vonAlexander Jeuk 07.07.2023

Alexanderplatz

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Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ (Marx & Engels)

Einige akademische Disziplinen stehen vor großen Herausforderungen. Diese reichen von wissenschaftlicher Stagnation über Monopolbildung einzelner Paradigmen bis zu ideologischer Beeinflussung.

Im Folgenden bespreche ich diese Probleme und argumentiere dafür, dass Peer Review, der bedeutendste „Qualitätskontrollmechanismus“ innerhalb der akademischen Wissenschaft, für diese Probleme mitverantwortlich sein könnte.

Damit unterstütze ich hier aktuelle Forderungen nach Peer Review Reform, die sehr häufig aus dem Bereich der medizinischen Forschung zu kommen scheinen, wo sich der Mangel wissenschaftlichen Fortschritts für die Forschenden besonders schmerzlich anfühlen mag.

Peer Review Reform hat den Zweck, Wissenschaft von einer Vielzahl an Problemen und „biases“ zu befreien und Forschung zu optimieren. Man mag hoffen, dass sie Wissenschaft zu ihrer alten Größe verhelfen vermag.

Zudem mag Peer Review Reform das Potenzial haben, normative Disziplinen wie Ökonomie wieder pluralistisch zu machen und sie von der neoliberal-neoklassischen Hegemonie zu befreien, die seit Jahrzehnten über ihnen thront. Damit hätte Peer Review Reform einen bedeutenden gesellschaftspolitischen Einfluss.

Wissenschaftliche Stagnation

Einige akademische Wissenschaftsfelder leiden unter Forschungskonservatismus (conservatism bias). Das bedeutet, dass sich Teile der akademischen Wissenschaft zu sehr mit bereits etablierter Forschung befassen und die Arbeit sogenannter SpitzenforscherInnen von renommierten Universitäten bevorzugen.

Das hat in vielen Disziplinen zu einer Stagnation geführt, sowohl auf der Ebene der alltäglich angewandten Forschung als auch auf der Ebene der paradigmatischen Theorieentwicklung im großen Maßstab. Das ist an sich besorgniserregend.

Monopolbildung auf Ideen

Eine weitere Herausforderung stellt zumindest in einigen Disziplinen die monopolartige Konzentration einzelner Paradigmen dar. In der Philosophie, z.B. besitzt Analytische Philosophie ein Monopol. In den Wirtschaftswissenschaften ist es die neoklassische Ökonomie neoliberaler Prägung. Es ist zu einem gewissen Grad eine offene Frage, ob solche Monopolstellungen das Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts oder das Gegenteil davon sind.

Ein vorsichtiger Blick auf die Ideengeschichte legt jedoch nahe, dass solche Monopolstellungen unglücklich sind und die oben beschriebene Stagnation teilweise erklären könnten. Ein erneuter Blick auf Philosophie hilft, dies zu verdeutlichen. Die unangefochtene Dominanz der Scholastik im Mittelalter ist ein negatives Beispiel für akademische Monopolstellungen.

Dahingegen sind die großen Epochen der Philosophie, z. B. die griechische Antike, die frühe moderne Philosophie mit der gegenseitigen Inspiration zwischen Rationalismus und Empirismus sowie die kontinentale Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts positive Beispiele für Pluralismus und Heterodoxie.

Ideologische Beeinflussung

Wenn wir die oben beschriebenen Herausforderungen aus der Perspektive linken Denkens und linker Politik betrachten, zeigt sich ein noch größeres Problem.

Ungefähr seit der neoliberalen Revolution in den 1970er und 1980er-Jahren, die einem Großteil der Welt nicht nachhaltigen Hyperkapitalismus aufzwang, erleben wir in verschiedenen Disziplinen das Verschwinden klassischer linker Ideen und ihre Verdrängung durch Ideen, die entweder direkt neoliberal sind oder den Neoliberalismus nicht effektiv infrage stellen.

Linke Ideen wurden in ideologisch relevanten Disziplinen wie zum Beispiel den Wirtschaftswissenschaften durch Paradigmen ersetzt, die entweder voll und ganz neoliberal sind oder zumindest nichts Effektives gegen die neoliberale Hegemonie vorzeigen konnten.

Mechanismen der Einflussnahme

Wie dieser Verdrängungsprozess funktionierte, bei dem die neoliberale Hegemonie in der universitären Wissenschaft erreicht wurde, ist noch nicht sehr gut verstanden. Jedoch gibt es gute Literatur, die auf die Rolle von Think Tanks und ähnlichen Interessengruppen hinweist. Vor allem Dieter Plehwe und Bernhard Walpen haben in dieser Hinsicht hervorragende Arbeit geleistet.

Sie zeigen zum Beispiel, wie Mitglieder der Mont Pèlerin Society—der neoliberalen Gründungsgruppe schlechthin—einen enormen Einfluss auf den sogenannten „Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften“ hatten, was dazu führte, dass viele Mitglieder der Mont Pèlerin Society und andere Neoliberale den prestigeträchtigen Preis erhielten, was eine enorme Wirkung auf die Wissenschaft hatte.

Das lässt jedoch noch viel Raum, um andere Formen der Einflussnahme zu diskutieren. Insbesondere die Frage, wie es neoliberalen AkademikerInnen gelang, andere akademische Paradigmen an den Rand zu drängen und sich selbst eine nahezu unangefochtene Vorherrschaft zu verschaffen, ist ungeklärt.

Linke Schicksalsfrage: Neoliberale Hegemonie auch Hegemonie der Ideen

Und hier liegt eine linke Schicksalsfrage. Neoliberalismus hat heute eine fast unangefochtene Vorherrschaft auch in der öffentlichen Meinung. Intellektuelle Alternativen zum Neoliberalismus sind in der Öffentlichkeit nicht bekannt oder verpönt, was sich offensichtlich im Wahlverhalten der Menschen widerspiegelt.

Diese nahezu Hegemonie auf das öffentliche Denken wird klassisch durch Medien und Think Tanks erklärt—also als propagandistische Revolution, die der Bevölkerung nicht bekannt ist, aber dennoch ihr Denken nachhaltig verändert hat.

Jedoch ist die Forschung zur Rolle von Universitäten in der Verbreitung des Neoliberalismus in Forschung und Lehre unterentwickelt. Wo noch die frühe Kritische Theorie, Marcuse, Mills, Althusser, Bourdieu oder auch Chomsky die Universitäten in bester linker Tradition kritisch beleuchtet hatten, wird es immer schwieriger diese Art des Denkens noch zu finden.

Das ist überraschend, denn man sollte davon ausgehen, dass Universitäten einen massiven Einfluss auf das öffentliche Denken haben und damit auf die Gestaltung unserer Politik und Gesellschaft. So wäre die technokratische Expertenherrschaft des Neoliberalismus nicht möglich, wenn Universitäten nicht die, normalerweise, ökonomischen Experten hierfür ausbilden würden, noch die „Experten“ stellen, die in den Massenmedien neoliberale Politik lobpreisen.

Ferner ist es schwer sich vorzustellen, dass die neoliberale Revolution ohne die Universitäten hätte gelingen können. Der Geschichtsrevisionismus, der mit der neoliberalen Revolution einhergeht, hätte nie erfolgreich sein können, wenn selbst klassisch links-lastige Disziplinen nicht auf die eine oder andere Art ideologisch beeinflusst oder geschwächt worden wären.

Wenn man weiter bedenkt, dass die bedeutendsten Vertreter des Neoliberalismus Ökonomieprofessoren an angesehenen Universitäten waren, sollte man offen für die Frage sein, wie weit Universitäten zur propagandistischen Verbreitung des Neoliberalismus beigetragen haben, zu der natürlich auch ideologische Beeinflussung in der Lehre gehört.

Diese propagandistische Verbreitung setzt aber zuerst die ungerechtfertigte Verbreitung von neoliberalem Gedankengut an den Universitäten selbst voraus. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Verbreitung ungerechtfertigt war—wofür vieles spricht, nicht nur aus linker Perspektive—dann muss man versuchen, die Mechanismen zu identifizieren, mit denen Neoliberale ihre Hegemonie herstellen konnten.

Daher versuche ich hier, einen solchen Erklärungsansatz zu bieten. Bei diesem Erklärungsansatz fokussiere ich mich auf Peer Review als einen möglichen Mechanismus, der die Hegemonieherstellung des Neoliberalismus innerhalb des Akademischen (mit-)erklärt.

Wie hängen Stagnation, Monopolbildung und Hegemonieherstellung zusammen?

Auf den ersten Blick mag es verwunderlich wirken, was ideologische Hegemonie mit Forschungsstillstand und Forschungsmonotonie zu tun hat. Jedoch diskutiere ich diese Dinge hier zusammen, um zuerst zu zeigen, dass Peer Review wissenschaftlich nicht wünschenswert ist und strukturell das Potenzial bietet, zu Machtmissbrauch und akademischer Monopolbildung zu führen. Von dort aus ist es leichter zu zeigen, inwieweit Peer Review für ideologische Hegemonieherstellung genutzt werden kann.

Peer Review

Peer Review ist weithin als der Goldstandard der wissenschaftlichen Forschung anerkannt. Die offizielle Begründung für Peer Review ist, dass Forschungsergebnisse einer Qualitätsprüfung unterzogen werden müssen, bevor sie veröffentlicht oder finanziert werden können.

Diese Qualitätsprüfung besteht darin, dass ForscherInnen, die als SpezialistInnen auf dem Gebiet gelten, die Forschungsarbeiten, die andere ForscherInnen veröffentlichen oder finanzieren wollen, überprüfen und genehmigen; in diesem Sinne wird die Forschung von wissenschaftlich Gleichrangigen („peers“) überprüft, daher der Name „Peer Review“.

Im Folgenden möchte ich eine Alternative zu diesem offiziellen Narrativ erkunden. Peer Review ist möglicherweise nicht der Qualitätskontrollmechanismus, für den es gehalten wird. Erstens scheint das Peer Review Verfahren häufig nur geringe Validität („validity“) und Reliabilität („reliability“) zu besitzen, was bedeutet, dass es sich nicht als gerechtfertigter Qualitätskontrollmechanismus eignet.

Zweitens hat Peer Review das Potenzial, die wissenschaftliche Kreativität zu hemmen, da es leichter Konservatismus in der Forschung („conservatism bias“) und Statusvorurteile („status bias“) möglich macht. Diese erklären teils wissenschaftlichen Stagnation und weisen auf das Potenzial von Peer Review für ideologisches Gatekeeping hin, also die Einschränkung des Zugangs zu akademischen Jobs, Finanzierungs- und Publikationsmöglichkeiten aufgrund ideologischer Macht.

Schließlich erörtere ich das Potenzial von Peer Review für ideologisches Gatekeeping und Hegemoniebildung.

Validität und Reliabilität: Warum Peer Review kein guter Qualitätskontrollmechanismus ist

Ein wachsender Bestand an Literatur zu Peer Review, deutet stark darauf hin, dass Peer Review Gutachten überproportional häufig eine geringe Validität und Reliabilität aufweisen, was z.B. die Arbeit von Conix und Kollegen für einen beachtlichen Teil der Forschungsliteratur zu Peer Review zusammenfassend feststellt. Das heißt, dass Peer Review Gutachten häufig weder den Erfolg der Forschung, die sie beurteilen, gut vorhersagen, noch die Qualität jener Forschung wahrheitsgemäß bewerten.

In diesem Sinne stimmen Peer Review Gutachten überraschend häufig nicht überein. Sie konvergieren häufig nicht nur nicht bei den sogenannten „accept“ und „reject“ Entscheidungen, durch die Forschungsfinanzierungsentscheidungen als auch Publikationsentscheidungen bestimmt werden. Peer Review Gutachten konvergieren auch häufig nicht dies hingehend, dass sie verlässlich die gleichen vermeintlichen Stärken und Schwächen untersuchter Forschung identifizieren.

Darüber hinaus beklagen manche Peer-Review-Forscher, dass Peer Review nur einen geringen Vorhersagewert („prediction“) hat. Das bedeutet, dass es sehr häufig vorkommt, dass Peer Review Gutachten nicht gut darin sind, zwischen Forschung zu unterscheiden, die später erfolgreich sein wird, und Forschung, die sich als falsch herausstellen wird.

Die Peer Review Lotterie

Manchmal kann es so scheinen, als sei Peer Review eine Lotterie. Manchmal hat man Glück mit den Gutachten, die man erhält, manchmal Pech. Nicht unpassend haben daher manche Forscher argumentiert, dass man Peer Review bei der Vergabe von Fördermitteln durch Lotterien ersetzen sollte, da das Peer Review Verfahren mitunter so wenig Gültigkeit und Zuverlässigkeit besitzt wie eben eine Lotterie.

Dies mag zunächst wie ein polemischer Vorschlag klingen, doch der Grundgedanke dahinter ist, die mit Peer Review verbundene Belastung zu verringern, d. h. den übermäßigen Zeitaufwand, den ForscherInnen entweder als GutachterInnen oder als AutorInnen, die ihre Forschung revidieren müssen, zu beseitigen.

Die Arbeit an Gutachten oder die Überprüfung von Forschungsarbeiten nimmt viel Zeit von der eigentlichen Forschung weg. Da einiges darauf hindeutet, dass die Validität und Reliabilität der Peer Review Gutachten zu häufig gering sind, sollten ForscherInnen ihre Zeit lieber in die Forschung als in Peer Review investieren.

Forschungskonservatismus und wissenschaftliche Stagnation

Peer Review hat das Potenzial, Kreativität und wissenschaftlichen Fortschritt zu hemmen. Joshua Nicholson und John Ioannidis äußern diese Sorge in Nature in einem Artikel mit dem treffenden Titel „Conform and be funded„—also, „Füge dich, um finanziert zu werden“.

Sie weisen darauf hin, dass das Peer Review Verfahren anfällig für „conservatism bias“ ist, d.h. Peer Review befördert die Tendenz, dass Forschung gefördert wird, die mit bereits etablierter Forschung übereinstimmt und dieser nicht widerspricht, bzw. nichts grundlegend Neues entwickelt.

Es ist einfacher, das Peer Review Verfahren zu bestehen, wenn AkademikerInnen Forschung einreichen, die wenig „Kontroverses“ enthält und sich an das hält, was bereits veröffentlicht wurde. Das ist natürlich kein gutes Rezept für wissenschaftlichen Fortschritt oder Qualität. Eher schon für Stagnation und Dogmatismus.

Zusammenbruch großer Wissenschaft seit der Einführung von Peer Review

Leider ist die Geschichte von Peer Review erstaunlich unterentwickelt. Die meisten von uns glauben heute, dass Peer Review ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft und Forschung ist, doch entstand es erst im 17. Jahrhundert in England und Frankreich als eine wohlwollendere Version der Publikationskontrolle im Vergleich zu den üblichen theologischen und staatlichen Zensurmechanismen.

Eine breitere Anwendung findet es jedoch erst seit den 1950er-Jahren im Bereich der Forschungsfinanzierung und nicht so sehr im Bereich der Forschungspublikation, wo es sich erst später durchsetzte.

Sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus intellektueller Sicht deutet die Geschichte des Peer Review darauf hin, dass die einflussreichsten Arbeiten im wissenschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Denken von Newton über Darwin über Marx über Luxemburg über Curie über Einstein bis Schrödinger, um nur sehr wenige ForscherInnen zu nennen, außerhalb von Peer Review entstanden sind.

Hingegen wird es den meisten von uns schwerfallen, DenkerInnen von ähnlichem Format zu nennen, die seit der Einführung von Peer Review geforscht haben; und dies, trotz des Umstandes, dass heute sehr viel mehr Menschen forschen, mit sehr viel mehr technischen und finanziellen Mitteln zur Hand.

Es scheint, dass nach der Einführung von Peer Review der wissenschaftliche Fortschritt zum Stillstand kam, der Pluralismus verschwand und Stagnation eintrat.

Statusdenken und Prestige

Darüber hinaus ist bekannt, dass Peer Review anfällig für weitere Befangenheiten („biases“) ist, insbesondere für Statusdenken („status bias“), das prestigereiche Personen und Institutionen bevorteilt. Huber et al. haben beispielsweise gezeigt, dass ein von einer bekannten ForscherIn verfasster Aufsatz mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit veröffentlicht wird als der einer wenig bekannten ForscherIn.

Darüber hinaus haben Huber et al. das noch beunruhigendere Phänomen beobachtet, dass eine anonymisierte Version eines eingereichten Forschungsaufsatzes von den GutachterInnen mit größerer Wahrscheinlichkeit akzeptiert wurde als eine Version, die nur den Namen der weniger bekannten ForscherIn enthielt.

Letzteres ist Ausdruck der diskriminierenden Haltung gegenüber NachwuchswissenschaftlerInnen, wonach GutachterInnen eher bereit sind, Forschung zu akzeptieren, von der sie sich erhoffen, dass sie von einer angesehenen ForscherIn verfasst wurde, als von einer NachwuchswissenschaftlerIn.

Diese Form von Statusvorurteil ist ein weiterer Ausdruck einer geringen Validität und Reliabilität sowie einer Voreingenommenheit gegenüber dem, was bereits veröffentlicht wurde, normalerweise von bekannten und prestigereichen ForscherInnen.

Ideologisches Gatekeeping

Nun, da wir die Probleme mit Peer Review im normalen Wissenschaftsbetrieb gesehen haben, mag es uns leichter fallen, das Potenzial von Peer Review für ideologisches Gatekeeping zu sehen.

Das Potenzial für Gatekeeping ist in normativen Disziplinen wie den Wirtschaftswissenschaften besonders groß. Heterodoxe ÖkonomInnen wie Ha-Joon Chang haben sich über die Monokultur beklagt, die wir seit einigen Jahrzehnten in der akademischen Ökonomie erleben. Wie Chang es zum Ausdruck bringt:

“Up to the 1970s, economics was populated by a diverse range of ‘schools’ containing different visions and research methods – classical, Marxist, neoclassical, Keynesian, developmentalist, Austrian, Schumpeterian, institutionalist, and behaviouralist, to name only the most significant.”

Heute hat die neoklassische Ökonomie neoliberaler Prägung alle anderen Paradigmen nahezu verdrängt und eine Monopolstellung erreicht. Und selbst die Galionsfigur des neoliberalen Status quo in der Wirtschaftswissenschaft, Larry Summers, äußerte den Wunsch nach mehr intellektuellem Pluralismus in der Wirtschaftswissenschaft.

Dieser Mangel an Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften gibt viele Rätsel auf, aber die Gatekeeping-Macht von Peer Review könnte diesen teilweise erklären.

Wenn Ideen, die nicht mit der neoklassischen Ökonomie übereinstimmen, über einen gewissen Zeitraum nicht in angesehenen Fachzeitschriften, von denen es mitunter nur sehr wenige einflussreiche gibt (TOP 5 in Wirtschaftswissenschaften), veröffentlicht werden, weil sie im Peer Review Verfahren aus zweifelhaften Gründen abgelehnt werden, dann werden mit der Zeit nur noch neoklassische ÖkonomInnen eine Anstellung erhalten, zuerst an angesehenen Institutionen und dann überall sonst.

Massive Machtkonzentration von Top-Journals und Top-Unis

Da es Tendenzen zu Statusdenken in Peer Review gibt, die renommierte Elite-WissenschaftlerInnen und -ExpertInnen begünstigen, ist es naheliegend, dass wir hier einen hegemonialen Mechanismus ausmachen können, kombiniert mit dem Umstand, dass z.B. in einem Land wie den USA, nur wenige Elite-Universitäten den überwiegenden Teil von UniversitätsprofessorInnen stellen.

Kombinieren wir diesen Gedankengang weiter mit dem Faktum, dass nur wenige Elitefachzeitschriften manche akademischen Diskurse bestimmen, liegt hier ein massives Potenzial für ideologische Hegemonie durch rein sozial-ökonomische Macht.

Mehr noch, wenn wir ein wenig kritischer davon ausgehen, dass Eliteuniversitäten nicht wegen der Qualität ihrer Forschung und Lehre „elitär“ sind, sondern weil sie die Funktion haben, den Elitestatus ihrer AbsolventInnen aufrechtzuerhalten und Eliten hervorzubringen, die als Führungsklasse (managerial class) arbeiten, dann liegt der Schluss noch näher, dass das Statusdenken, das Peer Review potenziell innewohnt, Elitenstatus und damit Elitenideologien wie den Neoliberalismus begünstigt.

Diese Machtkonzentration schafft eine Art Ideen-Engpass, der es ermöglicht, einen nicht-epistemisch motivierten Ideenwandel im gesamten universitären Ökosystem strategisch zu orchestrieren.

Die neoliberale Revolution läuft parallel zur Peer Review Revolution

Diese hegemonische Machtkonzentration, ist genau das, was wir in den Wirtschaftswissenschaften gesehen haben, teilweise parallel zur Einführung von Peer Review. Wenn wir dann noch bedenken, dass die neoklassische Ökonomie am stärksten den neoliberalen politischen und wirtschaftlichen Status quo in der Gesellschaft unterstützt, wird die Sorge berechtigter, dass manche Hegemonie anstrebende neoliberale ÖkonomInnen Peer Review als ideologischen Herrschaftsmechanismus genutzt haben.

In diesem Sinne glaube ich, dass wir die Dominanz neoliberaler Ideen als Ausdruck der Aussage von Marx und Engels sehen können: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“.

Und diese Herrschaft mag unter anderem mit Peer Review durchgesetzt worden sein. Denn Peer Review ist ein mächtiger Mechanismus, da es die Veröffentlichung von Ideen, die Vergabe von akademischen Berufen und die Finanzierung akademischer Forschung kontrolliert.

Die Soziologie von Peer Review

Für akademische Außenstehende mag es schwierig sein zu verstehen, wie Peer Review ideologisches Gatekeeping ermöglicht. Ein genauerer Blick auf das Peer Review Verfahren kann jedoch zu einem besseren Verständnis beitragen.

Zum einen werden Peer Review Berichte in der Regel von anonymen GutachterInnen verfasst, die berufliche, persönliche oder ideologische Interessenkonflikte mit den begutachteten Forschungsarbeiten und den ForscherInnen, die sie beurteilen, haben können.

Da Peer Review anonym und in diesem Sinne intransparent ist, gibt es keine wirklichen Sicherheitsvorkehrungen, um intellektuelle oder wirtschaftliche Interessenkonflikte zu verhindern.

Darüber hinaus können Peer Review Berichte zwar de jure beanstandet werden, indem sich eine unzufriedene ForscherIn direkt an die HerausgeberInnen einer Fachzeitschrift wendet oder die GutachterInnen indirekt durch ein sogenanntes „Antwortschreiben“ („response letter“) anspricht. De facto ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass einem solchen „Einspruch“ stattgegeben wird.

Wichtig ist zu verstehen, dass es keine offiziellen Due-Diligence-Prozesse gibt, die einen solchen Einspruch leiten würden, bei dem die einsprucherhebende ForscherIn ein Mitspracherecht hätte oder in das Verfahren Einblick nehmen könnte.

Die Chance eines Einspruchs hängt vollständig vom guten Willen der HerausgeberInnen („editors“) ab. Daher ist das Peer Review Verfahren in seiner jetzigen Form im Wesentlichen unanfechtbar und intransparent.

Peer Review ist ein systemisches Problem

Ich möchte hier klarstellen, dass es mir hier nicht darum geht, einzelne WissenschaftlerInnen für die Probleme mit Peer Review verantwortlich zu machen—geschweige denn zu behaupten, dass ForscherInnen in Peer Review normalerweise mit schlechter Absicht handeln. Ich war selbst als Peer Review Gutachter tätig und kenne eine Vielzahl von ForscherInnen, die in Peer Review mit bester Absicht tätig sind. Wie jedes andere gesellschaftliche Problem ist das Peer Review Problem ein systematisch-institutionelles.

Ich vergleiche Peer Review in dieser Hinsicht gerne mit dem juristischen System. Peer Review ist wie ein Rechtssystem, in dem Angeklagte (ihre Forschung einreichende ForscherInnen) keine Rechte und keine VerteidigerInnen haben. Die einzigen AkteurInnen mit Macht sind die AnklägerInnen (GutachterInnen) und RichterInnen (HerausgeberInnen).

Die AnklägerInnen sind im Normalfall anonym und ihre Urteile sind hinzunehmen. Der Prozess ist geheim und man hat als Angeklagte kein eigentliches Widerspruchsrecht. Ein solches System, das durch Intransparenz und Unanfechtbarkeit charakterisiert wird, resultiert in einem massiven Machtungleichgewicht.

Ein solches System birgt das Potenzial für schwerwiegende institutionelle Probleme—wie eben wissenschaftliche Stagnation, Monopolstellungen und ideologisches Gatekeeping—selbst wenn der überwiegende Teil der AkteurInnen mit besten Absichten handelt. Gleiches würden wir in jedem anderen sozialen System erwarten. Daher verlangt Peer Review nach systemsicher Reform.

Peer-Review-Reform: Der Fall von eLife

Eine solche systemische Reform ist glücklicherweise in Sicht. eLife, eine einflussreiche Fachzeitschrift für Medizin und die Biowissenschaften, hat vor Kurzem damit begonnen, das klassische Peer Review Verfahren zu ersetzen, unterstützt durch einen Leitartikel, der eine vernichtende Kritik am klassischen Modell übt.

eLife ersetzt das klassische Peer Review Verfahren durch etwas, das wir „öffentliche Peer-Review“ bezeichnen könnten. Dieses Verfahren, so die HerausgeberInnen, soll ohne Gatekeeping und die anderen Laster, die ich oben beschreiben habe, auskommen. Während Peer Review anonym, nicht öffentlich und nicht anfechtbar war und zu einem „Annehmen“- oder „Ablehnen“-Urteil führte, verzichtet eLife auf diese Praktiken.

Die öffentliche Peer Review basiert stattdessen auf Preprints. Bei Preprints handelt es sich in der Regel um Forschungsarbeiten, die ohne Gatekeeping-Beschränkungen auf Preprint-Repositories wie OSF Preprints oder SSRN hochgeladen werden, wo jede interessierte Person die Forschung lesen und kommentieren kann.

Das bedeutet konkret, dass die LeserInnen die Forschung ohne Peer Review selbst beurteilen und Vorschläge zur Verbesserung der Qualität der Forschung machen können. Diese Vorschläge sind jedoch nicht bindend, können den Forschungsartikel nicht ablehnen und überlassen es den AutorInnen, sie umzusetzen oder nicht. Außerdem ist das gesamte Verfahren für die AutorInnen und die Öffentlichkeit einsehbar. Diese Veränderungen sollten Gatekeeping in seiner jetzigen Form schwieriger machen.

Wissenschaftliche Publikations- und Finanzierungsentscheidungen öffentlich nachvollziehbar machen

Peer Review ist ein Entscheidungsmechanismus mit erheblichen Konsequenzen für die Wissenschaft, die Wissenschaftspolitik und die Sphäre des Politischen. Peer Review sollte daher transparent, öffentlich und demokratisch sein, und die Entscheidung von eLife könnte genau der Schritt in die richtige Richtung sein. Wobei wir auch über diese Entscheidung hinausgehen und Peer Review komplett abschaffen könnten; denn bessere Wissenschaft wurde ohne Peer Review gemacht.

Wenn Linke daran interessiert sind, die Vorherrschaft des Neoliberalismus über die akademische und öffentliche Gedankenwelt zu brechen, sollten sie sich an vorderster Front für eine Reform oder Abschaffung des Peer Review Verfahrens einsetzen.

Denn Peer Review—auf der Ebene der Veröffentlichung und der Forschungsfinanzierung—birgt ein hohes Potenzial für die Schaffung einer Hegemonie, die linkes Denken und intellektuelle Alternativen zum Neoliberalismus oder zu jedem anderen Paradigma, das von der herrschenden Klasse unterstützt wird, benachteiligt.

 

 

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An English translation of the article can be found on my Substack unalienated.

 

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