vonAlexander Jeuk 19.05.2023

Alexanderplatz

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Trotz der vielen ökonomischen und ökologischen Krisen des Neoliberalismus, glauben viele Menschen an Margaret Thatchers Diktum, dass es keine Alternativen zum Kapitalismus gibt. In der Tat, die Mär vom angeblich konstanten Fehlen linker Wirtschaftspolitik ist zur Achillesferse linker Bewegungen geworden. Schlägt man sozialistische oder selbst nur sozialdemokratische Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung vor, bekommt man häufig die Antwort zu hören, dass die Ideen prinzipiell gut klingen, dass doch aber „jede linke Wirtschaftsordnung bis heute gescheitert sei“.

Im Folgenden habe ich eine Handvoll Antworten zusammengestellt, die Linke hierauf erwidern können, wenn Sie andere von der Idee einer besseren Wirtschaftsordnung überzeugen wollen.

Der Erfolg linker Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg

Linke Wirtschaftspolitik und -theorie kommt in vielen Formen und Farben. Neben klassisch marxistischen Varianten gibt es Marktsozialisten, Keynesianer, AnhängerInnen der Modern Monetary Theory, und viele ÖkonomInnen, die in Feldern wie evolutionärer Ökonomie oder Industriepolitik arbeiten, können ebenfalls als links gelten.

Jedoch denken die meisten Menschen an Varianten der Sowjetwirtschaft, wenn Sie an linkes Wirtschaften denken—Deutsche im Speziellen an die DDR. Während die meisten Ökonomien, die nach dem Sowjetmodell geformt waren, vergleichsweise erfolglos waren, hatten jedoch speziell sozialdemokratische Modelle in Westeuropa und Nordamerika ausgesprochenen Erfolg.

Massenwohlstand durch Sozialdemokratie

Diese sozialdemokratischen Wirtschaftsmodelle wurden nach dem Zweiten Weltkrieg oder in Teilen bereits vor diesem umgesetzt—man denke nur an den New Deal in den USA, der eine Antwort auf die desaströse ökonomische Zerstörung war, die der Kapitalismus in den 1920ern und 1930ern verursacht hatte.

Jene linken Wirtschaftsmodelle haben zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ermöglicht, dass ein Großteil der Bevölkerung moderaten Wohlstand genießen konnte. Sie beruhten auf marxistischen, keynesianischen und generell linken industriepolitischen Ideen.

In der Tat, nur ihre Anwendung hat uns in der Weltwirtschaftskrise 2008 und der Coronakrise vor dem ökonomischen Kollaps gerettet. Denn zig Billionen Euro wurden zur Rettung von Banken und Finanzmärkten frei nach keynesianischem Prinzip aufgewandt, was zum Beispiel Bill Clintons ehemaligen Arbeitsminister Robert Reich zu Recht zum Ausdruck, „we have socialism for the rich, and capitalism for everybody else“, bewog. Also, erfolgreiche linke Wirtschaftsprinzipien werden angewandt, um den Wohlstand der Reichen zu retten, aber jedem anderen von uns vorenthalten.

…und wie neoliberale Kapitalisten diesen Wohlstand rückgängig mach(t)en

Diese linken Wirtschaftsmodelle wurden seit den 1980er-Jahren durch neoliberale „Reformen“ ausgehöhlt und beseitigt und führen uns langsam wieder zur Armut und Ungleichheit, welche die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg prägte, wie es ÖkonomInnen um Thomas Piketty und Gabriel Zucman eindrucksvoll dokumentiert haben.

Eine Zeltstadt von obdachlosen Menschen in den USA (2020). credit: Robert Ashworth (CC BY 2.0) license.

In der Tat, der bedeutende Wirtschaftshistoriker und Soziologe, Karl Polanyi, verweist bereits in den 1940ern in seinem richtungsweisenden Buch, The Great Transformation, darauf hin, dass Liberalismus und Kapitalismus in der westlichen Welt durch die breite Bevölkerung als überkommen galten. Diskreditiert durch die Armut und das Elend, das sie verursacht hatten und den Umstand, dass sie vielerorts zu Faschismus führten, da sie, ähnlich dem heutigen Neoliberalismus, den solidarischen Gesellschaftsvertrag nivellierten, ökonomisch und sozial-psychologisch. Selbst konservative Parteien wie die CDU lehnten daher den Kapitalismus in der Nachkriegszeit ab.

Aus unerfindlichen Gründen haben viele von uns diese Geschichte des Liberalismus und Kapitalismus vergessen. Und Neoliberale, allen voran die Mitglieder der Mont Pèlerin Society um Friedrich von Hayek und Milton Friedman, gestützt durch Politiker wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher, sowie die finanzielle Kraft der Kapitalistenklasse, haben es geschafft, die Idee des Kapitalismus in den 1980er-Jahren durch geschicktes Lobbying und andere Formen der propagandistischen Beeinflussung wieder als erfolgreich zu verkaufen.

Der Aufhänger für diese neoliberale Propaganda waren die Ölkrisen der 1970er-Jahre, und die resultierende Inflation und hohen Arbeitslosenzahlen. Phänomene, die das neoliberale ökonomische Programm—im Gegensatz zum sozialdemokratischen—angeblich verhindert hätte. Jedoch ist dies fraglich, zumal es sich bei den Ölkrisen um externe polit-ökonomische Krisen handelte, also Krisen, die durch bewusste politische Entscheidungen der ölfördernden Länder ausgelöst wurden.

Vor allem aber muss man bedenken, dass die verheerende Weltwirtschaftskrise der 1920er gezeigt hat, dass (neo-)liberale Politik Wirtschaftskrisen schon gar nicht verhindern oder lindern kann—im Gegenteil, neoliberale Politik verursacht sie. Das hat jede Wirtschaftskrise seit der 2008 Weltwirtschaftskrise eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Neoliberalismus hat diese Krisen ausgelöst. Eigentlich linke Interventionsprinzipien haben sie gemildert, speziell auch während der Covidkrise, ohne aber die Mehrheit der Bevölkerung davon profitieren zu lassen.

Daher müssen wir uns nur an die eigentliche Geschichte erinnern, unabhängig von neoliberaler Geschichtsverklärung, und können so einen starken Punkt für linke Wirtschaftsmodelle machen.

„Aber die Sowjetunion…“

Ich gehöre zu jenen, die die Sowjetunion als vielleicht schlimmsten Schlag gegen den Sozialismus und Marxismus überhaupt erachten. Die Sowjets, oder vielleicht sollten wir eher von den Bolschewiki als spezieller sozialistisch-kommunistischer Partei sprechen, haben eine Variante—und man darf nicht vergessen, dass es sich hier nur um eine vieler möglicher Varianten handelt—des „Kasernenkommunismus“ durchgesetzt. Dieser Kasernenkommunismus steht in kompletter Opposition zu den ethischen Werten des Marxismus: Freiheit, Anti-Entfremdung und Verwirklichung der besten Fähigkeiten im Menschen.

Der für uns wichtige Punkt ist, dass die Sowjetunion linke Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen als solche nicht diskreditieren darf. Die Sowjetunion ist lediglich eine sehr schlechte Variante des Sozialismus, wirtschaftlich und ethisch. Das sollte an sich klar sein. Genauso wenig wie die Sowjetunion Sozialismus diskreditieren kann, kann der Umstand, dass die Französische Revolution zu Massenmord und unter Umwegen zu Napoleons Kriegen führte, die Idee der Demokratie untergraben.

Auch käme keiner auf die Idee zu behaupten, dass die Idee der Demokratie prinzipiell gescheitert ist, weil eines der ersten demokratischen Länder, die USA, für zig Jahrzehnte weiterhin Sklaverei betrieben. Letzteres stellt die amerikanische Demokratie der vorherigen Jahrhunderte infrage, aber sicherlich nicht die Idee der Demokratie als solcher. Und genauso verhält es sich mit dem Sozialismus in Relation zum Sowjetkommunismus.

Nun wird dennoch jenen, die linke Wirtschaftsordnungen verteidigen, gerne entgegengehalten, dass viele andere sozialistische Staaten dem totalitären Muster der Sowjetunion gefolgt sind und dass es daher so scheint, als würden Sozialismus und Marxismus automatisch zu Sowjetkommunismus führen. Da dies eine historische Behauptung ist, muss man sie auch im Rahmen der Geschichte untersuchen.

Wer verfolgt wird, kann keine bessere Zukunft aufbauen

Es ist zwar leider wahr, dass viele Länder dem Sowjetbeispiel gefolgt sind, oder eher, wie wir sehen werden, „mussten“. Das sagt aber nichts über Sozialismus und Marxismus per se aus, als vielmehr über die Brutalität der feudalen und kapitalistischen Gegner des Sozialismus im 20. Jahrhundert.

Henry Kissinger und Augusto Pinochet (1976). credit: Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile (CC BY 2.0 CL) license.

Hier müssen wir insbesondere auf die Geschichte des Kalten Krieges schauen. Jene SozialdemokratInnen und SozialistInnen, die linke Gesellschaften in demokratischer Form außerhalb Europas aufbauen wollten, sei es in Südamerika, Afrika oder anderen Teilen des Global South, sind regelmäßig durch Militärputsche und andere Aktionen jener Art überworfen, verfolgt oder umgebracht worden. Die Beispiele reichen von Allendes Chile über Goularts Brasilien bis hin zu Indonesien.

Wie der Kalte Krieg linken Bewegungen das Sowjetmodell aufzwang

Im Gegensatz zu jenen friedlichen sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegungen haben es nur jene geschafft, Bestand zu haben, die so skrupellos wie ihre Gegner waren. Das ist die traurige Geschichte des Kalten Krieges. Eine Geschichte, die bis heute Konsequenzen hat—man schaue nur auf die lawfare, die gegen Brasiliens SozialistInnen geführt wird.

Daher kann man es Linken schlecht vorwerfen, dass es keine Alternativen zu sowjetartigem Sozialismus gab—zumindest außerhalb Europas—wenn friedliche und non-sowjetische Linke regelmäßig verfolgt und umgebracht wurden und nur jene sozialistischen Modelle überleben konnten, die sich militärisch und geheimdienstlich von der Sowjetunion haben unterstützen lassen. Damit kam einher, dass diese Staaten auch das Gesamtpaket an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ideologie der Sowjetunion übernehmen mussten.

Das soll weder die Brutalität der Sowjetunion entschulden noch die jener Staaten, die der Sowjetunion gefolgt sind. Diese Regime sind unentschuldbar. Aber hier geht es uns ja gerade um die friedfertigen und demokratischen linken Alternativen zu sowjetartigem Kommunismus.

Genau diese konnten nicht Fuß fassen, weil die quasi-feudalen, kapitalistischen und imperialistischen Gegner linker Gesellschaftsformen friedfertige Alternativen zu Sowjetkommunismus brutal unterdrückt hatten. Daher hatten Linke häufig zwischen eigener Unterdrückung oder Sowjetkommunismus zu entscheiden. Und genau dies erklärt die Illusion, dass Sozialismus zu sowjetartigen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen führt.

Lüge: „Unregulierte Marktwirtschaft führt zu Wohlstand“

Es ist eine gängige Annahme, dass unregulierte Marktwirtschaften zu Wohlstand führen. Aber auch das stimmt nicht. Wie wir heute wissen, sind die ärmsten Länder genau jene, die sich eine Form von marktwirtschaftlicher shock therapy (Schocktherapie), die auf die neoliberale Galionsfigur Milton Friedman zurückgeht, haben aufzwingen lassen, unter anderem durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gemäß dem sogenannten Washington Consensus.

Wie Marktwirtschaft in der Form von shock therapy arme Länder ruinierte

Diese shock therapy „Reformen”, die Staaten jegliche Industrie- und Wirtschaftspolitik untersagen und an deren Stelle vorsehen, dass privatwirtschaftliche Märkte spontan entstehen, haben jene Industrien zerstört, die sich Länder in Osteuropa oder im Global South durch Industriepolitik mühsam aufgebaut hatten. Gerade die Länder des Global South wurden durch shock therapy häufig zu Rohstofflieferanten kern-kapitalistischer Staaten reduziert, wie Erik Reinert in seinem Buch „How Rich Countries Got Rich and Why Poor Countries Stay Poor“ aufzeigt.

Die jungen Industrien dieser Länder, die nicht mit jenen wohlhabender Staaten konkurrieren konnten, wurden auf dem Weltmarkt zerstört, und die einzige verbleibende Ware, die jene Nationen dem „Markt“ anbieten konnten, sind ihre Rohstoffe. Ebenfalls darf man nicht vergessen, dass der verheerende Zusammenbruch der Sowjetunion zwar auch Unzulänglichkeiten der Sowjetökonomie mitverschuldet ist, aber der Totalzusammenbruch auf shock therapy zurückzuführen ist—ähnliches gilt für die DDR.

Reiche Länder sind reich wegen staatlicher Industriepolitik

Das wird klarer, wenn man bedenkt, dass westliche Länder nicht reich sind, weil sie kapitalistisch oder marktwirtschaftlich geprägt sind. Noch ist die Durchschnittsbevölkerung in westlichen Ländern wohlhabend, weil diese Länder kapitalistisch oder marktwirtschaftlich geordnet sind. Wie bereits erwähnt, ist es die sozialdemokratische Gestaltung der Wirtschaft in den Nachkriegsjahren, die den Massen Wohlstand gebracht hat.

Westliche Staaten sind generell ökonomisch erfolgreich, gerade nicht, weil sie primär unregulierte Marktwirtschaften sind, sondern weil sie massiv Industriepolitik betrieben haben. Westliche Staaten sowie die erfolgreichen Nationen Asiens, allen voran Japan und Südkorea, haben ihre Industrien durch staatliche Hand aufgebaut, in einer Art versteckter Planwirtschaft, die man auch einfach nur industrial policy (Industriepolitik) nennen kann.

Zu diesen industriepolitischen Maßnahmen gehören die Entwicklung eines Bildungs- und Forschungssystems, die Weitergabe von Technologie an Unternehmen, die Kontrolle und der Ausbau der Qualität der organisatorischen Kapazitäten von Unternehmen und staatlichen Behörden. Des Weiteren zählen zu industriepolitischen Maßnahmen der Schutz und die Entwicklung einheimischer Industrien und Innovationscluster (u. a. durch Zölle), das Unterstützen und Kultivieren unternehmensinterner Lerneffekte, die Entwicklung von Absatz- und Verbrauchsmustern in der Bevölkerung durch Regulierungen und Subventionen und vieles mehr.

So wurde beispielsweise die Maschinenbauindustrie in Deutschland durch eine langjährige Industriepolitik des kaiserlichen deutschen Staates aufgebaut. Diese reichte von der Finanzierung der Ausbildungskosten von IngenieurInnen und MechanikerInnen in England über den Kauf von Maschinen bis hin zum Schutz der jungen Industrie durch Zölle und die Förderung der Nachfrage reichte.

Ähnliche Industriepolitik geschah in den USA, basierend u. a. auf den Vorstellungen von Alexander Hamilton. Und ForscherInnen haben ähnliche Muster in Ländern wie Frankreich, Japan, Südkorea und China beobachtet. Trotz der sukzessiven Aufgabe dieser Industriepolitik während der letzten vier Dekaden des Neoliberalismus, haben viele Überbleibsel Bestand. Zwar ist diese Industriepolitik nicht immer mit linker Intention betrieben worden, aber sie zeigt, dass es nicht unregulierte Märkte sind, die für Wohlstand verantwortlich sind. Und sie demonstriert, dass Industriepolitik Wohlstand generiert, die jederzeit linken Prinzipien unterworfen werden kann.

Konzerne sind oft erfolgreich, da sie staatliche Forschung „patentieren“

Auch heute noch patentieren viele Pharma– und Tech-Konzerne lediglich jene Techniken und wissenschaftlichen Errungenschaften, die aus staatlich finanzierten Laboren oder Forschungsprojekten stammen. Das heißt, der Innovationsvorteil reicher Staaten ist auf die Güte ihrer staatlichen Universitäten und Forschungsförderung zurückzuführen, nicht auf die vermeintliche Innovationskraft des Marktes.

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Der Erfolg wohlhabender Länder geht nicht auf Kapitalismus oder Marktwirtschaft zurück, sondern auf linke Wohlstandsprinzipien und von Staaten geplante Industriepolitik—ein Argument für linke Wirtschaftsordnungen, das kaum stärker sein könnte.

Selbstbewusst für linke Wirtschaftsordnungen argumentieren

Linke haben keinen Grund, sich hinter der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstecken. Im Gegenteil, die sozialdemokratische Rekonstruktion der Nachkriegsjahre ist die erfolgreichste Epoche in der Menschheitsgeschichte, wenn es um die Herstellung wirtschaftlichen Wohlstandes für einen Großteil der Menschen geht. Ich hoffe, dass diese Argumente auch andere überzeugen können, und Linken dabei helfen werden, für linke Wirtschaftspolitik selbstbewusst zu argumentieren.

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