vonHelmut Höge 13.07.2012

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Vorbereitung einer Poller-Veranstaltung (hier in der Anarchokaschemme „Rumbalotte“). Photo: Katrin Eissing

Referent Philipp Goll bereitet sich auf die anstehende Poller-Veranstaltung im „Raum für Randgeschichten“ vor (Photo: Stefanie Peter):

 

Im Rahmen der Veranstaltung „Raum für Randgeschichten“ einer Projektgruppe mit französischem Akzent der Kunsthochschule Weißensee (Ostberlin) findet am Dienstag, den 17.7. um 20 Uhr in den vorläufigen Kunsträumen Oranienplatz 17 1. OG folgende Veranstaltung statt:

Poller- und Baumscheibenforschung: Ordnung und Widerstand im öffentlichen Raum.

Von und mit Antonia Herrscher, Helmut Höge & Philipp Goll.
Der Poller steht nicht nur blöd im Weg, sondern steckt auch voller Geheimnisse. Nicht nur verbirgt er in sich die Visionen eifriger Stadtplaner. Ebenso ist er der Ort, an dem die Moral – Du darfst hier nicht parken! – an ein Objekt delegiert wird und zum Sachzwang – Du kannst hier nicht parken! – wird. Diese „Inskriptionen“ (Bruno Latour) auf der einen und die Praktiken der
Zweckentfremdung des Pollers und Wiederaneignung des abgepollerten Stadtraumes auf der anderen Seite möchten der Pollerforscher Helmut Höge und Philipp Goll, Pollerforscher-Forscher, aufdecken. Sie werden über Poller in Kreuzberg und Umgebung sprechen und darüber, dass wir ihnen nicht nur versperrte Parkmöglichkeiten und blaue Flecken sondern ebenso aufschlussreiche Informationen über das Regime der Disziplinargesellschaft verdanken. Und über Gentrification sowie die Reclaim-the-Street-Gegenbewegung „Baumscheibenbegrünung“. Darüber wird Antonia Herrscher Näheres ausführen. Mit Dias und Videoclips zum Thema. Einleitung: Dorothée Fraleux

 

Indoor-Poller in einer Kreuzberger Kirche

Kunst-Pilon in der Neuen Nationalgalerie

 

Der Arabische Aufstand,

bzw. das, was davon in den Westen dringt,  liegt inzwischen fast vollständig in den Händen – sprich:  Nachrichenagenturen und Korrespondenten – von Westpolitikern à la Westerwelle und Clinton, des Vorsitzenden der Kaninchenzüchter von Wuppertal, des UNO-Vorsitzenden, des Präsidenten von Rumpeldipumpel und XYZ und nicht zu vergessen: der postkommunistischen Arschlöcher in Russland und China.

Was kann man melden – heute – außer weitere Tote im Jemen, in Libyen und vor allem in Syrien:

Syrien: „Ein neues Massaker in Syrien hat weltweit für Entsetzen gesorgt. Der internationale Sondergesandte Kofi Annan reagierte am Freitag „schockiert und entsetzt“ auf die „Gräueltaten“ mit mehr als 150 Toten in der zentralsyrischen Kleinstadt Treimsa. Während die syrische Opposition die Regierung in Damaskus verantwortlich machte, gab diese „Terroristen“ und „blutrünstigen Medien“ die Schuld.

Mindestens 150, möglicherweise sogar mehr als 200 Menschen wurden nach unterschiedlichen Angaben am Donnerstag in Treimsa in der zentralsyrischen Provinz Hama getötet, darunter offenbar viele Aufständische. Sollte sich diese Opferzahl bestätigen, wäre das Massaker in Treimsa das schlimmste seit Beginn des Aufstands im März 2011, sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman. Seine Organisation sprach von mehr als 150 Getöteten.

Menschenrechtsaktivisten machten die Armee und regierungstreue Milizen für das Massaker verantwortlich. Dabei seien Helikopter, Panzer und Raketenwerfer zum Einsatz gekommen, sagte Rebellenführer Abu Mohammed. Die Angriffe auf die Stadt mit rund 7000 Einwohnern dauerten demnach gut zehn Stunden. Anschließend seien die Soldaten mit leichten Waffen nach Treimsa vorgedrungen, gefolgt von „mit Messern bewaffneten“ Milizionären, sagte ein Aktivist namens Ibrahim.

Die syrische Führung machte die Medien und „Terroristen“ verantwortlich. Sie hätten das Verbrechen verübt, um die Öffentlichkeit gegen Syrienaufzubringen und eine internationale Intervention zu provozieren, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Sana.“ (AFP)

Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte mir denken, je länger der Bürgerkrieg in Syrien dauert, desto klarer sind hinterher die Verhältnisse. Was sollen Verhandlungen mit Massenmördern, Kompromisse mit Folterern? Wäre das die berühmte „Realpolitik“, von der alle opportunistischen Drecksäcke schwärmen?

Um 18 Uhr 31 meldet dpa noch schnell:

„Damaskus: Die Armee macht in Syrien Jagd auf Widerstandskämpfer. Bei den Angriffen Dorf für Dorf und Haus für Haus werden auch Zivilisten massakriert. Kommt doch noch die Militärintervention?

Ein fürchterliches Blutbad in einem syrischen Dorf gibt der Forderung nach einer militärischen Intervention neuen Auftrieb. Bis zu 250 Menschen sollen in Tremseh den Tod gefunden haben. Der Angriff auf das Dorf in der Nähe der Stadt Hama könnte, wenn sich die Angaben der Opposition bestätigen, das bislang schlimmste Massaker seit Beginn des Aufstandes vor 16 Monaten sein. Einige Oppositionsgruppen erklärten am Freitag, in dem Dorf seien am Donnerstag bis zu 250 Menschen getötet worden. In anderen Berichten war von rund 160 Toten die Rede. Die Berichte lösten international Entsetzen aus.“

Statt irgendwelche mehr oder weniger betroffenen Syrer zu Wort kommen zu lassen, heißt es in den Nachrichtenagenturen:

– „Der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich im Prominentenbadeort Marbella erschüttert.“

– „Der Syrien-Sondergesandte Kofi Annan erklärte in Genf, er sei „schockiert und entsetzt“

– „Die Bundesregierung forderte Syrien“sehr nachdrücklich“ auf…

–  „Die US-Regierung sei alarmiert, berichtete das „Wall Street Journal“ am Freitag.“

–  „Die US-Botschafterin bei der UNO, Susan Rice, forderten den UN-Sicherheitsrat zum Handeln auf.“

–   „Die Organisation für Islamische Kooperation (OIC) hat nach dem Massaker in dem syrischen Dorf Tremseh ein Eingreifen  der   Vereinten Nationen „mit allen Mitteln“ gefordert.“

–  „Die USA stehen nach Aussage von Außenministerin Hillary Clinton weiterhin hinter dem Friedensplan des Syrien-       Sonderbeauftragten von UN und Arabischer Union, Kofi Annan.“

– „Westerwelle sagte vor der Weltöffentlichkeit: ‚Wetten, dass jetzt endlich etwas geschehen muß!'“

Auch der gemeine Mecklenburger wird laut NDR langsam von den Kämpfen gegen Assad kairo-virusmäßig angesteckt: „Sie kommen aus Krisengebieten wie Syrien nach Mecklenburg-Vorpommern. Für die Asylsuchenden soll in Wolgast ein neues Heim entstehen, was dort für Unruhe sorgt.“

Beunruhigt ist laut Spiegel auch der in Süddeutschland lebende „Yamen Al-Khalaf, 33, der Medizin an der Uniklinik Bonn studierte:  Er wurde in seiner Heimat Syrien beschnitten und ist heute selbst Vater von zwei Söhnen…’Du bist beschnitten – du bist ein Mann!‘ wurde ihm hernach gesagt, ‚Ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, nicht beschnitten zu sein. Es ist einfach ein Verständnis, das tief in mir wohnt‘.“

Das genau ist jedoch das Problem: Wenn wir irgendwas in dieser Welt wirklich nicht gebrauchen können – dann sind das vierjährige Bürschchen, die sich als „Mann“ begreifen. 

 

 

Schweizer Edelstahlpoller mit Schokofüllung

 

Aus Libyen meldete AFP:

„Bei der Parlamentswahl in Libyen haben die Liberalen in der Hauptstadt Tripolis vorläufigen Ergebnissen zufolge die meisten Stimmen erzielt. Die liberale Allianz der Nationalen Kräfte lag demnach weit vor den Islamisten…“

Die neoliberale spanische Zeitung El Pais freute sich vor allem, dass die „Islamisten“ nicht auch noch hier Morgenluft wittern:

„Eine 40 Jahre währende Tyrannenherrschaft ist ein schweres Erbe. Dennoch hat Libyen es geschafft, erstmals Wahlen abzuhalten für ein Nationalparlament, das einen Präsidenten, einen Ministerpräsidenten und eine Kommission für die Ausarbeitung einer Verfassung wählen soll. Die Wahlen waren zwar nicht perfekt, denn es gab einige gewalttätige Szenen, aber jedenfalls dezent.

Libyen kann Fortschritte erzielen. Es ist ein reiches Land mit verhältnismäßig wenig Einwohnern, die besser ausgebildet sind als die der Nachbarländer.“

Aus dem Jemen berichtete AFP:

„Bei einem Selbstmordanschlag auf die Polizei-Akademie in Jemens Hauptstadt Sanaa sind am Mittwoch mindestens acht Menschen getötet und 20 weitere verletzt worden. Die Sicherheitskräfte machten das Terrornetzwerk Al-Kaida für den Anschlag verantwortlich.“

Na klar, die Bösen sind immer die Islamisten und die Terroristen sind immer aus dem weltumspannenden Netzwerk „Al-Kaida“. Das war schon bei den Deutschen zwischen 1918 und 1968 so:  die Widerständler bzw. Kommunisten, das waren ausschließlich  jüdische Terroristen.

Die altliberale dänische Dagens Nyheter meint zu den Machtquerelen in Ägypten, dass man die Islamisten doch auch mal verstehen muß:

„Die Lage in Ägypten ist kompliziert. Einerseits war die Auflösung des Parlaments nicht einfach nur eine Machtdemonstration des Militärrates. Denn die Parteien hatten in verfassungswidriger Weise das Wahlgesetz umgangen. Andererseits haben Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbruderschaft eindeutig unter demokratischen Gesichtspunkten recht. Denn die Generale waren sehr schnell dabei, sich selbst noch mehr Machtbefugnisse zuzuschanzen. Das ist in einem Land mit schwachen demokratischen Traditionen höchst beunruhigend. “

Zumal dann AP heute – am Gebets-Freitag- auch noch meldete:

„Tausende Demonstranten haben in Kairo ihre Unterstützung für die von Präsident Mohammed Mursi verfügte Einberufung des aufgelösten Parlaments kundgetan. Die Kundgebung auf dem Tahrir-Platz wurde von der Muslimbruderschaft sowie einer Reihe islamistischer Gruppen organisiert. Teilnehmer skandierten Parolen gegen das Verfassungsgericht und den mächtigen Militärrat. Führende liberale Parteien blieben der Demonstration jedoch fern.

Das Parlament war am Dienstag auf ein Dekret Mursis hin wieder zusammengetreten, wenig später erklärte das Verfassungsgericht den Schritt jedoch für ungültig.“

Zwischendurch kommen auch immer noch Meldungen, dass aus Libyen, Tunesien etc. immer noch hunderte von Flüchtlinge täglich auf dem Weg nach Italien ertrinken. „Flüchtlingsdrama im Mittelmeer“ ist der terminus journalistikus dafür.

 

Blöde Kunstpoller

 

Für Antiislamisten gibt es wenigstens in Tunesien einen Hoffnungsschimmer:

„Der tunesische Minister für Verwaltungsreform hat wegen Differenzen mit Ministerpräsident Hamadi Jebali seinen Rücktritt angekündigt. Der Nachrichtenagentur AP sagte Mohammed Abbou am Samstag, er gebe seinen Posten auf, weil der Ministerpräsident ihm keine ausreichenden Befugnisse zur Bekämpfung der Korruption eingeräumt habe. Sein Rücktritt offenbart erneut die Differenzen innerhalb der tunesischen Koalitionsregierung.

Nach ihrem Wahlsieg bildete die gemäßigte islamistische Ennadah-Partei unter Jebali gemeinsam mit zwei säkularen Parteien eine Regierung. Abbou gehört der Partei von Präsident Moncef Marzouki an, der erst jüngst mit dem Ministerpräsidenten über die Auslieferung des früheren libyschen Ministerpräsidenten Al-Baghdadi al Mahmudi an Libyen aneinandergeraten war. Auch Marzoukis Berater für Öffentlichkeitsarbeit und sein Wirtschaftsberater gaben in den vergangenen Tagen ihre Posten zurück. Teile der Partei des Präsidenten widersetzen sich der Allianz mit den Islamisten.“

Aus Marokko meldet AFP bloß noch Gutes – jedenfalls für Solarenergie-Spekulanten:

„Das Schweizer Solarflugzeug „Solar Impulse“ hat die marokkanische Wüste überflogen. Der ausschließlich mit Sonnenenergie betriebene 1,6-Tonnen-Flieger landete in der Nacht zum Freitag sicher in der Wüstenstadt Ouarzazate im Süden des Landes. “

Während dpa sich – völlig sarrazinistisch verbrettert – nur noch um das Aussterben der Deutschen bekümmert:

„Bei einem schweren Busunglück im Süden Marokkos ist eine 25 Jahre alte deutsche Touristin ums Leben gekommen. “

Zuvor hatte es bereits geheißen:

„Zwei Deutsche in Australien von Hai getötet“

„Fünf Deutsche bei Lawinenunglück ums Leben gekommen“

„Ein Deutscher in Mexiko überfallen und erstochen“

„Sechs Deutsche von Wilderern in Kenia erschossen“

„Drei Deutsche in Afghanistan tot“

„Zwei Deutsche in Afghanistan erschlagen“

„Ein Deutscher in Afghanistan erwürgt“

„Junge Deutsche starb in Thailand an Giftschlangenbiß“

„18 Deutsche auf dem Weg nach Hause mit Flugzeug abgestürzt“

„Deutsches Mädchen von italienischem Kleinpferd zu Tode getrampelt“

„Zwei Deutsche in Tunesien vermißt“

„Deutscher in den USA zu lebenslänglicher Haft verurteilt“

usw..

Und so geht das Jahr für Jahr – schlagzeilenmäßig. Hinzu kommt noch, dass 2011 wieder weniger Deutsche geboren wurden als im Jahr davor. Dass dafür jedoch doppelt so viele Deutsche auf den Straßen dieser Welt übergerammelt wurden. Auch die Krebstoten-Rate stieg hierzulande wieder enorm an sowie die Quote derjenigen  Deutschen, die es in diesem sich entleerenden und vollends musealisierenden Land nicht mehr aushielten – und auswanderten bzw. gleich Selbstmord begingen bzw. sich zu Tode soffen.

Aber über diesen ganzen jämmerlichen Fritz-Drain darf sich immerhin der Rest der Welt freuen, der schon lange begehrliche Blicke vor allem auf die jetzt gerade wieder aufs Üppigste blühenden Landschaften Ostelbiens geworfen hat.  Aber auch der international-juvenile Amüsierpöbel högt sich, denn es stehen immer weniger Kerndeutsche in den Warteschlangen vor den präpotenten Porno-Clubs der Postprolo-Hauptstadt, die nur dumm rumprotzen und nicht nur den Jungspaniern furchtbar auf den Sack (Cochones) gehen.

 

Poller mit Ziegen

 

Der soziokulturelle Wandel eines Bezirks

Die Gentrifizierung eines Stadtviertels beginnt mit den „Profitpionieren“. Sie machen aus verbraucht-verrauchten Männerkneipen frische Nichtraucher-Cafés, aus Dönerbuden erst Läden für gebrauchte Partyklamotten und dann für neue Kinderkleidung, aus Videoshops Bioläden und Galerien. Im Schillerkiez interessieren wir uns für den derzeitigen Kneipenmix.

Zuerst steuern wir – Ecke Hermann Mahlower – das alteingesessene „Bären-Eck“ an. Hier tobt zu unserem Erstaunen das junge Leben. An Pokerautomaten und Dart-Boards drängen sich die Gäste. Eine Mädchengruppe am gardinenverhängten Fenster guckt amerikanische Catcherkämpfe im Sportkanal. Die Regale an den holzgetäfelten Wänden stehen voller Dartpokale. Wir bestellen zwei Tee mit Rum und drücken in der Musikbox „Flugzeuge im Bauch“ von Grönemeyer. Es kommt dann jedoch „Radio Gaga“ von Queen.

Die nächste Eckkneipe an der Kreuzung Mahlower-/Weisestraße ist das exakte Gegenteil: fast tot. Der Wirt der „Mahlower Klause“ studiert unterfordert das Heft des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes, an der Theke reden zwei Leute über Plasmafernseher, eine alte Frau trinkt Bier mit Korn. Wir setzen uns an den „Stammtisch von Rohr-Müller“, einem Sanitärgeschäft in der Nachbarschaft. Der Berliner Rundfunk 91,4 verbreitet derweil Frohsinn. „In solchen Bars läuft immer Phil Collins!“, meint Antonia. Und tatsächlich. Immerhin ist das Bier billig. Als Faustregel gilt im Schillerkiez: In den schicken, gentrifizierten Läden ist es doppelt so teuer wie in den alten Eckkneipen.

Den Anarcho-Infoladen „Lunte“ in der Weisestraße – hier läuft ein Agitprop-Film – lassen wir links liegen. Wir waren zuletzt auf dem Straßenfest, das die Betreiber alljährlich organisieren, damit die Schillerkiezbewohner sich über ihre Miet- und Wohnprobleme austauschen. Es kommen aber immer mehr junge Leute mit reichen Eltern oder einem guten Einkommen dorthin. Sie sind eher die Hoffnungsträger des „Quartiersmanagements“ zur „Aufwertung“ des Kiezes als die der „Lunte“, wie die Anarchos selbstkritisch zugeben.

Wir kehren in der ebenfalls von Gentrifizierungsgegnern frequentierten Kneipe „Syndicat“ in der Weisestraße ein, wo es an diesem Abend „Tofu Stroganoff“ gibt: entweder vegetarisch oder gleich ganz vegan zubereitet. Dazu passt das bukolische Plakat „Wer Bier trinkt, hilft der Landwirtschaft“. Wir bestellen hier jedoch „Die Schnapsidee des Monats“: selbst gepanschten Himbeerwodka.

Auf einem anderen Plakat heißt es: „Bauernhöfe statt Agrarindustrie“. Dessen ungeachtet strahlen das Interieur und die Lautsprecherboxen eher urbane Punk-Ästhetik aus: Die Wände sind ochsenblutrot und schwarz gestrichen, es gibt Tischfußball und einen Flipper sowie Infomaterial über die sozialen Auseinandersetzungen im Kiez.

Ganz anders die mehrheitlich von Frauen besuchte Ofenkneipe „Pianobar Froschkönig“ in der Weisestraße, wo ein Gitarrist verhaltene Akkorde durch sein Echohallgerät schickt. Noch leiser sind die zwei Fernseher, auf denen Videos vom Leben im Korallenriff laufen. Auch wir machen keinen Krach, als wir an der Theke einen süßsauren „Drink“ bestellen. 357 Personen gefällt Froschkönig laut Facebook, wie die kneipeneigene Website verrät. Wir bezahlen und gehen wieder.

In der „Cocktailbar Lange Nacht“, ebenfalls an der Weisestraße, findet eine „Stadtteilversammlung“ statt, organisiert von einer „Schillerkiez-Initiative“. Sie entstand als Reaktion auf die 2008 vom Quartiersmanagement gegründete „Task Force Okerstraße“, mit der man „Problemhäuser“, „Problemfamilien“ und die „Trinkerproblematik“ im Kiez angehen wollte. Die „Stadtteilinitiative Schillerkiez“ begriff die „Task Force“-Gründung als „Kriegserklärung“.

Wir beeilen uns, noch einen Stehplatz zu finden, ein Mitarbeiter des Mieter-Echos spendiert uns ein Bier. Wir erfahren: Seit 2009 wurden 500 Mieter im Schillerkiez aus ihren Wohnungen geworfen, vor allem alte Leute. Ein auf Miet- und Arbeitsrecht spezialisierter Kiez-Anwalt macht vor allem die „Jobcenter“ und deren „völlig inkompetente Mitarbeiter“ für die Verdrängung von Nicht- und Schlechtverdienern verantwortlich. Eine Architektin hebt dagegen auf die „Wärmedämmung“ ab, die sich private Vermieter mangels Kapital nicht leisten können, weswegen sie ihre Häuser an westdeutsche Spekulanten verkaufen müssten, die sich ganze Straßen unter den Nagel rissen.

Eine Neuzugezogene beklagt sich über die Arroganz der „Lunte“-Betreiber, eine ältere Kiezbewohnerin bescheinigt ihnen, trotzdem gute Aufklärungsarbeit zu leisten. Und gleich mehrere Leute müssen zugeben, dass „die neu zugezogenen jungen Leute, aus Frankreich oder Spanien zum Beispiel, dem Kiez auch gut tun“. Die „Stimmung“ habe sich dadurch verbessert. Außerdem „können die das ja alles gar nicht wissen“ – sprich, über welche Leichen sie da steigen, wenn sie ihre Wohnungen beziehen, für die nun 10 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete verlangt werden.

„Die Studenten zahlen jeden Preis, auch für nicht renovierte Wohnungen“, hatte uns zuvor bereits ein Makler erzählt, der außerdem wusste, dass die Piratenpartei 21 Prozent der Stimmen im Schillerkiez bekommen habe. Die Versammlung der 70 überwiegend jungen Leute ist sich einig, dass man die Neuzugezogenen aufklären muss, damit sie Verantwortung übernehmen. „Was ist denn aber nun die Konsequenz aus einem solchen Verantwortungsbewusstsein?“, fragt eine neu aus Ulm Zugezogene. Dazu werden am Ende mehrere Arbeitsgruppen gebildet.

Wir wechseln noch einmal die Location und gehen ins Rocker- und Biker-Lokal „Bierbaum 3“ an der Schillerpromenade, wo der Schnaps immer noch 80 Cent kostet. Diese Eckkneipe ist trotz anhaltender Gästeverluste infolge von Alkohol und aus der Kurve getragener Motorräder das Lebhafteste an dieser Straße, sieht man einmal vom Gesundheitsladen „Frauenräume“ gegenüber ab, in dem an diesem Abend an allen Tischen Karten gespielt wird. Von draußen wirkt das wie eine jungdeutschfeministische Parodie auf alttürkische Männercafés.

Im „Bierbaum 3“ wird Skat gespielt, an der Decke hängen Motorräder, an einer Wand Fotos von „Abduls Birthday“. Für unsere Zeche zahlen wir so wenig, dass wir fast an ein Versehen glauben.

Als Nächstes steuern wir das Café „Circus Lemke“ in der Selchowstraße an. Der Besitzer ist nicht wie der Wirt der „Berg-Klause“ in der Boddinstraße ein Raubtierdompteur, sondern ein Schauspieler. Früher hieß der Laden „Café Xenzi“ und wurde von rosa Damen mit Betonfrisuren frequentiert. Nun sind es schwarz gekleidete Studentinnen mit Smartphones und Pony, die über irgendwelche „Module“ reden.

Abschließend kehren wir noch in die von türkischen Romafrauen geführte „Cocktail Lounge Ikbal“ ein, ebenfalls in der Selchowstraße. Dies war mal ein „Tanzcafé“, nun stehen hier Spielautomaten, oben drüber hängen eine Anti-AKW-Fahne und ein Fernseher, in dem türkische Musikclips laufen. An zentraler Stelle wurde ein Schminkspiegel eingedübelt. Die Perlendekoration daran stammt aus der Fahrschule „Kubi“ nebenan, wo außerdem noch Perlen in „1001 Farben“ verkauft werden zum Selberherstellen von Modeschmuck.

Die Barkeeperin im „Ikbal“ wechselt den Musikkanal auf dem Fernseher: Es läuft ein Clip von Lady Gaga. Ein sinniger Abschluss für einen Kneipenrundgang, der mit Radio Gaga begann. Wir bestellen Kaffee.

 

Pollerperformance im Galeriekiez Auguststraße

 

 Biologische Sinnsuche im „Glücksbezirk“

Paradiesvögel, Laubenvögel und Krähenvögel haben einen gemeinsamen Ursprung in der Inselwelt Neuguineas. Die ersten beiden leben noch immer dort. Sie sind heute vom Aussterben bedroht, während die Krähen sich nahezu über den ganzen Erdball ausgebreitet haben – und wie die Menschen inzwischen massenhaft vom Land in die Städte ziehen. Das alles gelang ihnen, weil sich diese schwarzen Vögel im Gegensatz zu den bunten irgendwann den „Fortschritt“ auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Die männlichen Paradiesvögel schaffen es mit ihrer Schönheit, die Weibchen flachzulegen. Die Laubenvögel, die ebenfalls nicht singen können, locken die Weibchen mit farbigen Ornamenten in ihre Laube, wo sie sie blitzschnell von hinten besteigen. Danach verpissen sich die einen wie die anderen Männchen. Nicht so bei den Krähenvögeln, die weder singen noch Kunst machen können und die Weibchen auch nicht mit ihrer Schönheit rumkriegen, denn sie sehen jenen zum Verwechseln ähnlich. Was tun?

Sie beteiligen sich einfach am Nestbau, verteidigen es und ernähren die brütenden Weibchen. Danach ziehen sie mit ihnen gemeinsam die Jungen groß. Diese „Idee“ war einst super-„fortschrittlich“, wie der bayerische Biologe Josef Reichholf das nennt. Die Menschen taten es ihnen später nach: Statt Rudelbumsen oder Polyamorie war auch bei ihnen irgendwann lebenslängliches monogames Familienleben das Nonplusultra.

Wenn wir uns nun den „Projekt-Kinder“-Bezirk Prenzlauer Berg angucken – die Sozialforscherin Anja Maier hat das für uns getan: siehe ihr Buch „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“, dann haben wir dort noch einmal Neuguinea im Kleinen vor uns:

Die Paradiesvögel, das sind dort die braungebrannten Schönen, und die Laubenvögel, das sind die Künstler. Beides Antidarwinisten: Sie wollen ihre Gene nicht vererben – wegen Hängebrüsten, -bäuchen und anderer Aufzugskosten (wie Kinderklamotten, Kitagebühren, Alimente etc.). Wohl aber die Krähenvögel – das sind hier die Pärchen mit den „nachtschwarzen Kinderwägen im Hochpreissegment“ (A. M.), die den Bezirk mit ihrem mormonengleichen „Familialismus“ dominieren und alle anderen verdrängen.

Maier kann dazu mit Zahlen für diesen „Muttibezirk“ aufwarten: 5.000 Kinder werden hier alljährlich geboren, Tendenz steigend. Jedoch: Im Kapitalismus zersetzt sich – Marx und Engels haben das beizeiten an die Wand gemalt – die „Familie“. Erst recht jetzt in der postindustriellen Gesellschaft, da die Frauen mehr und besser als Ernährer taugen. Ihre Kindsväter können sich ihnen höchstens noch vorübergehend als staatlich alimentierte Hausmänner andienen. „Wir können nicht mehr so tun, als handele es sich hier noch um eine ernst zu nehmende Familie“ (Sandor Marai). Das geht also nicht lange gut. Anja Maier fand traurige Beispiele – und Zahlen: 26 Prozent aller Prenzlauer-Berg-Mütter sind heute Alleinerziehende, hinzu kommen 1 Prozent alleinerziehende Väter. Dafür jedoch laut Jugendamt 12.000 flüchtige „Rabenväter“.

Was einmal, mindestens bei den Krähenvögeln, „fortschrittlich“ war – die gemeinsame Sorge um den Nachwuchs -, ist bei den Menschen in Prenzlauer Berg heute zu einer üblen Falle geworden, die man ihnen mit sarrazinistischen Promi-Ehe-Sendungen und Promi-Kinderkriegerei-Berichten schmackhaft macht. Fundiert wird diese Riesensauerei vom allgegenwärtigen US-Darwinismus, der ihnen versichert, dass der wahre Lebenssinn nur im „egoistischen Gen“ zu finden ist, d.h. das es vor allem darum geht, sich auf Teufel komm raus fortzupflanzen.

Die Krähen sind da inzwischen schon wieder weiter als die Muttis im Berliner „Glücksbezirk“ (A. M.): Sie haben sich neuerdings zwei Männchen angelacht, die ihnen und ihrer Brut das Überleben sichern. Josef Reichholf stellte fest: Allein in München sind bereits 50 Prozent aller Krähenpaare „Trios“. Und David Attenborough berichtete auf BBC von einer englischen Spatzenart, bei der es ähnlich ist – allerdings brauchen die Weibchen das zweite Männchen nur zum Vögeln (scheinheilig erklärte der berühmte Tierfilmer: „Warum das so ist, wissen wir nicht“).

Wie viel bitteres Leid und verhärmenden Überlebenskampf bliebe den armen Menschenmüttern im „Sexymama“-Kiez (A. M.) erspart, wenn sie sich den Münchner Krähen gleich ebenfalls wieder an die Spitze des Fortschritts setzten und „Trios“ (statt „Bios“) bilden würden. So wie es jetzt ist, gehen sie jedenfalls elendig zugrunde – spätestens wenn ihre Jungen ausgeflogen sind – und ihre biologische Sinnfindung mit ihnen. Die darwinistische Biologie ist, so viel kann man sagen, auf Dauer vollkommen sinnlos: reine Populationsarithmetik, aus der sich für das einzelne Individuum (ob Mensch oder Krähe) kein Honig rauslutschen lässt.

 

Glückspoller mit Broilermotiv

 

Kofferfische

Als urbane Faustregel für Wohnungssuchende kann die Warnung gelten: Wo man jeden Tag das Geräusch von Rollkoffern hört, da zieh nicht hin! Es gibt schon ganze Bürgerinitiativen, im Prenzlauer Berg z.B., die Protestschreiben gegen den tagtäglichen und sogar nächtlichen Lärm von Rollkoffern auf gepflasterten Fußwegen aufsetzen. Andere akustisch derart in Mitleidenschaft Gezogene sehen in der Invasion von Rollkoffern Vorboten dafür, dass der davon heimgesuchte „Kiez“ gerade eine drastische „Aufwertung“ erfährt – in Form von Mietsteigerungen, Drogen-Clubs, Restaurants  mit teurem aber schlechtem „Touri-Food“ und der Ersetzung von Läden für Waren des täglichen Bedarfs durch Mode-Boutiquen und Friseursalons. Die das so sehen und deswegen auch gelegentlich über „die Touris“, den Amüsierpöbel, die Easyjetter schimpfen, sprechen, wenn sie ganzer Rollkoffer-Gruppen ansichtig werden, abschätzig von „Kofferfischen“. Das wäre dann eine Art Untergruppe der Spezies, die hier täglich einfällt. 17 Millionen waren es im vergangenen Jahr. Das kommt schon Rimini und Pataya nahe. Aber gerade dort kann man sehen, wohin ein immer mehr Individuen anziehender Kofferfisch-Schwarm führt: Irgendwann waren diese  Orte derart touristisch heruntergekommen, dass selbst die hartgesottensten Touristen wegblieben. Im Zeitraffer hat das die „Love-Parade“ über die sogenannte Wende – von 1998 bis 2006 – bereits vorgemacht – bis hin zu ihren „Me too“-Ausläufern:  Hate-Parade, Fuck-Parade, Hanf-Parade, Multikulti-Parade, und den diversen  Schwulen- und Lesben-Paraden.

Zurück zum Kofferfisch, den man wie folgt beschreiben kann:  „Der Körper der Kofferfische ist von einem festen, zu einem eckigen Gehäuse verschmolzenen Schutzpanzer aus sechseckigen Knochenplatten umgeben, der nur für Mund, Augen, Kiemen, Flossen und Anus offen ist. Die Oberfläche des Panzers kann glatt, aber auch rau sein,“ heißt es auf Wikipedia, wo daneben   auf die  Gefährlichkeit dieser Spezies  hingewiesen wird: „Zusätzlich zum Panzer schützen sich die Kofferfische durch Pahutoxin, einem Nervengift, das im Stress, bei Gefahr oder beim Tod der Tiere abgesondert wird. Im begrenzten Raum von Aquarien werden alle Fische, auch die Kofferfische selbst, bei Freisetzung dieses Giftes getötet.“

Diese scheinen sich ihrer Gefährlichkeit jedoch durchaus bewußt zu sein, denn sie strahlen eine große Gelassenheit aus – auch „im Stress“. Zur Not – in Aquarien – beißen sie höchstens mal herzhaft zu. So weiß z.B. der Hauptpfleger im Aquarium des Bremerhavener Zoos, Werner Marwedel, zu berichten:  „Vor kurzem hat der Doktorfisch, unser ältester Mitschwimmer hier – den haben wir von einem Seemann – Herr Sielinsky: Er hatte ihn beim Tauchen im Roten Meer, nach dem 6- Tage-Krieg – als der Suez-Kanal gesperrt war, gefangen…Dieser Doktorfisch also, der hat unseren armen Kofferfisch angefallen, mit dem er sich lange Zeit gut verstanden hatte. Die schwammen immer zusammen, aber urplötzlich mochte er ihn nicht mehr leiden.“

Dass der Aquariumspfleger Marwedel, der nebenbei noch den „Aquariums-Notdienst“ des Vereins der Bremerhavener „Aquarienfreunde“ versieht, bei diesen nicht seltenen Auseinandersetzungen auf Seiten des „grauen Doktorfisches“ steht, zeigt seine Charakterisierung des Angegriffenen: „Der  Kofferfisch ist sowieso ein bißchen doof. Was Futterannahme angeht, da ist er ein bißchen dösig: Wenn die anderen längst satt sind, hat er erst gemerkt, dass es was gab, und dann ist er auch noch sehr langsam. Andererseits, wenn man ihm mit dem Finger zu nahe kommt, das ist mir mal passiert, dann stanzt er einem sauber ein Stück Haut heraus. Gerade neulich wieder beim Scheibenputzen, da hatte ich mich auf den Rotfeuerfisch konzentriert, was ich immer tue, und da kam der Kofferfisch von der anderen Seite und ich freute mich noch über seine Zutraulichkeit, aber – bumms – hatte er mich am Wickel. Zwar trage ich dicke Handschuhe, aber da beißt der auch noch durch. An dem Tag jagte der Doktorfisch ihn derart, dass ich das Becken mit einer Scheibe unterteilt habe, eine Woche lang, dann beruhigte sich der Doktorfisch wieder und ich habe sie erneut zusammengelassen.“

In dem Wikipedia-Eintrag war vom tödlichen Gift des Kofferfisches, Pahutoxin,  die Rede. Dies ist ein Nervengift, das sich beim Kofferfisch aus seinem Hautschleim bildet, es gehört zur Gruppe der „Choline“, welche durchweg aus „primärem  einwertigen Alkohol und einer quartären  Ammoniumverbindung bestehen. Cholin brauchen außer den Wiederkäuern- viele Lebewesen für ihren Stoffwechselprozeß. Verbindet sich der „Acetyl-Rest – C2H3O“ mit Chorin, entsteht  ein Botenstoff für die Nervenzellen:  der für viele Organismen wichtigste  Neurotransmitter „Acetylcholin“. Dieser „vermittelt“ die Erregungsübertragung zwischen Nerv und Muskel.

Vielleicht nicht zufällig erinnert das Kofferfischgift in seiner Zusammensetzung damit bereits an „OTwo“ – Handys,  Halle und Hostel, an Techno, Trance und Psycho. Künstlich dem Organismus zugeführt findet Acetylcholin als Partydroge Verwendung – beliebt vor allem bei den „Kofferfischen“. Na sowas! In der offiziellen Medizin soll das Mittel angeblich bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz helfen – eine  Kurpackung davon nennt man „Rentnerkoffer“. Es gibt aber auch das Gegenteil dazu: Bei übermäßiger Schweißbildung verabreicht man, um den Botenstoff dafür zu drosseln, ein „Anticholinergika“. Dieses Mittel  verlangsamt die Impulse des parasympathischen Nervensystems, welches die nicht dem Willen unterliegende Steuerung der meisten inneren Organe und des Blutkreislaufs leistet. Auch eine solche (künstliche) Verlangsamung kann zur „Spaß-Droge“ werden – insbesondere für solche „Kofferfische“, die hier nur übers Wochenende bleiben.

 

Altenglischer Pollerreigen

 

Schizo-Tat und -Mat

„Der Schizo weiß aufzubrechen, er macht aus dem Aufbruch so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben,“ heißt es in der Psychoanalyse-Kritik „Anti-Ödipus“ von Deleuze und Guattari. Während der Neurotiker stets „Mama“ und „Papa“ halluziniert, steht dem Schizo ein ganzer (antiker?) Chor zur Verfügung. Der den Surrealisten einst nahe gestandene Soziologe Roger Caillois hatte bereits in seiner Erklärung der „Mimese“ abseits ihrer „Nützlichkeit“ einen Anti-Darwinistischen Versuch unternommen, sie mit der „Schizophrenie“ in Verbindung zu bringen, indem er die Mimese als eine „Depersonalisation durch Angleichung an den Raum“ begriff, als „eine Störung der räumlichen Wahrnehmung“, die sowohl bestimmte Insekten als auch Schizophrene heimsuche („es gibt nur eine einzige Natur). Und so wissen – in dem Fall beide „im starken Wortsinn – nicht mehr, wohin mit sich.“ Weiter heißt es in seinem  Buch „Meduse & Cie“: „Der Raum erscheint diesen enteigneten Wesen als ein alles verschlingender Wille.“

Neuere Schizo-Analysen sehen in diesen  „Kranken“  individuelle Ausprägungen  unserer aktuellen Zeitverfassung, wie sie z.B. in den „Philosophischen Ansichten der Moderne“ von A. Kuhlmann  charakterisiert wird  – als „Auflösung eines narrativen Zusammenhang;  Zerstörung des raum-zeitlichen Kontinuums;  Außerkraftsetzung des Kausalitätsprinzips;  verwirrendes Spiel mit … Perspektiven; … Konturenlosigkeit und Zersplitterung der Personen; die Collagierung unterschiedlichster … Stile.“

Kurzum: „Die Schizophrenie ist unsere ‚Krankheit‘ – die des modernen Menschen,“ wie es bei Deleuze/Guattari heißt.

Nicht zuletzt aus diesem Grund weigern sich die Antipsychiatriebewegten – z.B. der „Irrenoffensive“ und andererer Betroffenengruppen – die „Schizophrenie“ überhaupt als „Krankheit“ zu begreifen, sie werfen umgekehrt der Psychiatern vor, mit völlig willkürlichen Diagnosen die davon Betroffenen  psychopharmakologisch zu sedieren, ihnen das Leben gewaltsam auszutreiben. Nicht zufällig haben sie den „falschen Arzt“ Gert Postel, der es als Hochstapler bis zum Oberarzt einer psychiatrischen Anstalt bei Leipzig brachte, zum „Helden“ der Antipsychiatrie erkoren, weil er – einzig mit seinem sicheren Auftreten – das betrügerische Einweisungs -und Heilsystem der Psychiater entlarvte. Sie haben ihn deswegen  sogar für den Medizin-Nobelpreis vorgeschlagen.

In seinem Dokumentarfilm „Die Hochstapler“ hat Alexander Adolph  vier einst sehr erfolgreiche Betrüger im Gefängnis porträtiert. Sie haben einiges gemeinsam, auch mit Gert Postel: 1. eine „schwere Kindheit“, sie wurden geschlagen und in Unreife gehalten. 2. Sie „spielten“ nicht den gewieften Geschäftsmann, sie waren es. So erzählte der 45jährige Finanzbetrüger Jürgen H., der reichen Hanseaten 300 Millionen Euro aus ihren schwarzen Kassen entlockte, dass einige ihn einmal wegen der immer  wieder versprochenen „Rendite“ in seinem Büro bestürmten, wo er sie mit dem Satz „Ich muß morgen früh nur noch ein Schriftstück beim Notar beglaubigen lassen“ ruhig stellte. Diese Notlüge wirkte sich bei ihm dergestalt aus, dass er am nächsten Morgen prompt zum Notar fuhr. Erst in dessen Tiefgarage fiel ihm ein: „Quatsch, das habe ich mir doch bloß  ausgedacht.“ Dieses Hochstapler-Phänomen der „Depersonalisierung“ wird in der Medien- und Dienstleistungsgesellschaft epidemisch. Versicherungen, Krankenkassen, Handyanbieter, Wohnungsvermieter – alles Betrüger! Jeder muß lernen, sich „besser zu verkaufen“, wie es in den Umschulungs- und Weiterbildungskursen heißt, aber auch beim „Coach“ der Arbeitslosen im „Jobcenter“ (!).

Zu den „Schizos“ können  auch Geschlechtswechsler gehören. Es stimmt nicht, dass z.B. in einem Mann, der sein Geschlecht umgewandelt hat, schon immer eine Frau schlummerte. Es handelte sich dabei nicht selten um zwei Identitäten, manchmal auch um drei oder vier. Wobei es sogar vorkommt, dass auf jeden  Identitätswechsel eine völlig andere Handschrift folgte.

Bei dem inzwischen berühmten Amazonasstamm der Pirahas ist es gewissermaßen Pflicht, dass man mehrmals im Leben seine Identität ändert – immer dann, wenn man sich qua Alter und Lebensumstände weit von seiner vorangegangenen entfernt hat. Die Pirahas sind gewissermaßen von Geburt an Schizos. Dafür spricht auch, dass sie weder Vergangenheit noch Zukunft kennen und es niemals lernen, bis vier zu zählen. Auch kennen sie weder Götter noch Teufel und glauben nur Berichten von Augenzeugen. Der brasilianische Staat hat dieses „glücklichste Volk der Erde“, wie seine US-Ethnographen es nennen, unter Artenschutz gestellt.

Den hiesigen Schizos soll es dagegen weiter antiaufklärerisch an den Kragen gehen: So hat z.B. der Vorstand der AOK Niedersachsen, ebenso biedere wie tumbe Gewerkschafter, sich und ihre Mitglieder schnöde an den amerikanischen  Pharmazie- und Konsumgüter-Konzern „Johnson & Johnson“ verkauft. Das hört sich für den in die Mühlen der staatlichen Entmündigung immer weiter gereichten und gereisten „Schizo“ so an: „Partner der AOK Niedersachsen bei diesem neuen Versorgungssystem ist das Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen (I3G GmbH). Diese Managementgesellschaft ist eine unabhängige Tochter des forschenden Pharmaunternehmens Janssen-Cilag GmbH.“ Und diese Psychopharmaka herstellende Firma ist wiederum eine Tochter von Johnson & Johnson. Das AOK/I3G/J&J-„Projekt“ nennt sich „Care 4 S GmbH“ – „S“ steht für Schizophrenie und die neue „GmbH“ ist ein „ambulanter Versorgungsansatz in enger Zusammenarbeit“ – mit allen, die sich an den Schizos dumm und dämlich verdienen möchten, indem es ein „Netzwerk“ organisiert – einen „Schizomat“, was auf eine Transformation der einstigen „Solidargemeinschaft“ in eine  „Psycho-Mafia“ hinausläuft.

 

Pollerprovisorium

 

Wirtschaftskraftzersetzung (WKZ)

Die WKZ soll bald ebenso strafbar sein wie einst – in grauer Vorzeit – die Wehrkraftzersetzung. Obzwar es stimmt, dass z.B. Siemens – wie die Spiegel-Journalisten H. R. Martin und H. Schumann in ihrem Buch „Die Globalisierungsfalle“ – schreiben: „Seinen Konzernsitz steuerrechtlich ins Ausland verlegte.“ Und also längst so etwas wie einen ausgeflaggter Tanker ist, dessen Heimathafen bloß noch aus einer  Scheinadresse besteht. „Von den 2,1 Milliarden Mark Gewinn des Geschäftsjahres 1994/95 bekam der deutsche Fiskus nicht einmal mehr 100 Millionen, im Jahr 1996 zahlte Siemens gar nichts mehr.“ Auch anderswo nicht: „Das Imperium Siemens führte noch 1991 fast die Hälfte des Gewinns an die 180 Staaten ab, in denen es Filialen unterhält. Binnen vier Jahren schrumpfte diese Quote auf nur noch 20 Prozent.“ Gleichzeitig vermehrten sich bei der Bank aller Banken „Clearstream“ in Luxemburg die „unveröffentlichten Konten“ von Siemens, über die wahrscheinlich ein Großteil seiner Schmiergeldzahlungen abgewickelt wurde: „Die Aufnahme von Siemens sorgte für Wirbel“ in dieser den Banken vorbehaltenen Metabank, erinnert sich der ehemalige „Clearstream“-Manager Ernest Backes. Daneben hat sich der „Global Player“ auch in andere Richtung vorgearbeitet – und dabei stets die dicksten deutschen Forschungsgelder, Dritte-Welt-Entwicklungsprojekte und – nach der Wende – die meisten DDR-Betriebe abgegriffen, für die er zudem äußerst üppige „Sanierungshilfen“ vom Staat bekam. Nur die Deutsche Bank hat noch mehr an der Wiedervereinigung  verdient.

In Tschechien hat das Filialnetz der amerikanischen „General Electric-Bank“ längst alle  Kleinstädte überzogen, in Berlin eröffnete gerade eine Filiale der „Mercedes Benz Bank“… „Zahlreiche Konzerne sind längst ihre eigene Bank. Dafür steht wie kein anderer die Siemens AG, die mit ihren Geldgeschäften mehr verdient als mit ihren weltbekannten Produkten,“ hieß  es 1996 in „Die Globalisierungsfalle“. Inzwischen hat sich dieses „Krebsgeschwür Konzern“ (Harald Frey) auch noch vom Bereich „Consumer Products“ getrennt. Aus seinen „Kaufleuten“ wurden Lobbyisten. In Bischofsheim z.B. mußte die griechisch-orthodoxe Kirche der russisch-orthodoxen übergeben werden, weil Siemens dort seine Staubsaugerfabrik in einen „Hightechkomponenten-Standort“ transformierte – und die griechischen Gastarbeiter zugunsten von „Russen“ verschwanden. Letztere wurden in die leerstehenden Wohnungen der dort 1994 abgezogenen US-Offiziere einquartiert. Bei Osram in Berlin Spandau werden keine Glühbirnen mehr hergestellt: „Wir sind jetzt ein Hightechbetrieb,“ wie die Frau in der Telefonzentrale es ironisch formulierte. Die Siemens-Handysparte wurde erst über „BenQ“ abgewickelt und dann der gesamte „Communication“-Bereich in einem Joint-Venture mit Nokia quasi ausgelagert. Die „Siemens-Stadt“ im Norden Berlins gibt es auch schon fast nicht mehr. Der Chefredakteur von Europolitan, Marc Sondermann, nannte diese „Verschlankung eine der schwerwiegendsten strategischen Weichenstellungen in der 160 Jahre langen Konzerngeschichte.“

Im Handelsblatt durfte am Ende des ersten Quartals 2012 der derzeitige  Siemens-Chef Peter Löscher seine „aktuelle Kampagne“ bewerben: für „Erneuerbare Energie“ – bei der er „große Chancen“ sieht. Die Bundesregierung  will Siemens, Eon und RWE den „langsamen  Ausstieg aus der Atomkraft im Inland versüßen, erklärte dazu das „amerika21“-Portal, nachdem es vermeldet hatte, dass Deutschland für den „Siemens-Deal“ mit Brasilien zum Bau des Atomkraftwerks „Angra 3“ mit 1,3 Milliarden Euro bürgen will. Die brasilianische Regierung steht nach wie vor zu dem Projekt aus den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts, während „Greenpeace“-Gutachter zu dem Ergebnis kamen, dass mit der veralteten Technik „Angra 3“ nicht sicher zu betreiben ist. In Brüssel erwirkte „Greenpeace“ dafür zuletzt mit Siemens (und Philips) ein „Glühbirnenverbot“ – zugunsten von Energiesparlampen, die –  ebenso wie zuvor die Glühbirnen – von den beiden Elektrokonzernen hergestellt werden. Über ihr Glühbirnenverbot stimmte das EU-Parlament nicht einmal ab. „Greenpeace“ ging es dabei laut ihrer Pressesprecherin ganz uneigennützig nur um die „E=mcHochzwei“-Reduzierung, wobei „E“ hier für Emission steht. Dass das in den Energiesparlampen enthaltene Quecksilber bei Austritt – hervorgerufen durch Glasbruch z.B. – ebenfalls ganze Bevölkerungsstatistiken heillos versauen kann, ficht die Global Player im Umweltschutz ob ihres „Single Issue“-Fokus nicht an. Auch nicht, dass dabei ein biederer und letztlich unbrauchbarer Ökologie-Begriff zum „Einsatz“ kommt.

„Wir haben zwischen Moderne und Ökologie zu wählen. Ökologie ist nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern das Nachdenken, der logos, darüber, wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann. Ökologie wird nur dann gelingen, wenn sie nicht in einem Wiedereintritt in die Natur – diesem Sammelsurium eng definierter Begriffe – besteht, sondern wenn sie aus ihr herausgelangt.“ (Bruno Latour)

 

Mobilpoller mit Pollerträgern

 

Der freie Wille

Heute, da einem selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen werden, wie der polnische Dichter Stanlislaw J. Lec seufzte, ist nichts so umstritten wie der Freie Wille. Schuld sind vor allem die Genetiker und Neurobiologen, die uns bzw. unser Gehirn als derart fest „programmiert“ begreifen, dass sich niemand mehr persönlich schuldig machen kann  – und mithin jede Bestrafung (mit Gefängnis z.B.) unsinnig ist. Das hat jedoch den Tierforschern keine Ruhe gelassen, die schon lange nicht mehr von „instinktgesteuertem Verhalten“ (Konrad Lorenz) reden, sondern im Gegenteil sogar der winzigen Fruchtfliege (Drosophila), eine der meistbenutzten „Modellorganismen“ in den Bio-Laboratorien, nach langen Experimenten einen „freien Willen“ attestierten. So kam z.B. der Zoologe Björn Brembs zu dem Ergebnis: „Bei der Willensfreiheit geht es im Wesentlichen um die Fähigkeit, in der gleichen Situation unterschiedlich zu handeln – also auf bestimmte Reize mal so, mal anders zu reagieren, oder auch spontan zu handeln, wenn es gar keinen äußeren Anlass gibt. Und diese Variabilität des Verhaltens finden wir auch schon bei Fruchtfliegen.“

Fruchtfliegen sind eigentlich immer betrunken, weil sie sich von vergorenen Früchten ernähren. Dazu passend wählen die Weibchen sich ihre Paarungspartner aus einem Reigen tanzender Männchen aus. Schon ihre  Larven üben sich in Trunkenheit –  sie vertragen ebenfalls große Mengen Alkohol, während sie in  vergorenen Früchten heranwachsen. Ihre „Alkoholkrankheit“ wird sogar noch von der (darwinistischen) Selektion belohnt, wie US-Biologen herausfanden: Sie beobachteten, dass   Schlupfwespen ihre Eier in die Larven legen, die diese dann als junge Wespen von innen her auffressen. Die Forscher überließen daraufhin mit Wespen-Eiern infizierten und gesundenDrosophila- Larven die freie Wahl  zwischen Futter mit oder ohne Alkohol. Befallene Larven bevorzugten zu 80 Prozent Nahrung mit Alkohol, gesunde Larven nur zu 30 Prozent. „Die infizierten Fruchtfliegen scheinen absichtlich Alkohol zu konsumieren,“ heißt es nun. Und sie überlebten damit auch, denn der Alkohol tötete die jungen Wespen in ihrem Leib, noch bevor sie diesem Schaden zufügten. Von den infizierten 20% der Larven, die Alkohol mieden, starben alle.

Zurück zum Freien Willen: Der holländische Primatenforscher Frans de Waal siedelt den Menschen kulturell ungefähr zwischen den Schimpansen und den Bonobos (Zwergschimpansen) an. Erstere lösen Konflikte notfalls mit Gewalt, letztere fast immer sexuell. Dennoch haben auch erstere  einen „freien Willen“, um ihre „Feindseligkeiten“ friedlich zu lösen. Und wie bei den  Menschen ist bei beiden auch „das Küssen eine Form von Friedenstiften“.

Der Tierliebhaber Konrad Lorenz hielt einzig den Menschen – in seinem Buch „Das sogenannte Böse“ – für grundsätzlich  aggressiv, also für willenlos böse. US-Affenforscher haben jedoch inzwischen  herausgefunden, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Säugetieren  sogar noch „relativ friedfertig“ sind: Man müßte laut Frans de Waal mindestens „360.000 Stunden Beobachtungszeit“ für uns aufwenden, um „todbringendes Verhalten“ zu entdecken. Im Gefolge dieser und anderer Sichtweisen der Verhaltensforschung auf „Krieg und Frieden“, die der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeld 1975 systematisierte – „chauvinistisch“, wie der Spiegel meint, machten sich bald auch  populärwissenschaftliche Autoren in Größenordnungen auf die  Suche nach den anthropologischen (Ab-)Gründen „unserer“ kriegerischen Grausamkeiten. So u.a. auch die linke US-Journalistin Barbara Ehrenreich mit ihrem Buch: „Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg.“ Ein Schmarrn! Die Affenforscher sind da schon weiter. Der in den USA arbeitende Frans de Waal begreift z.B. den „Hang der Amerikaner, Konfliktlösungen in die Hände von Anwälten zu legen“ als  Indiz dafür, „dass bei ihnen die Fähigkeit, soziale Konflikte zu lösen im Vergleich zu anderen kulturellen Gruppen – bei Menschenaffen und Holländern z.B. – schwach entwickelt ist.

Wenige Amerikaner würden bestreiten, dass in ihrer Sprache das Wort ‚Versöhnung‘ fast synonym ist mit dem Wort ‚Kapitulation‘. Die Suche nach einem Kompromiss gilt bei ihnen nicht als eine hohe Kunst; sie hat den Beigeschmack von Schwäche.“

Ganz anders im kleinen dichtbesiedelten Holland, wo man laut Frans de Waal tolerant ist und vielfältige Versöhnungs-Strategien im Sozialen wie im Politischen kennt.

Dies gilt auch für Paviane, wie die feministische US-Pavianforscherin Shirley Strum versichert: Sie sind permanent damit beschäftigt, das Soziale (wieder) herzustellen – und „machen das wirklich nett“. Im Vergleich zu uns Menschen, meint sie, sind Paviane wahre  „Sozial-Profis“ während sich bei uns umgekehrt das wenige „Soziale“  auch noch ideologiegestützt immer mehr  verflüchtigt. In den USA gibt es bereits eine Million Rechtsanwälte!

Das mitunter durchaus produktive Hin- und Her-Analysieren  zwischen Tier- und Menschen-Soziotopen verdanken wir der japanischen Affenforschung, wie der Primatenforscher Jun’ichiro Itani meint: „Die japanische Kultur macht kein Aufhebens um den Unterschied zwischen Menschen und Tieren und ist damit bis zu einem gewissen Grad von den Verlockungen des Anthropomorphismus geschützt…Wir sind davon überzeugt, dass dies zu vielen wichtigen Entdeckungen geführt hat.“

Diese werden inzwischen auch von Ethologen und Ethnologen aus dem Westen anerkannt.  So meint z.B. Frans de Waal: „Es gibt viel Natur in der Kultur, so wie sich auch viel Kultur in der Natur findet.“ Noch radikaler – da zudem inspiriert von der soziologischen „Akteur-Netzwerk-Theorie“ Bruno Latours – formulierte es die  feministische US-Biologin Donna Haraway: „Zwar gibt es keine Natur und keine Kultur, aber viel Verkehr zwischen beiden.“

 

Grüner Poller statt Baum

 

Die Mitleiden locken

Derzeit haben wir geradezu eine Welle von Sachbüchern über unseren Umgang mit Tieren, in denen die Autoren sich zwischen einerseits „streicheln“ und andererseits „töten“ moralisch ausbalancieren. Dieses „paradox“ genannte Problem ist zwar uralt, kommt aber diesmal angelsächsisch aufs Pragmatischte zugespitzt – quasi als eine Handlungsanweisung – zu uns. Über die Umwelt- und Naturschützer, in Sonderheit die Tierschützer und (militanten) „Tierbefreier“, zu den „Animal Studies“, auch „Human Animal Studies“ genannt. Das sind bisher noch „unterkomplexe“ Forschungsbereiche (mit wenig Rentenansprüchen), in denen jedoch schon tausende von Autoren mit den Füßen scharren, sprich: publizieren, recherchieren, dublizieren. Wobei der Ton zwischen buddhistischem Vegetariertum, Konrad Lorenz, Peta und World Wildlife Fund (WWF) changiert. Je amerikanisierter  ihre „Mission“ desto individueller ist der  Approach zugespitzt.

So z.B. in Karen Duwes Buch „Anständig essen“, das auf den US-Bestseller „Tiere essen“ von Jonathan Foer folgte, mit dem zusammen die Autorin dann einige Lesungen bestritt. In ihrem Buch ist einerseits vom Unanständigbleiben   – den Schandtaten der Agrarindustrie , und andererseits vom Anständigwerden die Rede – in ihren Essensexperimenten mit sich selbst und 10 Zentner sensibler Pflanzenmasse: Sie ernährte sich eine zeitlang abwechselnd „biologisch, vegetarisch, vegan und frutarisch“ (für die Frutarier ist sogar das Ausreißen einer noch lebenden Mohrrübe Mord). Auf allen Autoren-Photos ist sie auf ihrem kleinen Bauernhof in Brandenburg zu sehen – mit einer Huhn auf dem Arm. Dieses heißt  Rudi. Der Berliner Zeitung verriet sie, dass es einer „Befreiungsaktion“ aus der überbelegten Halle eines Biohofs entstammt. Und das ihr, indem sie das Essen mit Moral verband, jeder „Hackbraten zu Quälfleisch“ wurde.

Eine noch pragmatischere Lösung des Problems schlug  der ebenfalls aufs Land gezogene Kulturwissenschaftler  André Meier in seiner „kleinen Aussteigerfibel“ vor: Einerseits ist dort noch die  vorpommersche Einstellung in Kraft: „Tiere, die einen Namen haben, ißt man nicht!“ Andererseits sollte man „sein Herz nicht an ein Huhn, Kaninchen oder Lamm verschenken sollte. Hier gilt die alte Bauernregel: Mit Essen spricht man nicht!“

Der US-Autor Hal Herzog hat auch was zur Auflösung unseres widersprüchlichen – „paradoxen“ – Verhältnisses zu Tieren zu sagen: „Ich habe folgende Regel,“ schreibt er in seinem Buch, „Wenn ich draußen bin und von einer Bremse gestochen werde, darf ich sie totschlagen. Aber wenn die Bremse zu mir ins Haus fliegt, muß ich sie retten und nach draußen bringen.“ Er überträgt damit die frühorientalische Blutrache zusammen mit der dortigen Gastfreundschaft im Moment ihres Verschwindens auf die spätokzidentalen Tiere.

Das Seltsame an all diesen gutmeinenden weltumspannenden Gedanken/Ideen zur Lösung „unseres“, der Menschheit, moralischen Dilemmas, ist ihre geringe Überzeugungskraft – im Vergleich etwa mit Tier-Geschichten. Ich denke dabei u.a. an die Erzählung einer Psychologin, die wegen einer rätselhaften Virenerkrankung drei Jahre im Bett verbringen mußte, wobei ihre Hauptbeschäftigung die Beobachtung einer Schnecke war, die auf einer Pflanze neben ihrem Bett lebte. Dazu las sie sich  gründlich in die Schneckenforschung ein. Der Leser tritt nach der Lektüre ihres Schneckenbuches nie mehr gedankenlos auf eine Schnecke. Ähnlich ging es mir in den Siebzigerjahren mit einer mehrteiligen Fernsehsendung des Tierfilmers Horst Stern über Spinnen: Seitdem bin ich voller Hochachtung diesen von vielen als besonders eklig empfundenen Gliederfüßern gegenüber. Inzwischen kann man glatt von einem US-Stil reden – bei diesen Tier-Monographien: So wie im Hunde-Buch der Psychologin Alexandra Horowitz jedes Kapitel mit einer Beobachtung ihres eigenen Hundes beginnt – und dann der aktuelle Stand der entsprechenden Hundeforschung rekapituliert wird, schreiben inzwischen viele (meist feministisch inspirierte) Tierforscherinnen. Lange Zeit gab es dafür getrennte Genres: Romane einerseits – Wissenschafts-Berichte andererseits. Am Beispiel Hund  sei dazu hier nur an Thomas Manns Roman „Herr und Hund. Ein Idyll“ und Iwan Pawlows Forschungsresümee „Die höchste Nerventätigkeit (das Verhalten) von Tieren“ erwähnt.

Die moralischen Belehrungen der Menschheit (auf Deutsch) sind natürlich nicht ganz nutzlos, zumal in Verbindung mit politischen Aktionen zeigen sie Wirkung. Bis dahin, dass gerade mit der Novellierung des Tierschutzgesetzes den Zirkusunternehmen die Dressur von Wildtieren verboten wurde, weil man diese nun  „artgerecht“ halten muß. Obwohl dem Anschein nach es im Zirkus beschäftigten Tieren besser geht als den stillgestellten in den Zoologischen Gärten, haben die Tierschützer immer wieder für die Wildtiere in den Zirkusunternehmen protestiert und lobbyiert. Die Süddeutsche Zeitung stimmt ihnen zu: „Je genauer man die Zirkustiere wissenschaftlich beobachtete, desto unvermeidlicher traten alle ihre Leiden hervor.“ Gleichzeitig mäkelte die SZ jedoch: Das Zirkuswildtier-Verbot geschah allein wegen „unseres guten Gewissens“ – nicht aus „Sorge um die Tiere“. Daneben erlaubt das Gesetz fortan nur noch, dass Ferkel in ihren ersten Lebenswochen ohne Narkose kastriert werden. Das geht den Tierschutzverbänden längst  nicht weit genug: Die kleinen Ferkel sind schmerzempfindlicher als man denkt! argumentieren sie.

 

Freiburger Tierpoller

 

Großstädtisches Benehmen

Berlin will partout Weltmetropole werden, gleichzeitig ziehen immer mehr Westdeutsche und Wildtiere in die Stadt. Letztere seien laut Martin Heidegger besonders weltarm, heißt es dazu unter „Weltoffenheit“ auf Wikipedia: „Infolge seiner Weltarmut ist dem Tier das Seiende als Seiendes nicht zugänglich, es ist Heidegger zufolge verwoben in seine Umwelt, bestehend aus einem ,Umring‘ von Trieben, die auf einzelnes Begegnendes hin enthemmen und dazu führen, dass das Tier von der Sache ,hingenommen‘ ist.“ Und weiter: „Damit ist dem Tier ein freies ,Verhalten‘ zum Seienden verwehrt; Verhalten ist nur dem Menschen eigentümlich. Durch die Verbindung von Trieb und seinem Gegenstand ist das Tier in seinem Tun ,benommen‘. Wegen dieser Benommenheit und in Abgrenzung zum menschlichen ,Verhalten‘ sagt Heidegger, das Tier ,benimmt‘ sich.“

Auch die neu zugezogenen Menschen wissen sich meist zu benehmen. Sieht man davon ab, dass sie – wie etwa in Prenzlauer Berg geschehen – des urbanen Lärms wegen hinzogen, dann dort jedoch vehement Ruhe einklagten. Aber wie benimmt sich nun das Tier? Drei Beispiele:

1. Ein männlicher Fuchs, nennen wir ihn Emil, hat sein Revier zwischen dem Görlitzer Park und dem U-Bahnhof. Neulich stand er an der Ampel Manteuffel Ecke Skalitzer. Diese wollte er überqueren. Als die Ampel auf Grün sprang, trat er jedoch zurück und ließ mir den Vortritt. Ich wohne dort schon seit über 25 Jahren.

2. Als ich im Frühsommer das Auto auf dem Parkplatz der Lieper Bucht an der Havel aufschließen wollte, drängte mich eine alte Wildsau beiseite, sprang mit den Vorderfüßen auf den Fahrersitz und durchsuchte die Mittelkonsole nach Essbarem. Da dort nichts lag, verließ sie rückwärts den Wagen, bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick und zog sich leise grunzend in den Wald zurück – mit ihren acht Frischlingen, die während der Durchsuchung in meiner Nähe gewartet hatten. Ihr forsches Benehmen würde ich als durchaus deeskalierend bezeichnen.

3. Im Spätsommer hatte im Humboldthafen ein älterer Höckerschwan einem jungen, der seiner nestbauenden Schwänin zu nah gekommen war, am Stauwehr in die Enge getrieben und dort so heftig attackiert, dass ein Passant die Feuerwehr rief, die ihn jedoch nur bat, weiter auf die beiden kämpfenden Schwäne aufzupassen: „Wenn wir den jungen fangen, wird der noch mehr verletzt und wir auch – und in der Schwanenstation geben ihm die Tierärzte sofort eine Todesspritze. Die wissen dort vor Schwänen nicht ein noch aus. Ständig kommen Leute, die verletzte Tiere bringen: Schwäne, die von Hunden gebissen wurden, Schwäne, die gegen eine elektrische Leitung geflogen sind usw.“. Der Passant tat, wie ihm geheißen: Er blieb stehen und passte auf. Dem Jungschwan gelang es schließlich, aus der Stauwehrfalle zu entkommen, er kam hastig ans Ufer und lief zum Aufpasser, hinter dessen Rücken er sich gewissermaßen versteckte. Damit war er in Sicherheit, wenn auch arg gerupft.

Man könnte sagen, dass der Passant sich zu benehmen wusste, indem er den Jungschwan beschützte. Für diesen gilt jedoch ebenfalls, dass er, der als Wildvogel in die vermeintliche Weltstadt geraten war, inzwischen gelernt hatte, dass man hier jederzeit mit den Menschen rechnen muss, aber notfalls auch kann. Dass er dabei den besagten Passanten wählte, der ein ausgewiesener Vogelfreund war, ist vielleicht auch kein Zufall gewesen.

Die drei Beispiele zeugen zugleich von einem „Mangel an Eigenständigkeit“, wie Herbert Achternbusch ihn in „Welt“ erklärt: „Die Welt hat sie vernichtet, das kann man sagen. Ein Mangel an Eigenständigkeit soll durch Weltteilnahme ersetzt werden. Man kann aber an der Welt nicht wie an einem Weltkrieg teilnehmen. Weil die Welt nichts ist. Weil es die Welt gar nicht gibt. Weil Welt eine Lüge ist. Weil es nur Bestandteile gibt, die miteinander gar nichts zu tun haben brauchen. Weil diese Bestandteile durch Eroberungen zwanghaft verbunden, nivelliert wurden. Welt ist ein imperialer Begriff. Auch da, wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird er begradigt, das versteht ein jeder. Ein Bach, der so schlängelt. Karl Valentin sagt: ,Das machen sie gern, die Bäch.'“ Auf die 3 Neuberliner (Tiere) bezogen hieße das: Sie haben vor der Welt kapituliert. Für die meisten Altberliner gilt dasselbe. So will man jetzt z.B. das Rathaus Wilmersdorf und die Friedenauer Post verkaufen und selbst Rixdorf droht die „Aufwertung“.

 

Belgischer Zufallspoller

 

Simulationspolitik

1964 veröffentlichte der US-Autor Daniel F. Galouye eine Science Fiction mit dem Titel „Gefälschte Welt“. Es geht darin um ein Unternehmen, das zu Marktforschungszwecken eine Stadt im Computer simuliert. 1973 machte Rainer Werner Fassbinder aus diesem „Goldmann Weltraum-Taschenbuch“ eine zweiteilige Fernsehserie für das ZDF – mit dem Titel „Welt am Draht“. Hier geht es um ein „IKZ“ – „Institut für Kybernetik und Kommunikation“, das im Auftrag des Staates mit seinem Großrechner  „Simulacron-1“ eine virtuelle Stadtbevölkerung kreiert. Ein Staatssekretär, der von einem Stahlkonzern in die Politik wechselte, möchte vom IKZ Gewißheit darüber bekommen, dass die Verkehrspolitik in den nächsten 10 Jahren beibehalten – und die  Stahlnachfrage dementsprechend sein wird. Da dieses unsittliche Anliegen privaten Profitstrebens vom IKZ-Direktor brüsk zurückgewiesen wird, schleust der Stahlkonzern seinen Informatiker im Institut ein, der den Direktor schließlich ersetzt.

Die Frage, die sich der Science Fiction Autor Dietmar Dath kürzlich nach der  Vorführung von „Welt am Draht“ im Rahmen einer Berliner Faßbinder-Werkschau stellte: „Warum simuliert irgendjemand etwas am Rechner?“ hatte in den Sechzigerjahren der Peenemünder Steuerungsingenieur Helmut Gröttrup, der ab 1945 für die UDSSR Raketen baute und dann Chefinformatiker bei Siemens wurde, in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten so – noch etwas grob – beantwortet: „Die unternehmerische Freiheit ist ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruht!“ Einige englische Marxisten haben unlängst in der JW  ausgeführt, dass mit der Computerisierung erneut an die Realisierung einer Planwirtschaft gedacht werden könne. 1970 hatte dies bereits der US-Ingenieur Stafford Beer in Angriff genommen, als er für den chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende eine politische Entscheidungsmöglichkeit nicht mehr auf Basis von Statistiken sondern als rechnergestützte „Real Time Control“ konstruierte. Dergestalt sollte das Land politisch „gemanagt“ werden. Der Pinochet-Putsch beendete dieses Projekt, bevor das von Stafford installierte System die „Echtzeit“ erreichte.

Nun hat der Medienwissenschaftler Claus Pias in einem Kolloquium des Berliner Wissenschaftskollegs schon die Umrisse eines auf Computersimulationen  beruhenden „epistemischen Umbruch in den Wissenschaften“ nachzeichnen können.

Auch mit der Forschungsfreiheit ist es anscheinend vorbei. Die Simulation ersetzt die Repräsentation, „die Demonstration von Adäquatheit Beweise“, und  „Möglichkeiten“ die Wahrheitsfindung. Dazu erzählte Pias: „1995 entstand am NISAC, einer Kooperation zwischen Los Alamos und den Sandia National Laboratories, eine Simulation namens TranSims, Transportation Analysis and Simulation System. Ziel war es, das Verkehrssystem von Portland, Oregon zu simulieren, und die Methode war natürlich agentenbasiert. Modelliert wurde – ausgehend von Volkszählungsdaten, Straßenkarten und Nahverkehrs-Fahrplänen – nicht nur das gesamte Verkehrsnetz von Portland mit allen Straßen, Bussen, Autos, U-Bahnen, Strom- und Wasserversorgung und insgesamt 180.000 Orten (Schulen, Büros, Kinos, Wohngebäuden etc.), sondern auch eine virtuelle Population von 1,6 Millionen Einwohnern. Alle virtuellen Einwohner gehen dort ihren individuellen täglichen Aktivitäten und Routinen nach, d.h. sie fahren morgens mit dem Auto ins Büro oder abends mit dem Bus zur Nachtschicht, holen Mittags ihre Kinder von der Schule ab, verlassen nachmittags die Uni oder gehen abends ins Kino. Dies alles in der prozentualen Verteilung aufgrund statistischen Datenmaterials, im einzelnen Tagwerk jedoch individuell von Agent zu Agent, mit zufälligen und im Einzelfall nicht vorhersagbaren Verspätungen, Ausfällen oder Spontanentscheidungen. In dieses unsichtbare und kaum überschaubare Gewimmel des Alltags lässt sich nun hineinzoomen.“

Aus diesen Simulationsmodellen wird eine neue „Intervention auf die Umwelt“ möglich. Agentenbasierte Computersimulationen verwalten „Verkehr, Wirtschaft, Soziales und Gesundheit als einen einzigen komplexen, kommunikativen Zusammenhang, der alle möglichen Anfragen zu Lage und Austausch von Menschen und Dingen erlaubt.“ Sie sind nicht nur eine Art „Epochensignatur des Liberalismus, sondern auch mediales Erkenntnisinstrument von Gesellschaft und zuletzt ein wissenschaftliches Experimentierfeld dieser neuen Art des Regierens.“ Und sie „gehen ganz anders vor als die Statistik, denn sie glätten und aggregieren die Details nicht, sondern disaggregieren und entfalten sie als ‚anekdotische Komplikation‘ erst im Hinblick darauf, ob und wie Details zählen.“ Das könnte laut Pias die bürgerliche Politik grundsätzlich verändern. Wohl nicht zum Besseren hin!

 

Drei österreichische Landschaftsverschönerungspoller

 

Die Verschweinung des Ostens

Westberlin wird von Wildschweinen aus dem Osten heimgesucht: 5.000 leben in der Stadt, 1.000 wurden zum Jahreswechsel erschossen. In den Kinderbauernhöfen leben außerdem etwa 20 Hausschweine, wovon zwei hochqualifizierte Zirkussauen sind. Das sich von Menschen entleerende Umland wird dagegen von West-Schweinen überrollt.

Im nahen Eberswalde gab es zu DDR-Zeiten den größten Fleischverarbeitungsbetrieb Europas, er beschäftigte 3.000 Leute. In der dazugehörigen Mast- und Zuchtanlage wurden 200.000 Schweine jährlich aufgezogen. Lange regte man sich im Westen über diese Gigantomanie auf, nach der Wende musste der Betrieb aus ökologischen Gründen verkleinert werden. Im Jahr 2000 wurde die abgespeckte Anlage mit 300 Mitarbeitern an den Megakulaken Eckhard Krone verscherbelt. Heute ist sein Schweinekonzern wieder der „größte Hersteller von Fleisch- und Wurstwaren in Brandenburg“.

Ständig wird nun aber in Ostelbien versucht, ihn zu übertrumpfen. 2006 fand dazu eine Ausstellung im Schloss Neuhardenberg statt. Darin ging es exemplarisch um die von einem holländischen Investor im uckermärkischen Haßleben geplante „industrielle Schweinemastanlage“. Daneben aber auch um das gesunde Schwein als „Ersatzteillager“ für Menschen.

Für die Mastanlage in Haßleben mussten die Menschen ökonomisch manipuliert werden: Vor dem 20 Fußballfelder großen Objekt standen Schilder mit der Aufschrift: „Ja zur Schweinemastanlage! Für Arbeitsplätze und sozialen Ausgleich!“ Flankiert von zwei Pappschweinen, die den Autofahrern fröhlich zuwinken. Auch zu DDR-Zeiten wurden hier schon Schweine gemästet: 146.000 Tiere jährlich mit 800 Mitarbeitern. Im Dorf selbst gründete sich um die neue Anlage – mit 850.000 Schweinen und 54 Mitarbeitern – eine Bürgerinitiative, die sich „Pro Schwein“ nennt, und eine, die „Kontra Industrieschwein“ heißt, in ihr ist auch ein Veterinär aktiv, er sagte: Die frühere Anlage war „katastrophal, da wollte keiner gerne als Tierarzt arbeiten“.

Dies galt auch für unsere mit 8.000 Schweinen kleine Anlage in der LPG „Florian Geyer“, Saarmund, wo ich zuletzt arbeitete: Es war laut und stank, jeden Morgen musste man einige tote Tiere rauskarren, und eigentlich waren alle froh, als eine winzige Dorfinitiative eine Demo mit 12 Leuten vor dem Tor organisierte – woraufhin die Ämter in Potsdam 1990 die sofortige Schließung der Schweinemast verfügten – und 15 Leute ihren Arbeitsplatz verloren.

In Haßleben geht dagegen der „Schweinekrieg“ (Bild) nun schon ins achte Jahr. Ähnlich sieht es zur Zeit in Tollenseetal aus, wo der „berüchtigte Herr Straathof“, ein holländischer Investor, der bereits eine Schweinemastanlage in Medow für 15.000 Schweine betreibt, nun „Europas größte Ferkelfabrik“ errichten will – mit 10.000 Sauen und 40 Mitarbeitern. Die lokale Bürgerinitiative schreibt: „Die Riesenanlage vernichtet Arbeitsplätze im Tourismus und ruiniert die kleinen Schweinezüchter in der Umgebung, Wohnungen und Häuser verlieren an Wert, die Lebensqualität in der Region geht verloren“. Auf einem „Sternmarsch“ war 2009 von einer „Verwurstung des ganzen Landes“ die Rede, im Jahr darauf wurde die Riesensauerei dennoch genehmigt. Aber noch ist hier nichts entschieden.

Der Freitag kam des ungeachtet zu dem Ergebnis: „Immer mehr Züchter aus Holland gründen große Schweinemastanlagen in Ostdeutschland. Hier ist erlaubt, was ihnen zu Hause längst verwehrt ist – sie können viel Fleisch fabrizieren, ohne auf die Umwelt über Gebühr Rücksicht nehmen zu müssen.“ Einer hat sein „Schweine-Imperium“ bereits bis nach Tschechien und in die Ukraine ausgedehnt, sein hiesiger Verwalter meint: „Zu Hause in Holland wirst du als Schweinezüchter ständig wie ein Krimineller behandelt. Das ist in Ostdeutschland anders. Hier kannst du noch Unternehmer sein. Umweltkosten spielen keine Rolle.“

Dagegen mucken jedoch immer mehr Brandenbürger auf. Ihnen ist inzwischen klar: „Wer Countrymusic spielen will, muss eine Menge Mist gerochen haben!“ (Hank Williams)

Reinster Pollerwahnsinn

 

The Good – The Bad – The Ugly – in Pankow

Die Ersten: Das sind naturgemäß die Ältesten. Und die sind in der DDR noch ganz rüstig. Ihren Widerstandsgeist  während der Nazi-Periode retteten sie über die DDR-Zeit als eine Art „Schläfer“. Aber „seit 89“ gilt das Wort von der „nachholenden Entwicklung“ – den Umbau von der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft, vom  Disziplinar- zum Überwachungs-Staat, von der Ökonomie zur Ökologie – auch für die Organisierung des Aufstands (das Meisterstück jedes ernsthaften Kommunisten). Viele der Ältesten leben in Pankow (weswegen Konrad Adenauer das „w“ immer mit aussprach). Und dort wurde nun kürzlich die „Mielke-Villa“ in der Stillen Straße von sogenannten Senioren besetzt. Die taz berichtete.

Inzwischen findet man im Internet unter dem Stichwort „Pankow“ fast nur noch Berichte, Meinungen und Vordergrundinformationen über  die „Bude Unruh“, wie die von Rentnern okkupierte Immobilie  von der Süddeutschen Zeitung genannt wird. 39 Arbeitsgruppen tagen darin. Zwar sind nun tagsüber mehr Journalisten als Besetzer im Haus, aber diese werden dafür umso öfter in ihrer „Begegnungsstätte“ interviewt. Denn „die Medien“ sind auf ihrer Seite: „Heute wohnen in diesem Winkel von Pankow vor allem Familien, die sich Energiesparhäuser und schicke Bungalows leisten können. Inmitten des neuen Reichtums steht das schlammbraune Haus, schreibt die SZ.“ „Das Gelände ist ein Schatz,“ wird dazu ein  Grundstücksmakler zitiert. Deswegen will das Bezirksamt die Immobilie auch verkaufen, wobei man nach Verteilung der Rentner auf andere Einrichtungen auch noch 60.000 Euro Unterhaltskosten jährlich einsparen würde.

Schon begann eines der Ämter das Haus von unten nach oben zu räumen, indem es einen „Hausmeister“ vorschickte, der beim  Sportraum im Keller das Schloß auswechselte. Die Senioren boten dagegen einen „jungen Mann“ auf, der diesen halbwegs abwehren konnte.  „Eskalation! Jetzt haben die Senioren ein Problem: friedlicher Protest ja, Gewalt nein!“ frohlockte laut Märkischer Allgemeinen der stellvertretende Bezirksbürgermeister von Pankow – ein grüner Westler, dessen „bundesweite Resonanz auch mit der Bionade-Upperclass von Prenzlauer Berg zu tun hat,“ wie der Tagesspiegel unkte.

Die Besetzerin Renate Kelling 77, eine ehemalige Mathelehrerin,  hat inzwischen „Wut im Bauch, um ehrlich zu sein“. Alles drehe sich nur noch ums Geld. So sieht das auch die ehemalige Französischlehrerin Waltraud: „Die ganze Gegend hier ist jetzt exklusiv von Westlern okkupiert, die Ostler haben ja nicht so das Geld.“ Helga Schiller, 75, ist ebenfalls wütend. Ihr hat man gerade den Kleingarten in Pankow gekündigt – „nach 40  Jahren. Der Garten ist jetzt Bauland.“ Ihr Mann Heinz ergänzt: „Und jetzt will man uns auch noch unseren Klub wegnehmen…Wer hätte gedacht, dass ich mit 83 noch mal zum Hausbesetzer werde.“

Die Zweiten: „Das sind die Westbeamte in der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS) gleich nebenan – in der Präsidialkanzlei des Pankower Schlosses Schönhausen. Dieses nicht mehr schlammbraune, sondern  beige Gebäude beherbergt nun den wichtigsten militärpolitischen „Thinktank“ Deutschlands, wie der Frankfurter Politologe Peer Heinelt dieses Hauptquartier der reaktionären Bellizisten nennt, in dem heuer Zwanzijähriges Jubiläum gefeiert wird. Geschult werden hier „neben hochrangigen  Militärs, Beamte des Bundesinnenministeriums, des Bundeskriminalamts (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes“ auch  „Manager etlicher Großkonzerne – u.a. von Rheinmetall, Siemens, Daimler, Deutsche Telekom, Commerzbank, Bayer, EADS und Deutsche Bahn.“

Der BAKS geht es dabei um den Aufbau eines „exklusive(n) Netzwerk(s) zwischen Entscheidungsträgern“. Diese sollen sich laut Peer Heinelt „einerseits damit identifizieren, daß Gewalt zur Durchsetzung des Zugangs zu Rohstoffen und Märkten ebenso legitim ist wie zur Beseitigung mißliebiger Regimes oder zur Bekämpfung von Aufständen in aller Welt. Andererseits soll ihnen vor Augen geführt werden, daß oppositionelles Verhalten oder gar die grundsätzliche Negation der bestehenden Verhältnisse in Anbetracht einer lückenlosen ‚Sicherheitsarchitektur‘ keine Chance auf Erfolg hat.“

Die Dritten, das sind die in die ehemaligen Unternehmervillen und Fabriken eingezogenen Besitzer bunter Eigenheime „mit manikürten Gärten und Tennisplatz und dunklen Limousinen vor den Garageneinfahrten,“ wie der SZ-Reporter sie vor Ort in Pankow beschrieb. Und das ist noch höflich ausgedrückt, denn in Wirklichkeit sind diese neureichen Kriegsgewinnler, die wie gesagt überwiegend aus dem Westen kommen, noch viel hässlicher. Der Grund: in der DDR überwog der von David Riesman so genannte „innengeleitete“ Sozialtyp (schon um gegen die kommunistischen Zumutungen von oben das eigene Private zu behaupten); während in westlichen –  „postindustriellen Wohlstandsgesellschaften mit sinkender Geburten- und gleich bleibender Sterberate“ – der Typus mit  konformistischer Außenlenkung dominiert: „Das Verhalten der Anderen wird maßgeblich für das eigene Verhalten; von anderen akzeptiert und für voll genommen zu werden, wird zentraler Wert. Abweichungen werden mit Gefühlen von Angst sanktioniert.“ Kurz gesagt: Die außengeleiteten Kaschmir-Wessis sehen gerade in Pankow alle so was von scheiße aus – und reden auch nur angeberischen Mist.

Junger Tunichtgut auf Kettenpoller. Alle Pollerphotos: Peter Loyd Grosse

 

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2012/07/13/fait-divers/

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  • Aus zwei nicht gerade demo-versessenen Ländern kommen folgende Nachrichten:

    Japan: „In Tokio haben am Montag 170.000 Menschen nahe des Yoyogi-Parks südöstlich des Stadtzentrums gegen die Atomenergie protestiert. Die Organisatoren hatten lediglich mit 100.000 Teilnehmern gerechnet.

    Nach Angaben der Veranstalter wächst in der Bevölkerung die Sorge vor der Wiederinbetriebnahme von Reaktoren in dem erdbebengeplagten Land. „Wir brauchen keine Atomenergie! Gebt uns die Region Fukushima zurück!“, riefen die Demonstranten, die aus allen Regionen des Landes in die Hauptstadt gereist waren.“ (taz)

    Israel: „Ein Jahr nach Beginn der Sozialproteste in Israel sind am Samstagabend in mehreren Städten des Landes wieder Tausende auf die Straße gegangen. Dabei skandierten sie den Slogan vom Sommer des vergangenen Jahres: „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“.

    Überschattet wurden die Kundgebungen in Tel Aviv von der Selbstverbrennung eines Demonstranten. Dieser hatte sich nach Angaben der Polizei mit einer brennbaren Flüssigkeit überschüttet und angezündet. Auf Aufnahmen des israelischen Fernsehsenders Channel 10 war zu sehen, wie Menschen versuchten, die Flammen mit Kleidungsstücken und Wasser zu löschen. Der Mann wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Die genauen Hintergründe sind noch unklar.

    Bevor sich der etwa 40-Jährige angezündet hat, soll er Kopien eines Briefs auf die Straße gelegt haben. Nach Angaben des Nachrichtenportals Ynet wird darin Regierungschef Benjamin Netanjahu und Finanzminister Juval Steinitz vorgeworfen, für die „ständige Demütigung“ der Israelis verantwortlich zu sein. „Sie nehmen von den Armen und geben es den Reichen“, heißt es demnach in dem Brief. (tagesschau.de)

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