vonSchröder & Kalender 24.05.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Anfang Mai berichtete die Tagesschau über den »Hotspot Schlachthof« in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mit dem Ergebnis, dass »die Branche die Gesundheit der Mitarbeiter riskiere«.

Vor zwei Tagen berichtete BR, dass sich »mehr als achtzig Schlachthofmitarbeiter mit dem Coronavirus infizierten – vermutlich in den beengten Unterkünften«.

Und in den Niederlanden mussten 600 Schlachthof-Mitarbeiter in Quarantäne.

Die aktuellen Nachrichten über Schlachthöfe und die schlechten Arbeitsverhältnisse osteuropäischer Arbeitskräfte, erinnert uns daran, dass sich hier seit 115 Jahren nichts geändert hat. Upton Sinclair hatte sich 1905 in die Schlachthäuser von Chicago eingeschlichen und berichtete von den dortigen kriminellen Zuständen. Arbeiter mit TBC husteten ins Fleisch, Akkordarbeiter pinkelten in die Rührwerke. Und es ging das Gerücht, dass Menschen in Bottichen ertrunken waren und eingedost wurden.

Upton Sinclair: ›Der Dschungel‹. Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Dieter Herms. Aus dem Amerikanischen von Otto Wilck. Originaltitel: ›The Jungle‹. Leinen, 484 Seiten. Umschlaggestaltung: Jörg Schröder mit einer zeitgenössischen Illustration. März Verlag, Berlin und Jossa 1980 (nur noch antiquarisch erhältlich).
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Im Jahr 1906 rüttelte ein Buch die Menschen auf, und der Absatz amerikanischer Fleischkonserven fiel ins Bodenlose, als man von den kriminellen Zuständen in den Schlachthöfen von Chicago erfuhr. Dies geschah nach dem Erscheinen von Upton Sinclairs ›The Jungle‹. Sinclair berichtet in seinem Tatsachenroman von den Zuständen in Chicagos Schlachthäusern.

Präsident Roosevelt nannte Sinclair wegen seines unermüdlichen sozialen Engagements halbverächtlich, halb hochachtungsvoll einen »Dreckwühler« und bat Sinclairs Verleger: »Sagen Sie ihm, er soll endlich Ruhe geben und die Regierung des Landes für eine Weile mir überlassen.« Schließlich lud er den 28jährigen Autor zum Lunch ins Weiße Haus ein. Das Ergebnis des Treffens: Referenten des Präsidenten begaben sich nach Chicago, sie kamen zurück mit einem Bericht, der die Befunde Sinclairs bestätigte – mit einer Ausnahme: Es gab keine Beweise für das Gerücht, dass Arbeiter in die Brühkessel gefallen und als »Armours Feinschmalz« in den Läden verkauft worden waren.

Gisela Elsner besprach das Buch für den NDR: »Selbst die beiden litauischen Familien, deren Schicksal im Mittelpunkt des Romans steht: Die Familie von Jurgis Rudkus und die Familie seiner geliebten Braut und späteren Ehefrau Ona, sind nicht frei erfunden. Sie wurden realen Vorbildern nachgezeichnet. Zudem sind die haarsträubenden Erfahrungen, die diese beiden bäuerlichen Familien machen müssen, nachdem sie im Glauben, es dort zu Wohlstand und Ansehen bringen zu können, nach Amerika ausgewandert sind, typisch für die Auswirkungen der Kapitalentwicklung um 1900 auf die Mehrheit der Bevölkerung der USA. Der Prozess der Monopolisierung war damals schon weit fortgeschritten, die Macht lag in den Händen weniger, deren Handlungsweise so ausschließlich von Protifgier bestimmt war, dass dies unmenschliche Arbeits- und Produktionsbedingungen zur Folge hatte.«

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Jack London sagte über den ›Dschungel‹: Das Buch ist »Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei«, und Bert Brecht schrieb nach der Lektüre seine ›Heilige Johanna der Schlachthöfe‹. Upton Sinclair stellte nach dem Erscheinen seines Bestsellers fest: »Ich zielte auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf sie nur in den Magen.«

Vita: Upton Sinclair wurde 1878 in Baltimore geboren, 1988 zog die Familie nach New York, wo sich der Neunzehnjärige sein Studium mit der Abfassung von Trivialromanen und Witzen für Zeitungen verdiente. 1904 begann er mit den Recherchen in Chicagos Schlachthöfen, 1906 erschien ›The Jungle‹. In der Zeit bis zu seinem Tode im Jahr 1968 in New Jersey verfasste er über hundert Romane, Sachbücher, Theaterstücke, dazu zahllose Essays und Pamphlete. Zu seinen bekanntesten Romanen, neben dem ›Dschungel‹, zählen: ›King Coal‹ (1917), ›The Brass Check‹ (1920, Studie über den Journalismus), ›Oil!‹ (1927, ›Öl!‹ 1984 bei März), ›Boston‹ (1928, Roman über den Justizmord an den Anarchisten Sacco und Vanzetti. 1978 bei März), ›The Wet Parade‹ (1931, Pamphlet gegen den Alkoholismus), ›The Flivver King‹ (1937, Am Fließband 1983 bei März) und der ›Lanny-Budd-Zyklus‹ (ab 1940). 1935 kandidierte Sinclair als Gouverneur in Kalifornien und errang einen Achtungserfolg. 1943 erhielt er den Pulitzerpreis. Sinclair war befreundet mit Charlie Chaplin, George Bernard Shaw, Albert Einstein, Sergei Eisenstein (Sinclair finanzierte den gescheiterten Mexiko-Film), Walt Disney u.v.a. Personen der Zeitgeschichte.

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(US / BK / JS)

 

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