vonAlexander Jeuk 12.06.2023

Alexanderplatz

Alexander Jeuk schreibt zu Politik, Ökonomie, Philosophie und Wissenschaft. Immer für die 99%.

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Voraussichtliche Lesezeit 9 Minuten.

Die dominanteste und erfolgreichste Strömung linker Politik der letzten zwei Jahrhunderte hatte sich die Befreiung der Arbeiterklasse auf die Fahnen geschrieben. Diese klassenbasierte Form linker Politik ist leider mehr oder minder verschwunden, und mit ihr auch der politische Erfolg linker Parteien.

Während linke Parteien Massenbewegungen waren, die regelmäßig Wahlsiege einfahren konnten, die massiven Einfluss auf Wirtschaftspolitik und die Gestaltung der Gesellschaft hatten, sind linke Parteien heute entweder relativ erfolglos oder nicht mal mehr links im eigentlichen, ökonomischen Sinne, der z.B. die SPD vor den Schröder-Jahren noch teils ausgezeichnet hatte.

Viele Gründe sind für diese Entwicklungen verantwortlich. Einer davon ist der Begriff „Arbeiterklasse“ selbst. Denn viele WählerInnen fühlen sich von dem Begriff nicht angesprochen.

Der Ausdruck selbst wirkt, wie so viele linke Begriffe, altbacken; ganz zu schweigen von dem Ausdruck „Proletariat“, den Marx und Engels ursprünglich anstelle von „Arbeiterklasse“ benutzten. Viele verbinden mit der Idee der Arbeiterklasse FabrikarbeiterInnen und BergarbeiterInnen—also Menschen, die in Berufen arbeiten, die in dieser Form von nur noch wenigen ausgeübt werden.

Das stellt linke Politik vor ein Dilemma. Da Klassenpolitik die einzige nachhaltige, erfolgreiche linke Politik bis heute darstellt, spricht einiges dafür, zu Klassenpolitik zurückkehren. Das Problem hier ist aber, dass viele Menschen sich nicht der Arbeiterklasse zugehörig fühlen und den Begriff altbacken finden.

Im Folgenden zeige ich, dass diese Probleme lösbar sind. Ich diskutiere zuerst, was die Arbeiterklasse ist, und komme zu dem überraschenden Resultat, dass so ziemlich jeder ihr zugehörig ist, mit Ausnahme jener Superreichen, die als GroßaktionärInnen die Kapitalistenklasse stellen. Dann schlage ich eine kommunikative Alternative zu dem Begriff „Arbeiterklasse“ vor, nämlich „die 99 %“.

Wer ist die Arbeiterklasse?

Natürlich gibt es nicht einen einzelnen Begriff der Arbeiterklasse. Selbst Marx und Engels hatten viele verschiedene Versionen des Begriffs entwickelt. Die meines Erachtens historisch repräsentativste Variante des Begriffs ist die Folgende:

Man ist ein Mitglied der Arbeiterklasse, wenn man seine Arbeit auf dem Arbeitsmarkt verkaufen muss.

Oder wie Marx und Engels es ausgedrückt haben:

[Die Arbeiterklasse ist…] die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt.

Speziell im fortgeschrittenen Kapitalismus kommt uns die obige Definition von Arbeiterklasse zugute. Denn der überwiegende Teil der Menschen muss heute seine Arbeit auf dem Arbeitsmarkt verkaufen—also einen Job antreten, bei dem man für die Besitzer eines Unternehmens arbeitet.

Das war nicht immer so. Teils noch im frühen 20. Jahrhundert waren viele Menschen in feste ökonomische Rollen gebunden, seien diese Bauer, Landarbeiter oder Handwerker. Sie hatten ein Recht auf Lebensunterhalt und waren Marktfluktuationen nicht unterworfen.

Arbeitsmärkte, wie wir sie heute kennen, entstanden nicht vor dem späten 18. Jahrhundert, wie Karl Polanyi in seinem monumentalen Werk, „Die Große Transformation“ („The Great Transformation“), aufzeigt.

Dagegen sind wir heute fast alle Marktfluktuationen ausgesetzt. Wenn die „Märkte“ schwächeln, schwächelt meist auch der Arbeitsmarkt. Nicht selten verlieren wir unsere Jobs oder sind gezwungen, einen Neuen zu finden.

Das ist häufig mit dem Zwang verbunden, umzuziehen, als auch anderen Widrigkeiten. Also, der überwiegende Teil der Bevölkerung ist im klassischen Sinne des Begriffs Arbeiterklasse.

Ist der Begriff überhaupt noch interessant?

Nun kann man zu Recht fragen, ob der Begriff der Arbeiterklasse überhaupt noch interessant ist. Was ist so besonders daran, dass wir unsere Arbeit auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen? Gibt es nicht viel dringlichere Probleme wie Armut und Klimawandel?

In der Tat haben sich die meisten von uns daran gewöhnt, auf dem Arbeitsmarkt gehandelt zu werden. Die Idee ist uns in Fleisch und Blut als normal übergegangen und damit auch die Idee, dass wir wie eine Ware auf einem Markt getauscht werden, die von Kapitalisten in Form unserer Arbeitsleistung gekauft wird.

Jedoch, als Linke müssen wir daran erinnern, dass diese Form des Wirtschaftens unsere Würde und Freiheit unterminiert. Aus diesem, aber auch vielen anderen Gründen, die ich im Folgenden beschreibe, ist der Begriff „Arbeiterklasse“ immer noch der relevanteste für linke Politik.

Speziell, wenn wir uns im Folgenden anschauen, wie der Begriff „Arbeiterklasse“ sich zu ökonomischer Macht und damit auch Gestaltungsmacht hinsichtlich Dingen wie Armut und Klimawandel verhält.

Macht, Freiheit und ein besseres Leben

Marx, im Gegensatz zu vielen PhilosophInnen und ÖkonomInnen vor und nach ihm, war sich bewusst, dass ökonomische Macht die eigentliche Basis gesellschaftlicher Macht ist. Wer, im Falle unseres Zeitalters, Unternehmen und Firmen besitzt (Marx „Produktionsmittel“), bestimmt, wie wir arbeiten, was wir produzieren, wie lange wir arbeiten und vieles mehr.

Kapitalisten bestimmen überhaupt, dass wir arbeiten und leben können—denn ohne den Lohn, den sie uns auszahlen, können wir nicht leben—obwohl in einer anders organisierten Gesellschaft dieser Lohn ein Menschenrecht sein könnte und in der Vergangenheit auch häufig war. Das heißt, ökonomische Macht ist fast allen anderen Lebensformen übergeordnet.

Das bringt uns zurück zu unserer Definition von Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse muss ihre Arbeit auf dem Arbeitsmarkt eben auch deswegen verkaufen, da sie nicht die Produktionsmittel besitzt.

Das heißt, die Arbeiterklasse hat keine Kontrolle über Unternehmen und Firmen. Sie hat daher kein Recht auf ausreichend Lohn und damit auch kein Recht auf eine zentrale Bedingung für ein gutes Leben. Man vergleiche hierzu Engels:

Unter Proletariat [ist] die Klasse der modernen Lohnarbeiter [zu verstehen], die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.

Ökonomische Macht: Macht über Produktionsmittel und damit Lohn

Hier zeigt sich der Wert des Begriffs der Arbeiterklasse: Arbeiterklasse ist die Klasse, die im Vergleich zur kapitalistischen Klasse keine ökonomische und damit in vielerlei Hinsicht keine, bis wenig politische und gesellschaftliche Macht besitzt. Das eint uns gegen die Kapitalistenklasse.

Marx Größe zeigt sich unter anderem darin, dass er aufzeigt, dass dieser Status, den wir teils als natürlich hinnehmen, so nicht sein muss. Denn wenn wir ökonomische Macht demokratisieren und rational auf das Allgemeinwohl ausrichten, entsteht Freiheit in allen Lebensbereichen.

Herausragende Ökonomen wie Marx und Keynes, aber auch andere große Denker wie Einstein und Hawking, waren sich bewusst, dass wir bei technischem Fortschritt, der rational organisiert ist, nur sehr wenig arbeiten müssen, um die Dienstleistungen und Produkte herzustellen, die wir für das gute Leben brauchen.

Hawking bringt es brillant auf den Punkt, wie unsere ökonomisch-gesellschaftlichen Probleme, Probleme der Macht (über Produktionsmittel) sind:

Everyone can enjoy a life of luxurious leisure if the machine-produced wealth is shared, or most people can end up miserably poor if the machine-owners successfully lobby against wealth redistribution. So far, the trend seems to be toward the second option, with technology driving ever-increasing inequality.

Freiheit, das gute Leben und Klimapolitik

Durch Automatisierung und Technik und die Kontrolle über die Organisation des ökonomischen Lebens, entstehen bessere Arbeitsbedingungen und freie Zeit in unseren Leben, in denen wir eher machen können, was wir möchten. Wo wir uns selbst-realisieren können, wo wir un-entfremdet leben können, so wie wir es mögen, mit den Menschen, die wir mögen.

Mehr noch, wir können die Struktur und Richtung der Gesellschaft autonom bestimmen, wenn wir die ökonomischen Machtmittel besitzen, was gerade im Falle des Klimawandels sich als Notwendigkeit aufdrängt. Zwischen uns und dieser Freiheit über unsere Leben und die Organisation der gesellschaftlichen Produktion steht die Kapitalistenklasse. Es ist jenes, was uns die Arbeiterklasse macht.

Aufhebung der Unterscheidung zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik

Diese Form der demokratischen, rationalen und gemeinschaftlichen Organisation ist aber nur möglich, wenn wir der Kapitalistenklasse die Macht über ökonomische Prozesse entreißen. Sie besteht in der Demokratisierung des ökonomischen Lebens; in der Aufhebung der künstlich generierten Unterscheidung zwischen den Sphären Gesellschaft, Politik und Ökonomie, die liberale DenkerInnen erfunden haben, um den Einfluss der Kapitalistenklasse über uns zu rechtfertigen bzw. zu verschleiern.

Wie immer wir uns alternative gesellschaftliche Ordnungen vorstellen, was den Begriff der Arbeiterklasse so interessant macht, ist, wie er Machtverhältnisse aufdeckt. Genauso wie wir alle Untertanen in feudalen und aristokratischen Staaten waren, sind wir ökonomische Untertanen in kapitalistischen Gesellschaften.

Es mangelt uns an Macht zu leben, wie wir möchten, obwohl Technik und Wissenschaft es möglich gemacht haben, durch erhöhte Produktivität und Optimierung der Organisation, unterschiedliche Lebensstile zu realisieren. Wir werden nicht mehr von KönigInnen, AristokratInnen und FeudalherrInnen regiert, sondern von KapitalistInnen. Das macht uns fast alle Arbeiterklasse.

Der Weg zurück zur Massenbewegung und darüber hinaus

Linke Bewegungen können nur als Massenbewegungen erfolgreich sein. Reiche und GewaltherrscherInnen können als Minderheiten regieren. Die Arbeiterklasse nicht.

Das ist erst mal nicht schlimm, denn der überwiegende Teil von uns ist Teil der Arbeiterklasse. Um es mit dem Slogan der Occupy Wall Street Bewegung zu sagen: Wir sind die 99 %.

Obwohl das so ist, haben linke Bewegungen es schwer, leider auch in Deutschland. Das ist verwunderlich, wenn man sich das reiche Erbe der SPD anschaut. Aber vieles hiervon ist über die letzten Jahrzehnte verloren gegangen.

Warum wählt die Arbeiterklasse nicht links?

Zwei Probleme stechen für linke Politik heraus.

1) Linke Politik fokussiert sich nicht mehr primär auf Klasse, Ökonomie und Macht. Im Gegenteil, speziell die SPD ist in den Schröder-Jahren eine neoliberale Partei geworden und findet nur langsam ihren Weg zurück.

Was auch immer DIE LINKE falsch macht, sodass sie bei Bundestagswahlen hoffen muss, in das Parlament einzuziehen, obwohl sie den Anspruch einer Massenpartei haben müsste, geht über diesen Artikel hinaus. Jedoch scheint es wahrscheinlich, dass der Mangel politischen Erfolges darauf zurückzuführen ist, dass sie Klasse und Ökonomie nicht versteht, wie es ihr sozialistisch-marxistisches Erbe empfiehlt—nicht jenes, das durch die DDR pervertiert wurde—sondern jenes, in der Marxschen ökonomischen und philosophischen Tradition.

2) Linke Politik macht den Fehler, die Arbeiterklasse nicht in ihrer Ganzheit anzusprechen, sondern vertritt ein Minderheitenverständnis von Arbeiterklasse. Das heißt, Mitglieder der Arbeiterklasse sind für manche linke Parteien heute häufig nur die Menschen, die arm oder GeringverdienerInnen sind und die bereits linke Politik unterstützen.

Jedoch ist die Arbeiterklasse klar ökonomisch definiert, im Sinne von ökonomischer Macht. Eine kleine Machtelite von KapitalistInnen regiert uns. Die Macht über ökonomische Prozesse für uns zu gewinnen, war der Kern sozialistischer und sozialdemokratischer Politik, als sie noch erfolgreich war. Und hier müssen wir auch wieder hin.

Zur alten Bewegung zurück und weit über sie hinaus

Selbst im an sich für sie erfolgreichen 19. und frühen 20. Jahrhundert, haben Sozialistinnen und SozialdemokratInnen den Fehler gemacht, „Arbeiterklasse“ zu exklusiv zu verwenden. Wenn auch sehr viel inklusiver als heute.

Sie hatten vielerorts nicht die Landbevölkerung, Bauern und die „Mittelklasse“ angesprochen. Das bedeutete nicht selten den Untergang linker Bewegungen. Denn die zu Unrecht ausgeschlossenen Bevölkerungsteile liefen so anderen politischen Bewegungen zu: Im besten Fall konservativen Parteien, im schlimmsten Fall, faschistischen.

Ähnliche Phänomene sehen wir heute. Gewaltige Anteile der Arbeiterklasse laufen RechtspopulistInnen und NeofaschistInnen zu, da linke Politik keine Klassenpolitik betreibt, die die Massen anzusprechen scheint. Schlimmer noch, linke Politik nimmt heute diesen entfremdeten Massen das Recht, sich als Arbeiterklasse zu identifizieren, und unterminiert somit die Möglichkeit, sie für linke Politik (zurück-)zugewinnen.

Nach Marx und Engels sind selbst Reiche Teil der Arbeiterklasse

Dieser Fehler ist und war vermeidbar—er hätte nie geschehen dürfen. Er hatte von Anfang an linke Bewegungen geschwächt, Großteile der Arbeiterklasse entfremdet und unsere Feinde stark gemacht.

Bereits Marx und Engels hatten im Kommunistischen Manifest jenen Punkt festgestellt, für den ich hier auch argumentiere: Fast alle von uns sind bzw. werden Teil der Arbeiterklasse:

Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung.

Daher darf sich der Fehler, Arbeiterklasse zu exklusiv zu verstehen, nicht wiederholen. Heute haben wir das Potenzial, die absolute Mehrheit der Bevölkerung für linke Politik zu gewinnen. Das umfasst auch die sogenannte „Mittelklasse“ und „BesserverdienerInnen“—Marx und Engels sprechen sogar von kleinen Industriellen und Kaufleuten als Teil der Arbeiterklasse, also Menschen, die wir heute als reich bezeichnen würden.

Denn gemäß dem Begriff der Arbeiterklasse gehören sie auch zu Recht zur Arbeiterklasse. Sie mögen mehr verdienen als arme oder GeringverdienerInnen, aber das ist für gesellschaftlich-ökonomische Macht irrelevant, zumal auch sie deutlich weniger verdienen und besitzen als Superreiche und KapitalistInnen. Wir haben das Potenzial, die 99 % der Bevölkerung hinter linker Politik, d.h. Klassenpolitik, zu vereinen, und wir müssen diese Chance nutzen.

Es ist klar, dass wir nicht die 99 % erreichen werden, aus vielen Gründen. Aber je höher wir zielen, desto mehr Menschen werden wir auch hinter uns bringen.

Kommunikative Erneuerung

Wir haben zwei Möglichkeiten, den Begriff der Arbeiterklasse attraktiver zu machen. Wir können zeigen, dass wir ihn inklusive verstehen und dass er sich um ökonomische und damit auch gesellschaftliche Macht dreht.

Oder wir finden einen neuen Ausdruck, der die gleiche Idee verkörpert. Ich selbst bin ein Freund des Begriffs, „die 99 %“. Er macht klar, wie Macht und ihre Verteilung gelagert sind; wer alles zur Arbeiterklasse gehört.

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