliche Wildschütze auch noch in Friedenszeiten das, was der Partisan im Krieg ist. Und der Partisan ist immer auch und zugleich Wilderer, denn alles was er zum Leben braucht, muß er dem Feind abringen, und dazu gehört auch das Wild in den Bergen, das dieser für sich beansprucht. So wie in Friedenszeiten der „rechtmässige Herrscher“, dessen Besitzansprüche an Wald und Wild der bäuerliche Freischütze nicht akzeptieren will und kann. Denn mehr noch als die wechselnden und willkürlichen (adligen) Landbesitzer ist er ein Teil des Territoriums und umgekehrt. Aus dieser genauen Ortskenntnis resultiert dann auch meist seine Überlegenheit über die ihm nachstellenden Jäger und Förster des Landbesitzers – und erst recht seine Überlegenheit gegenüber feindlichen Okkupationsheeren, die ihn auf seinem partisanischen Territorium bekämpfen, ja sogar gegenüber einer möglichen „Anlehnungsmacht“, die bereit und in der Lage ist, ihre Soldaten an seiner Seite kämpfen zu lassen.

Aber müßte man dann nicht Wilderer gegen Partisanen erfolgreich einsetzen können? Die Nazis ließen 1942 alle inhaftierten Wilderer im KZ Oranienburg konzentrieren und machten daraus die erste Partisanenbekämpfungseinheit der deutschen Wehrmacht, genommen wurden jedoch nur solche, die zuvor mit dem Gewehr und nicht – feige – mit Fallen gewildert hatten. Mit letzterer durften allein die Jäger und Förster der Waldbesitzer „arbeiten“. Die Wilderer wurden der Brigade Dr. Dirlewanger zugeteilt. … Wie Gregory Bateson richtig bemerkte: „Die Karte ist nicht das Gelände“, d.h. die alpinen Wilderer bewegten sich als Partisanenbekämpfer im Osten außerhalb ihres Heimatterritoriums und waren deswegen als solche nicht besonders erfolgreich. Sie hielten sich deswegen an die Zivilbevölkerung, vor allem an wehrlose Frauen und Kinder und Alte, die sie in Weißrussland, Polen und in der Slowakei zu tausenden ermordeten – und hernach einfach als Partisanen abbuchten.

Abschließend noch ein kurzer Auszug aus einem Nachruf auf Paul Parin, den der Zürcher Psychoanalytiker Mario Erdheim in der heutigen WOZ veröffentlichte:

„Als seine Frau Goldy 1997 starb, dachten viele, dass auch sein Leben bald zu Ende gehen würde. Und wieder wurde eine neue Seite von ihm sichtbar: ein starker Lebens­wille, gepaart mit stiller Lebensfreude. Voller Interesse nahm er Teil am Leben der vielen Menschen, die ihn besuchten und die er miteinander zu verbinden wusste. Charakteristisch war der Artikel über die Pharmagreise, in welchem er mit subversiver Lust eine Art Drogencocktail vorschlug, um im Alter die alte Vitalität weiterhin zu geniessen.

2005 erblindete Paul Parin. Für jemanden, der so stark auf Zeitungen und Bücher ausgerichtet war, schien das ein schrecklicher Schlag zu sein. Aber auch da setzte sich sein Lebenswille durch: Er widmete sich den Hörbüchern und hörte sich all das an, was er früher nicht oder kaum gelesen hatte: die Klassiker. Seine Neugier war unerschöpflich. Es war diese Lebendigkeit und Neugierde, die ihm ein schönes Greisenalter beschieden. Frauen und Männer, die zu Freunden geworden waren, taten sich zusammen und organisierten ihm seinen Alltag. Es hatte etwas sehr Berührendes: Paul und Goldy wollten keine Familie haben; aber am Schluss boten die Freunde mehr, als Familien sonst bieten: Nicht aus Verpflichtung, sondern aus Liebe und Sympathie wandten sie sich ihm zu.“

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/05/22/paul_parin/

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kommentare

  • Eine Frage könnte man sich noch zum Wajdas Film „Der Kanal“ stellen – gewissermaßen von hier aus: die beiden Liebesbeziehungen, die fast Hauptinhalt des Films sind, könnten sie nicht auch für die Unmoral der polnischen „Heimatarmee“ stehen, mindestens die eine, in der der Offizier am Ende seiner Freundin gesteht, dass er verheiratet ist und Kinder hat: Indem Wajda dies quasi aus der Sicht der (starken) Frauen erzählt, könnte die e.e. Episode auch eine Kritik an der bürgerlichen Moral sein, eine Moral, die im kommunistischen Widerstand überwunden wurde oder werden sollte.

  • Lieber Höge,
    zum „traumatischen Wiederholungszwang“ kann man sehr Erhellendes lesen (falls nicht schon bekannt) in Christoph Türcke, PHILOSOPHIE DES TRAUMS (eine „Mentalarchäologie“ in Weiterentwicklung von Freud).Gruß!

  • Am 26.3.2001 veröffentlichte Gabriele Goettle in der taz ein Interview mit Paul Parin – „der Aufrührer“ genannt:

    Ethnopsychoanalyse ist, knapp gesagt, die Anwendung der psychoanalytischen Methode auf die Ethnologie, ihre Verbindung miteinander. Sigmund Freud selbst hat mit seiner Arbeit „Totem und Tabu“ bereits 1912 diese Verbindung vorgedacht. Es folgten verschiedene Ansätze in Europa und Amerika, psychologisch orientierte Untersuchungen anderer Kulturen zu entwickeln, was einer Revolution gleichkam, denn die älteren Völkerkundler untersuchten zwar akribisch fremde Kulturen, Völker, Stämme, aber fast ausschließlich in der herkömmlichen wissenschaftlichen Weise, rein quantitativ. Personen oder gar Individuen kamen allenfalls kurz und rein als Informatoren zu Wort. Die Ethnopsychoanalyse hingegen legte gerade auf das persönliche Wort großen Wert, auf Gespräch und Erzählung. Was dabei herauskam, geht über vergleichende Studien weit hinaus. „Erst die Ethnopsychoanalyse hat eine Theorie des Subjekts mit dem bestehenden Wissen um die verschiedenen Kulturen zu einem neuen Wissen vom Menschen und seinen so vielfältigen Lebensformen und -möglichkeiten verbunden.“ (P. Parin). Das Dreigestirn Paul Parin, Goldy Matthèy und Fritz Morgenthaler, allesamt beteiligt, hat Pionierarbeit geleistet. Sie waren innerhalb des deutschsprachigen Raums die ersten Psychoanalytiker, die bei ihren Feldforschungen in den 50er- und 60er-Jahren die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode erprobt, angewandt und ausgewertet haben. Mit ihren ethnopsychoanalytischen Studien bei den Dogon und den Agni in Westafrika haben sie nachgewiesen, dass die Psychoanalyse sich auch zum Verständnis fremder Kulturen eignet, und – was ganz besonders wesentlich war – es hat sich der vergleichende Blick zwischen der eigenen und der fremden Kultur entscheidend verschärft, das Verständnis vertieft.

    Der Ansatz des Züricher Dreigestirns unterschied sich von anderen Ansätzen in Europa und Amerika dadurch, dass man die Psychoanalyse als Konfliktpsychologie verstand, als Instrument zur differenzierten Betrachtung und Analyse gesellschaftlicher Strukturen. Die Rolle des Psychoanalytikers verstand man als subversive, gesellschaftskritische Tätigkeit, als Wühlarbeit (Parin), als das Aufrühren des Unbewussten (Goldy Matthèy). Folgerichtig wurden ihre ansonsten eher nur in Fachkreisen wahrgenommenen Arbeiten mit einem Schlag berühmt. Die 68er-Bewegung feierte sie als Instrumentarium der Gesellschaftskritik, man teilte die Leute entsprechend ihrer Eigenschaften und Auffälligkeiten in Dogon und Agni ein, man verwies auf die Möglichkeit anderer, freierer Formen und Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Dieser Ansatz von Parin und seinen Mitstreitern hat unmittelbar mit deren Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalismus zu tun und mit der von ihnen gehüteten Tradition und Verbindung marxistischer und psychoanalytischer Theorie.

    Paul Parin ist eine Art Saurier. Hinter und neben ihm sind Reiche und Republiken zusammengebrochen. Politische Haltung und wissenschaftliche Arbeit entstanden in diesem Kontext, wurden durch ihn ebenso geprägt wie durch ein seltsames Aufwachsen nach zweijähriger Fixierung im Gipsbett. Die Beobachtungsgabe lag in der Familie und hatte bereits dabei geholfen, ein exorbitantes Familienvermögen zu begründen. Der Großvater soll als junger Mann und Speditionsgehilfe nach fünfjährigem Schweizaufenthalt mit seinen Ersparnissen unter dem Hemd nach Triest zurückgekehrt sein und dort am Hafen zufällig eine entscheidende Beobachtung gemacht haben. Bei strömendem Regen wurde die Ladung eines brasilianischen Kaffeefrachters gelöscht. Die Bohnen verschimmelten auf der Weiterreise und kamen verdorben in Wien und Budapest beim Empfänger an. Der Großvater errichtete eine trockene Lagerhalle, sorgte für schützendes Segeltuch und gab die Garantie, den Kaffee in tadellosem Zustand auf die Weiterreise zu bringen. In wenigen Jahren beherrschte er den gesamten Kaffeetransport der Monarchie, gründete ein Netz von Versicherungsgesellschaften, eröffnete zahllose Bierbrauereien und finanzierte die Gasbeleuchtung der Städte. Seinen ältesten Sohn ließ er in England erziehen, den jüngsten, Parins Vater, in einem Genfer Knabeninstitut.

    Eine weit reichende Entscheidung war der eher nebensächliche Kauf des Schweizer Bürgerrechts 1899 in einem Tessiner Dorf für 500 Franken. Damit waren alle Nachkommen automatisch Schweizer. Die Söhne, assimilierte Juden, wurden Lebemänner, Auto- und Ballonfahrer, Großwildjäger und Trophäensammler in Indien und am oberen Nil. Parins Vater bekam wegen zunehmender Blässe ein Landgut in Slowenien gekauft, ein ehemaliges Dominikanerkloster aus dem 15. Jahrhundert. Es wurde von einem Verwalter geführt, diente primär zu Erholungszwecken und nach der Verehelichung des Vaters mit einer ebenfalls reichen Frau aus jüdisch-großbürgerlicher Familie als fester Familiensitz. Hier, auf Novikloster in Polzela, wo Mitteleuropa und der Balkan aneinanderstoßen, kam 1916 Paolo Giulio Fortunato Parin, genannt Paul, als Großgrundbesitzersohn auf die Welt. Novikloster lag bis 1918 in K. u. k.-Österreich, dann im Königreich Jugoslawien, ab 1945 in der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien und nach 1992 in der Republik Slowenien. Hier wuchs Paul Parin auf, zusammen mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder. Die Familie lebte standesgemäß mit Jagd und Gesellschaften, von den Erträgen aus Vermögen, Hopfenanbau, Wald, Viehwirtschaft, Fischerei und von der Arbeit landloser Tagelöhner.

    Die Kinder wurden von österreichischen Hauslehrern unterrichtet und von Schweizer Gouvernanten erzogen. Der Vater war liberal gesonnen, Republikaner und unerbittlicher Patriarch. Seine Kinder hatten intelligent, gebildet und wohlerzogen zu sein, hatten sich zügig zu entwickeln und dann zur Universität zu gehen – das wurde kommentarlos vorausgesetzt. Parin erzählt: „In Zagreb an der Universität habe ich in der Früh Sport gemacht, bin geritten, habe Tennis gespielt, am Nachmittag besuchte ich die Zentralbibliothek – ein wunderschöner Jugendstilbau -, dort habe ich in deutscher Sprache all die marxistischen Klassiker gelesen und auch die Schriften von Sigmund Freud, danach war ich bis zwei Uhr nachts mit Freunden und Künstlern zusammen.“ Derart vorbereitet brachte er nachts Flüchtlinge in Sicherheit und nahm 1938 sein weiteres Medizinstudium in Zürich auf. 1941 flohen Parins Eltern vor den Deutschen in die Schweiz. Auf Novikloster hauste die Gestapo, bis es von Partisanen in Brand gesetzt wurde. Parin sagte dazu 50 Jahre später: „Die Schlösser in der Gegend haben mir drei Mal im Leben Freude bereitet: als Kind, als ich in einem solchen Schloss aufwuchs, als die Schlösser endlich angezündet wurden, und heute, wo sie mit Kunstverstand renoviert werden.“

    1939 lernt er Goldy Matthèy kennen: 1911 in Graz geboren, Tochter einer wohlhabenden und später verarmten Schweizer Familie. Sie kam gerade zurück aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo sie bei den Internationalen Brigaden das Zentrale Laboratorium der Sanitätsdienste organisiert hatte. Sie baute in Zürich ein kleines hämatologisches Labor auf, von dem in den folgenden Jahren drei Personen lebten: sie, Paul und ihr Bruder, der mit Paul Medizin studierte. Paul Parin bewunderte die selbstständige und unerschrockene Frau sehr. Auch er wäre gerne nach Spanien gegangen: „Aber bei den Internationalen Brigaden konnten sie Medizinstudenten nicht brauchen, auch keinen Kämpfer, der hinkt – ich habe immer gehinkt, das ist mir geblieben von meiner angeborenen Hüftluxation.“ 1944 ergriffen Paul und Goldy die Gelegenheit, für ein Jahr als Freiwillige nach Jugoslawien zu gehen, wo sie auf der Seite der Partisanen das Zentralspital betreuten, Paul Parin arbeitete als Wiederherstellungschirurg. Nach Kriegsende kehrte Goldy neuerlich nach Jugoslawien zurück, anfangs ohne Paul, um mit den in der Schweiz gesammelten Geldern gemeinsam mit Fritz Morgenthaler und anderen die Poliklinik Prijedor in Nordbosnien aufzubauen. Aus dieser Zeit rührt die lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit dieser drei zentralen Personen.

    Morgenthaler wurde 1919 geboren, der Vater war ein bekannter impressionistischer Maler, die Mutter Hebamme und eine berühmte Puppenmacherin. Morgenthaler schloss 1945 sein Medizinstudium ab und machte, ebenso wie Paul Parin und Goldy Matthèy, eine psychoanalytische Ausbildung, nach deren Beendigung er in die gemeinschaftlich eröffnete psychoanalytische Privatpraxis in Zürich eintrat. Die drei Freunde betrieben sie fast ein ganzes Leben lang, machten gemeinsame Forschungsreisen (später zusammen mit Morgenthalers Frau), sie diskutierten, schrieben und publizierten gemeinsaam ihre Forschungsergebnisse. Neben der Ethnopsychoanalyse galt Morgenthalers wissenschaftliches Interesse der psychoanalytischen Theorie der Sexualität, insbesondere der männlichen Homosexualität. Außerdem war er ausgebildeter Jongleur und ein hervorragender Maler. Morgenthaler starb 1984. Goldy Parin verstand sich nicht nur auf Röntgenassistenz, Psychoanalyse und Blutbild, sie hatte auch eine Ausbildung als Keramikerin und konnte zur Gitarre die verschiedensten Chansons und Partisanenlieder singen. Sie starb 1997. Paul Parin konnte reiten, und das Schießen lernte er als Knabe von einer lesbischen Gräfin, er konnte mit Pferdegespannen und Kutschen umgehen, er konnte pflügen, wusste eine Menge über Landwirtschaft, Viehzucht und die Herstellung von Bier.

    Um 15 Uhr sind Elisabeth und ich mit ihm verabredet. Er wohnt an der stark befahrenen Uferpromenade des Zürichsees nahe der Oper in einem gediegenen, alten Mietshaus aus hellem Sandstein. Eine polierte Messingtafel neben der Eingangstür weist auf die Praxis von Dr. med. Parin hin, an der Wohnungstür im Erdgeschoss stehen auf dem Schild noch alle drei Namen: Parin, Morgenthaler, Parin. Ich klingle, wenig später ist durchs geriffelte Milchglas hindurch schemenhaft eine sich nähernde Person zu erkennen. Die Tür öffnet sich weit, und vor uns steht in leicht schräger Haltung ein zartgliedriger Greis, der uns mit formvollendeter altösterreichischer Höflichkeit begrüßt. Zu unserer Erleichterung schlägt diese bereits an der Garderobe in unbefangene Herzlichkeit um. Herr Dr. Parin geleitet uns ins Arbeitszimmer. Er hinkt auf dem rechten Bein, bewältigt den unentwegten Höhenunterschied aber mit einer derart rhythmischen Geschmeidigkeit, dass man es für seine persönliche Art des Gehens hält.

    Die Wohnung ist von erstaunlicher Größe, es gibt sieben oder acht Zimmer, die vom breiten Flur abgehen. Später, weit nach Mitternacht, werden wir herumgeführt. Das alte Parkett ächzt, in jedem Raum liegt es in einem anderen Muster. Überall ist Afrika präsent in Form von Wandbehängen, Ahnenfigürchen, Tierplastiken, vermischt mit anderen Erinnerungsstücken und Kunstgegenständen vorwiegend aus unserer Kultur. Man hat aber nicht den Eindruck, dass hier trophäenartig Beute präsentiert wird, alles wirkt viel eher so, als wäre es, hätte es selbst entscheiden können, freiwillig mitgekommen. In der Küche sind zwei Wände bedeckt mit Fotos, Zeitungsausschnitten, Zeichnungen, Briefen, Objekten verschiedenster Art, Erinnerungen. Paul Parin deutet auf dieses, auf jenes, hauptsächlich möchte er aber den Namen Goldy, so oft es geht, erwähnen. Leid Tragende sind wie Liebende. 1952 eröffneten sie die Praxis, das Paar zog gemeinsam ein. 1955 erst heirateten sie, 45 Jahre lebten sie hier zusammen. Die Wohnung trägt die Spuren des lebhaften Gebrauchs, der von ihr gemacht wurde.

    Das Arbeitszimmer war ehemals Analysezimmer. Auf der ehrwürdigen Couch nehmen wir Platz. Bauhausschreibtisch und Bauhausstühle sind alt und stehen beiläufig da, ebenso wie die mechanische Schreibmaschine und das schwarze, monströse, alte Telefon mit den vielen Umschaltknöpfen, mit denen man zu ebensolchen Apparaten in den anderen Zimmern verbinden kann. Ein Foto von Goldy Matthèy hängt an der Wand, im Bücherregal eine afrikanische weibliche Holzskulptur, auffallend zwei Gemälde von Morgenthaler. Das größere zeigt eine afrikanische Savannenlandschaft mit angedeuteten Zebras und nur zu ahnendem Raubtier, expressiv und mit sicherer Hand gemalt, reduziert und flächig in gebrochenen Fliederfarben, grünlich und ocker. Daneben hängt klein eine Radierung von Goya mit geflügteltem Ross. Die Tapete ist vergilbt und passt im Ton sehr schön. Auf dem Tischchen vor uns liegt eine Packung Gitanes ohne Filter zwischen mehreren Aschenbechern. In jedem ein chromfarbener Zigarettentöter.

    Paul Parin zündet sich eine Zigarette an, er bläst den Rauch in die Luft und sagt mit bisher nicht erlebter Offenheit: „Unterbrechen Sie mich, wenn es notwendig wird, denn erstens habe ich so viel Material im Kopf, und zweitens weil ich so alt bin …“ Wir versprechen es. „Also, ich erzähle Ihnen ein bisschen etwas zur Entstehung der Ethnopsychoanalyse, die wir ja nicht erfunden, sondern als Methode erstmals praktisch erprobt haben. Es kam mehr durch einen Zufall. Wir drei wollten immer schon sehr gerne nach Afrika, das war ein Kindheitstraum. Und wir hatten einen Freund in Afrika, Heinrich Neumann, der uns eines Tages einlud. Er war Deutscher und als politischer Emigrant in die Schweiz gekommen, hatte hier eine Ausbildung als Chirurg gemacht und wurde nach Ablauf von elf Jahren ausgewiesen – das entspricht noch heute der polizeilichen Praxis. Er war staatenlos, Linker, militant areligiös, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als für die Basler Mission, eine altehrwürdige Einrichtung, in ein Missionsspital nach Afrika zu gehen. Wir beschlossen, ihn zu besuchen. Wir sind mit einem ausrangierten Militärjeep durch die Sahara bis Westafrika gefahren. Es war eine Vergnügungsreise, touristisch, wenn man so will, und ich hatte vor, eine ganz kleine Forschungsarbeit bei ihm zu machen, eine psychosomatische Sache, das ging aber nicht, weil das Labor dort gar nicht so leistungsfähig war, wie ich dachte. Und so entdeckten wir, dass es viel leichter ist, mit dem Hospitalpersonal ein psychologisches Gespräch zu führen, als dort psychosomatisch zu forschen. Nach dieser Reise haben wir damals zwei Dinge beschlossen. Erstens, dass wir wieder nach Westafrika fahren wollen, und zweitens, dass wir die Ethnologie studieren. Im Selbststudium haben wir uns das Wesentliche angeeignet und sind dann im Abstand von einigen Jahren immer wieder nach Afrika gefahren, insgesamt waren es sechs ethnopsychoanalytische Reisen.“

    Paul Parin steckt seine Kippe in den Zigarettentöter und fährt fort: „Bei den ersten beiden Reisen haben wir das gemacht, was man auch einfühlende Beobachtung nennt, wir haben auffallende Verhaltensweisen gesammelt, systematisiert und mit Hilfe einer vergleichenden charakteranalytischen Untersuchungstechnik – orientiert an Wilhelm Reich – psychoanalytisch ausgewertet. Die Untersuchung umfasste damals noch eine Vielzahl von Angehörigen verschiedener traditioneller Gesellschaften und Kulturen Westafrikas, bei späteren Reisen haben wir uns dann ganz auf eine überschaubare Gruppe konzentriert. Unsere ersten Ergebnisse waren so interessant, dass uns das zu weiteren Reisen ermuntert hat. Wir waren uns natürlich klar darüber, dass unser Bezugssystem ein sehr spezielles und natürlich willkürliches war, dass die persönlichkeitsformenden Konflikte von Kultur zu Kultur verschieden sind und wir unvermeidlich als abendländische Menschen beobachten. So haben wir probeweise verschiedene mögliche Funktionsweisen der menschlichen Psyche beschrieben und nicht ausgeschlossen, dass einige davon in unserer Kultur vielleicht weniger ausgebildet wurden, selten auftreten beziehungsweise unentdeckt geblieben sind, während sie bei anderen Völkern als ausgesprochen wichtige Funktionen eine Rolle spielen …

    Das waren also die beiden ersten Reisen in den 50er-Jahren. Erst bei der dritten Reise – 1959/60 zu den Dogon – haben wir dann die Psychoanalyse als ein soziologisch-psychologisches Forschungsinstrument angewandt, als Ethnopsychoanalyse. Der Ausdruck stammt übrigens nicht von uns, sondern von Georges Devereux, einem ungarischen Emigranten. Ich kannte ihn ganz gut, er war Ethnologe und hat dann eine Analyse bei Géza Róheim gemacht, der wiederum war Geograf, Ethnologe und Psychoanalytiker, hatte seine Analyse bei Sándor Ferenezi gemacht und musste Ende der 30er-Jahre in die Vereinigten Staaten emigrieren … Ich sage das nicht abschweifend, sondern um bei dieser Gelegenheit darauf hinzudeuten, wie sehr die Psychoanalyse und auch die Ethnopsychoanalyse von Emigration und Exil in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wir drei hatten als Schweizer Bürger das Glück relativer persönlicher und wissenschaftlicher Kontinuität.“

    „Auf die dritte Reise hatten wir uns besonders gut vorbereitet, es gab 156 Publikationen, davon stehen einige dort im Regal, die dunkelgrünen Bände …“ Herr Parin deutet auf einen halben Meter Bücherrücken, „die haben wir studiert, ohne auch nur eine Ahnung davon bekommen zu haben, was uns für Menschen begegnen würden. Nicht eine einzige Person war darin als handelndes, denkendes, fühlendes, sprechendes Subjekt beschrieben, geschweige denn vorgestellt. Und weil wir also derart gut vorbereitet waren, haben wir beim Schweizerischen Nationalfonds einen Beitrag beantragt, rein symbolisch, denn wir haben, um unabhängig zu sein, alle unsere Forschungsreisen selbst finanziert, wir beantragten also bescheidene zehn Perzent. Es ist uns nicht gelungen, dem Hirnphysiologen, der damals den Nationalfonds dirigierte, nahe zu bringen, was Ethnopsychoanalyse ist. Er schickte uns einen Soziologen, der hat das zwei Stunden lang geprüft, dann haben wir das Geld bekommen und fuhren nach Mali zu den Dogon. Für uns war das wunderbar, die Psychoanalyse wieder zu befreien aus ihrer Medizinalisierung – sie fungierte ja weit gehend nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch als angewandte Psychotherapie -, sie wieder zum wissenschaftlichen Studium des Menschen zu verwenden. Und es hat funktioniert! Statt, wie beim Heilungsprozess, ICH zu schaffen, wo ES war, haben wir versucht, ICH zu erkennen, das sich in einer ganz anderen Weise als bei uns aus dem ES entwickelt. Wir machten einstündige psychoanalytische Exploration mit Einzelpersonen, pro Person bis zu 40 Sitzungen. Es war anfangs schwierig, wir verzichteten vernünftigerweise auf einige unserer Riten – es ist uns später dann in Fachkreisen vorgeworfen worden, dass wir die Analysanten nicht liegend, sondern sitzend explorierten, und besonders, dass wir sie bezahlten – uns ging es aber hauptsächlich ums Gelingen. Die Verfremdung war auch so geradezu vollkommen. Die notwendige Distanz des Analytikers – auch zu sich selbst – war durch die gegenseitige Fremdheit ja ausgesprochen begünstigt.“

    Paul Parin lächelt hintergründig und zündet eine Gitane an: „Und daraus ist dann das Buch entstanden ,Die Weißen denken zu viel‘. Es war eigentlich ein Rapport, anfangs wenig beachtet, dann bei der 68er-Studentenbewegung so eine Art Kultbuch. Und wir haben die psychoanalytische Technik auch wieder 1966 in der Feldforschung bei den Agni an der Elfenbeinküste angewandt. Im Unterschied zu unserer Untersuchung der Dogon, bei der ja die Einzelperson und ihre psychische Struktur im Zentrum unseres Interesses stand, haben wir uns bei den Agni besonders für die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen interessiert. Wir wollten das Individuum im Rahmen seiner Kultur transparent machen und damit gleichzeitig – das war ein wichtiges Ziel unseres Forschungsziels – einen Beitrag zum Verhältnis der Psychoanalyse und Sozialwissenschaften leisten. Es ging uns ja immer auch um eine Gesellschaftstheorie. Daraus entstand dann das Buch ,Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst‘, Suhrkamp hat es damals herausgebracht, auf Vermittlung von Alexander Mitscherlich. Unser Lektor übrigens, der dann zu unserem Freund wurde, war der kürzlich leider verstorbene Karl Markus Michel. Wir nannten ihn ja immer nur Carlos, er war ein 68er-Intellektueller und hatte den schönsten Maxi-Mantel von ganz Frankfurt. Das Buch jedenfalls erschien dann sehr schön und enorm teuer für damalige Verhältnisse, es kostete 60 Mark. Meiner Ansicht nach ist dieses das viel bessere Buch, weil wir zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr wussten als 1960. Aber es war nicht so beliebt, denn die Agni sind nach europäischem Geschmack unsympathische Menschen, die Dogon dagegen sind wahnsinning sympathisch.“

    Während wir gemeinsam in der Küche frischen Tee zubereiten und einen Kuchen anschneiden, den eine Dame vor einiger Zeit als Geschenk mitbrachte, erzählt uns Paul Parin vom Unterschied zwischen den Dogon und den Agni. „Der Gegensatz war erheblich, nicht nur was die matrilineare Sippenordnung der Agni und die patriarchale Großfamilie der Dogon betraf. Die Agni sind Bewohner des Regenwaldes, die Dogon leben in der trockenen Steppe, während die Agni mit Fremdarbeitern Kaffee und Kakao in Plantagenwirtschaft für den Weltmarkt produzieren, sind die Dogon Subsistenzbauern, pflanzen Hirse an und verkaufen nur wenig auf den einheimischen Märkten. Sie sind Heiden mit einer reichen, eigenartigen, festen mythisch-religiösen-ökonomischen Sozialordnung. Die Agni hingegen sind Christen mit heidnisch-animistischen Elementen. Dass ihre Vorfahren Beutekrieger waren, mit hoch organisierten, aggressiven Königreichen, spielt auch für das heutige Leben der Plantagenbesitzer eine dominante Rolle. Bei den Agni werden alle sozialen Leistungen fast ausschließlich über das Mittel des Zwangs, der Furcht und der Strafe erreicht. Bei den Dogon werden soziale Leistungen freiwillig erbracht, die Dogon kennen Zwang als politisches oder pädagogisches Mittel nicht. Das sind in etwa die Unterschiede, deren jeweilige Auswirkungen wir detalliert beschrieben haben in unseren Büchern.“

    Später im Arbeitszimmer sagt Paul Parin: „Aus Altersgründen haben wir dann unsere Feldforschung in die eigene Ethnie verlegt. Unsere Fähigkeit, strapaziöse Reisen zu machen und fremde Sprachen auch nur oberflächlich zu lernen, war so zurückgegangen … Die Methode, mit Hilfe der Psychoanalyse kulturtypische Konflikte zu erkennen – wie wir es bei den Dogon lernten -, hat sich auch in den komplexen Verhältnissen industrialisierter Staaten und kapitalistischer Wirtschaftsform bewährt. 1980 habe ich begonnen, Erzählungen zu schreiben, und seit 1990, dem Zeitpunkt, als wir die psychoanalytische Praxis endgültig aufgegeben haben, habe ich die Schriftstellerei intensiviert, gerade ist übrigens ein neuer Erzählband herausgekommen.“ Er greift zur blauen Zigarettenschachtel. Leicht bläst er den Rauch davon. „Wir waren immer Kritiker der „Mainstream-Psychoanalyse“, besonders da, wo sie die von Freud begründete psychoanalytische Kritik der Zivilisation vernachlässigt und ignoriert, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse tief ins Seelenleben der Individuen einprägen. Dem haben viele Kollegen widersprochen. Sie sind für schmerzlose Anpassung. Aber die Psychoanalyse ist nicht als Reparatur und Anpassungsmethode gedacht! Und ich bedauere sehr, dass sich in kaum einer der neueren theoretischen Schriften noch ein Hinweis findet auf das subversive Potenzial, auf die Lust bereitende, Konventionen sprengende Kraft der sexuellen Triebe, denn das ist genau so falsch wie damals bei den 68ern die Erhebung der Triebtheorie von Wilhelm Reich zu einer Verhaltensnorm – auch dann in der Kindererziehung. Die Triebtheorie ist ja eine Arbeitshypothese eigentlich. Heute muss ich sagen, dass nicht nur dieser Umgang mit der Sexualtheorie damals kurzschlüssig-kindlich war – das lag an einem Missverständnis der Psychoanalyse -, es wurde leider auch die gesellschaftspolitische Sprengkraft der Psychoanalyse überschätzt. Auch von uns. Wir haben daran gearbeitet. Das war unser Motiv. Ich würde sagen von mir, ich war und bin ein undogmatischer Sozialist, Goldy war eine moralische Anarchistin – wir waren beide übrigens nie in einer Partei -, bevorzugten ein anarchistisches Gesellschaftsmodell mit möglichst wenig institutioneller Macht. Utopie? Wir haben auf keine gehofft, wir haben sie beobachtet.

    Paul Parin, Der Traum von Ségou. Neue Erzählungen. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001, 250 S., 38 DM

    In der von Traute Hensch betreuten Edition Freitag erschien 2006 noch das Buch „Lesereise“ – mit Texten von Paul Parin

    Und 2007 zu Paul Parins 90. Geburtstag das Buch „Leidenschaften“ – mit Texten über ihn, u.a. von Christa Wolf, Markus Gauß und Stefan Zweifel.

  • WOZ-Reisen:

    Unterwegs auf alten Partisanenpfaden

    Die WOZ lesen ist gut, mit der WOZ sehen besser. Deshalb organisiert die Wochenzeitung WOZ vom 20. bis zum 26. September eine Reise auf den Spuren italienischer PartisanInnen. Das Institut Istoreco, das zur Geschichte der Resistenza in der Reggio Emilia forscht, organisiert für uns Gespräche mit ZeitzeugInnen des italienischen antifaschistischen Widerstands. MitarbeiterInnen des Istoreco und der WOZ zeigen, wo die Wege der PartisanInnen damals verliefen und sind DolmetscherInnen und AnsprechparterInnen vor Ort. Weitere Themen der Reise sind die Geschichte der Genossenschaftsbewegung und Gespräche mit AktivistInnen über die Entwicklungen in der Hochburg der italienischen Linken.

    Stationen der Reise auf einen Blick:

    * 7-tägige Reise in die Emilia Romagna
    * Stadtführung durch Reggio Emilia
    * Einführung in die Geschichte der roten Emilia Romagna
    * Ausflug in das Arbeiterviertel Oltretorrente von Parma
    * Besuch des Resistenza-Museums Cervi
    * Besuch der Gedenkstädte Marzabotto
    * zweitägige Wanderung auf Partisanenwegen im Apennin (mit Bergführer und ZeitzeugInnen)
    * Informationsveranstaltung zur aktuellen politischen Entwicklung in Italien
    * Kompetente Begleitung durch das Institut Istoreco Reggio Emilia
    * Hin- und Rückreise mit dem Zug ab Chiasso
    * 5 Übernachtungen mit Frühstück in einfachen Mehrbettzimmern der Jugendherberge Ostello della Gioventù Ghiara in der Altstadt von Reggio Emilia oder in Doppelzimmern des traditionsreichen, ebenfalls in der Altstadt gelegenen Drei-Sterne-Hotels Morandi
    * 1 Übernachtung mit Abendessen und Frühstück in der Alpenvereinshütte Rifugio Battista in einfachen Mehrbettzimmern

    Bei diesem Programm wird garantiert, dass keiner der Teilnehmer die Partisanenkrankheit bekommt!

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