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Liberale ÖkonomInnen und PhilosophInnen erzählen uns gerne, dass Demokratie und Kapitalismus bzw. freie Marktwirtschaft Hand in Hand gehen. Ein Glaubensbekenntnis, das inzwischen auch viele Konservative eingelullt hat. Paradebeispiele für die Verbreitung dieses liberalen Gedankenguts sind Milton Friedman in seinem Buch, Kapitalismus und Freiheit, und Friedrich von Hayek in Der Weg zur Knechtschaft.
Firmen und Unternehmen sind selten demokratisch: Das Beispiel von Leadership
Gegen diese Darstellung spricht vieles. Denn Unternehmen sind selten demokratisch, noch gewähren sie ihren Angestellten umfangreiche Freiheitsrechte. Im Gegenteil, Unternehmen sind hierarchisch strukturiert. Die meisten von uns haben Vorgesetzte, ein übergeordnetes Top-Management und, falls es sich um Aktiengesellschaften handelt, AktionärInnen, als BesitzerInnen des Unternehmens, die über uns thronen.
MitarbeiterInnen haben keine demokratischen Mitbestimmungsrechte, keine Besitzanteile an den Organisationen, in denen sie einen Großteil ihres Lebens verbringen und auch weniger Rechte, sich frei zu entfalten als „ChefInnen“ und BesitzerInnen.
Die Vorstände, CEOs, von Firmen werden als leader gefeiert, mit dem ganzen business Jargon, der sich um die Verehrung sogenannter „Leadership“ dreht. Das sollte uns bereits aufhorchen lassen, denn „leader“ heißt auf Englisch nichts anderes als „Führer“ im Deutschen oder „Duce“ im Italienischen.
Auch wenn klar ist, dass business leader nicht Führer im faschistischen Sinne sind, so ist auch klar, dass es sich um ausgesprochen undemokratische, autoritäre und in vielerlei Hinsicht paternalistische Rollen handelt, die auf die Gesamtstruktur von Unternehmen abfärben.
Wirtschaftliche Rechte und Wirtschaftsdemokratie?
Zwar besitzen wir heute Persönlichkeitsrechte und individuelle Freiheiten, aber wenige bis keine ökonomischen Rechte. Wir haben kein Recht auf Unterhalt, wir haben kein Recht auf anständige Berufe und wir haben kein Recht auf ökonomische Freiheit und Unabhängigkeit.
Auch bestimmen wir nicht demokratisch, was in unserer Gesellschaft produziert wird und wie die Produktion und Verteilung verläuft. Zum Beispiel können wir nicht demokratisch entscheiden, ob wir möchten, dass Elektroautos oder Autos mit Verbrennungsmotor in Deutschland produziert werden. Nicht, wie wir entscheiden können, welche Partei in den Parlamenten sitzt—wobei es sich auch hier ebenfalls, um eine sehr limitierte Form der politischen Demokratie handelt.
Organisatorische Notwendigkeit oder ethisches Ideal?
Nun mögen Liberale hier erwidern, dass Rechte und Demokratie effektives Wirtschaften unmöglich machen. Diese Behauptung wird gerne ohne jegliche Begründung vorgebracht. Und in vielerlei Hinsicht widerspricht sie der kapitalistischen Annahme selbst, dass wir als KonsumentInnen durch Konsumentscheidungen der Wirtschaft die Richtung geben.
Jedoch, um die Behauptung wirklich evaluieren zu können, müsste man komplexe betriebswirtschaftliche und ökonomische Forschung betreiben. Diese wird aber an kapitalistischen Universitäten nicht durchgeführt, denn sie würde potenziell das kapitalistische Machtgefälle unterminieren.
Worum es mir aber hier und im Folgenden geht, ist ein philosophischer Punkt. Liberale behaupten auch, dass es normativ wünschenswert ist—also auf der Ebene von Freiheit, Rechten und Demokratie—dass der überwiegende Teil von uns keine wirtschaftlichen Rechte hat, dass wirtschaftliche Demokratie ethisch nicht wünschenswert ist. Jedoch gibt es hierfür offensichtlich keinen guten Grund. Im Gegenteil, alles spricht für wirtschaftliche Demokratie, ökonomische Rechte und Freiheiten.
Die „Zwei Welten“ Lehre des Liberalismus
Die Idee, dass wirtschaftliches Leben undemokratisch sein soll oder kann, haben wir einer Art „Zwei Welten“ Lehre des Liberalismus zu „verdanken“: Auf der einen Seite, „der einen Welt“, sind Gesellschaft und Staat. Beide sollen demokratisch sein und durch Bürgerrechte charakterisiert werden.
Auf der anderen Seite, der anderen Welt, gibt es die Ökonomie und Unternehmen. Diese sind weder demokratisch noch gibt es hier individuelle, ökonomische Rechte, mit Ausnahme der Besitzrechte weniger UnternehmensbesitzerInnen, die wiederum die Rechte der meisten von uns aushöhlen.
Die Trennung zwischen Wirtschaft und Politik ist nicht älter als der Liberalismus selbst
Diese Unterscheidung ist inkohärent und auch nicht so zeitlos, wie Liberale es uns glauben machen wollen. Die Sphäre der Wirtschaft als separat von Staat und Gesellschaft ist nicht älter als der Liberalismus selbst.
Die Ideen von individuellen Rechten, Freiheit und Demokratie, mit denen sich Liberalismus gerne schmückt, gehen teils bis in die Antike zurück, sind also lange vor dem Liberalismus erdacht und praktiziert worden. Was Liberalismus als geistige und politische Bewegung des bürgerlichen Zeitalters wirklich auszeichnet, ist, wie er den entstehenden Kapitalismus rechtfertigt.
Das tat er durch die Unterscheidung zwischen Politik und Gesellschaft auf der einen Seite, und Wirtschaft, in der Form sogenannter „Märkten“ auf der anderen Seite. Denn das darf man auch nicht vergessen, die Idee von „Märkten“ wurde auch von liberalen DenkerInnen entwickelt, allen voran Adam Smith.
So hat der Liberalismus es ermöglicht, uns glauben zu machen, dass es richtig und natürlich ist, dass gesamtgesellschaftliche ökonomische Aktivität nicht demokratisch verläuft und dass wir keine ökonomischen Rechte haben, wie wir Bürgerrechte haben. Damit haben Liberale die Ideologie erfunden, dass kommerzielle Aktivität keine demokratische Aktivität ist. Jedoch ist nicht im geringsten klar, warum das so ein sollte. Um „insult to injury“ hinzuzufügen, wie man so schön im Englischen sagt, behaupten Liberale aber, dass Demokratie und Kapitalismus kohärent zusammengehören.
So hat der Liberalismus erreicht, dass Unternehmen und Organisationen autoritär und undemokratisch von kleinen Gesellschaftseliten (KapitalistInnen und deren Top-Management) ge-führt werden. Damit hat er erreicht, dass wir nur bedingt in Demokratien leben, sondern vor allem in kapitalistischen Plutokratien.
Denn wenn wir Marx beistimmen, ist die eigentliche Macht in der Gesellschaft ökonomische Macht. Und damit ist die Gesellschaft in den Händen von business leadern und GroßaktionärInnen, also KapitalistInnen.
Hierum scheint es den relevanten liberalen DenkerInnen immer gegangen zu sein; individuelle politische Freiheit und Demokratie immer nur der blendende Aufhänger. Nicht von ungefähr waren Friedman und Hayek Sympathisanten des Pinochet Regimes, dass für politische Unfreiheit und ungezügelte ökonomische Diktatur stand.
Das soll nicht heißen, dass es vielen Liberalen nicht wirklich genuin um individuelle Freiheiten und Rechte geht. Aber was sie übersehen bzw. ungewollt mitmachen, ist die Teilung zwischen Politik und Gesellschaft einerseits und Wirtschaft andererseits.
Auch wenn viele Liberale das nicht beabsichtigen mögen, so ist die Hinnahme dieser Trennung ein Kernübel unseres heutigen Lebens. Denn wirkliche politische und gesellschaftliche Freiheit und Demokratie lassen sich ohne ökonomische Freiheit und Demokratie nicht denken.
Wirtschaft wieder in Politik und Gesellschaft einführen
Daher sollten wir danach streben, die „Welt“ der Wirtschaft wieder in die „Welt“ der Politik und Gesellschaft einzuführen—also, die liberale Unterscheidung aus dem 18. Jahrhundert rückgängig zu machen.
Aus diesem Grund sprechen SozialistInnen um Bernie Sanders auch so gerne von der Demokratisierung des Wirtschaftslebens. Und aus diesem Grund beziehen sie sich so gerne auf Roosevelts Economic Bill of Rights, eine ökonomische Menschenrechtserklärung. Beruhend auf der Einsicht, dass eine Gesellschaft genauso ökonomische Rechte wie „klassische“ Bürgerrechte bedarf, um demokratisch und freiheitlich zu sein.
Denn wer die Idee ernst nimmt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, kann nicht gleichzeitig annehmen, dass wir wie eine Ware auf Arbeitsmärkten gehandelt werden. Dass wir, sobald wir die Rolle der Angestellten übernehmen, in hörige und untertänige Abhängigkeitsverhältnisse fallen, um ein Einkommen zu verdienen, dass wir für unsere Existenz verkaufen müssen, anstelle dass es uns unserer Würde halber zusteht. Nicht zufälligerweise ist die Idee vom Arbeitsmarkt, wie die Idee von „Märkten“ im Allgemeinen eine Erfindung des Liberalismus des 18. Jahrhunderts, wie Karl Polanyi es eindrucksvoll in seinem Meisterwerk, Die Große Transformation, gezeigt hat.
Sozialistische Fehler eingestehen und rückgängig machen
Dass Liberale mit ihren inkohärenten Ideen davonkommen konnten, verdanken wir leider auch der Linken im 20. Jahrhundert. Diese hat es nicht geschafft, marxistisches Vokabular über „Revolution“ und die „Abschaffung von Privateigentum“—beides Dinge, die für Marx anderes meinten, als für uns heute—an den Stand der Zeit anzupassen. Damit haben Sie suggeriert, als sei Sozialismus unfreiheitlich und undemokratisch.
Um ein Vielfaches schlimmer ist, dass sich SozialistInnen im 20. Jahrhundert nicht ausreichend intellektuell und praktisch von den „sozialistischen“ Diktaturen des 20. Jahrhunderts distanziert hatten, die für Marx primitive Varianten des „Kasernenkommunismus“ gewesen wären.
Auch so haben Linke Liberalen in die Hände gespielt, indem Liberale ihre undemokratische, unfreiheitliche Vorstellung von Wirtschaft immer noch als demokratischer und freiheitlicher darstellen konnten als Sozialismus—den einzig realistischen Gegenentwurf zu Liberalismus.
Um diese Fehler wiedergutzumachen, liegt es an der Linken, ihre Vorstellungen von der integrierten Sphäre von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft klar in zeitgenössischen Begriffen von Freiheit, Rechten und Demokratie zu formulieren.
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