vonchina-watch 29.01.2023

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Das KPCh-Regime hat die Welt auch nach der abrupten Beendigung seiner Null-Covid-Politik immer wieder überrascht. Es ging von einem Extrem ins andere über und ordnete eine Öffnung ohne jegliche medizinischen Strategien oder Vorbereitungen an. Professor Jin Dongyan, Molekularvirologe an der Universität Hongkong, betonte in einem Interview, dass die Regierung die allgemeine Verwendung des mRNA-Impfstoffs und wirksamer Medikamente, die das Virus bekämpfen können (z. B. Paxlovid), hätte zulassen und kostenlos verteilen müssen, was sie aber nicht tat.

Die Regierung hat weiterhin über die Zahl der Todesfälle Lügen verbreitet: Mitte Dezember 2022 gab sie eine einstellige Zahl von Todesfällen durch Covid bekannt, während in den sozialen Medien Nachrichten kursierten, die ganz anderes vermuten ließen. Nach weniger als einem Monat, als die Regierung die Nachricht nicht mehr unterdrücken konnte, gab sie schließlich zu, dass fast 60.000 Menschen gestorben waren.

Einem Bericht der Zeitschrift Economist zufolge hat ein unabhängiges Meinungsforschungsunternehmen seine vorherige Prognose von 25.000 Toten pro Tag auf 35.000 zum Chinesischen Neujahrstag revidiert. Vielleicht werden wir bald wissen, ob die Vorhersage zutraf oder nicht, aber die schreckliche Tatsache ist, dass bei Hunderten Millionen Infizierten bzw. mehr als der Hälfte der Bevölkerung (nach dem Bericht der BBC geht eine Studie der Universität Peking davon aus, dass die Zahl der Infizierten 900 Millionen erreicht haben könnte), noch viel mehr Menschen sterben werden. Vor unseren Augen spielt sich eine große Tragödie ab.

Verantwortung auf das Volk abwälzen

In einem Interview mit dem Unternehmen Initium Media mit drei Chinawissenschaftler*innen stimmten Elizabeth Perry, Joseph Fewsmith und Timothy Cheek darin überein, dass das Regime, nach gereizten Reaktionen auf den massiven Unmut in der Bevölkerung über seine Politik des „Einsperrens (von Menschen)“, nun beschlossen habe, zu einer Haltung des duqi (賭氣) überzugehen, d. h. „etwas im Zorn abzulehnen, wenn man jemandem gegenüber verärgert ist“. In den Worten von Perry: „Die Spitzenpolitiker …. wollten nun die ganze Verantwortung auf das protestierende Volk abwälzen – Ihr wollt eine Öffnung? Hier habt ihr sie.“

Sicherlich ist es unwahrscheinlich, für diese Behauptung direkte Beweise zu finden. Die brauchen wir im Moment jedoch ohnehin nicht. Das wütende chinesische Volk hatte die Behörden bereits als tangping oder „flachliegend“ in Bezug auf die Pandemie verurteilt. Damit bezog es sich darauf, dass die KPCh diejenigen verurteilt hatte, die es wagten, den offiziell propagierten „chinesischen Traum“ – fleißig studieren, hart arbeiten, ein Haus mit Hypothek kaufen, der Parteilinie folgen usw. – mit der Forderung zu beantworten, sich zu verweigern und „flach zu legen“.

Nachdem es drei Jahre lang umsonst eingesperrt war – denn so konnte die Ausbreitung von Covid einfach nicht verhindert werden – hat nun das Volk den Spieß umgedreht und die Partei selbst des „Flachliegens“ beschuldigt. Tatsächlich hat die Partei schrecklich unverantwortlich gehandelt. Drei Jahre lang hat sie sich nur darauf konzentriert, das Virus durch die Kontrolle der Menschen zu bekämpfen, ohne sich um eine bessere medizinische Behandlung oder die Einfuhr wirksamerer Impfstoffe und Medikamente zu bemühen. Hätte die Partei, anstatt Milliarden RMB für Covid-Tests und das Einsperren von Menschen auszugeben, das Geld in die Behandlung gesteckt, sähe das Ergebnis weit besser aus als heute.

Bürokraten mischen mit auf dem Schwarzmarkt

Einige bereuen es vielleicht, eine Öffnung gefordert zu haben, nachdem sie den Schaden ihrer abrupten Einführung gesehen haben. Vernünftigere Menschen würden erkennen, dass es auch die Möglichkeit eines Mittelwegs zwischen extremer Abriegelung und „Flachliegen“ gab, denn sie konnten mit eigenen Augen sehen, dass die verweigerte Einfuhr einer angemessenen Menge westlicher Impfstoffe und Medikamente nur dazu diente, den Schwarzmarkt für Paxlovid zu begünstigen, auf dem die Bürokraten augenscheinlich mitmischten. Die Protestwelle Ende 2022 richtete sich weitgehend gegen die Einschließungen. Die nachfolgenden Ereignisse könnten die Menschen darin bestärken, dass es bei weitem nicht ausreicht, nur eine falsche Politikmaßnahme anzugreifen, sondern dass sie früher oder später auch das System der „Bürokratenherrschaft“ ins Visier nehmen müssen.

Bürokratie-Monster in China

In der menschlichen Gesellschaft gab es verschiedene Formen der Herrschaft: die der Aristokratie, der Monarchie, des Klerus, der Kapitalisten oder des Militärs. Das kaiserliche China wurde immer von der Bürokratie regiert und hat damit in gewissem Maße das westliche politische Denken und Handeln inspiriert. Im Falle Chinas war die Bürokratie jedoch mit ihrer modernen Version im Sinne Max Webers nicht vergleichbar. In China war sie allmächtig, und keine andere gesellschaftliche Gruppe konnte ihre Macht anfechten, nicht einmal die Aristokratie. Sie zögerte nie, diese Macht zu nutzen, um das Volk auszuplündern, legal oder außerhalb des Gesetzes. Demütig war sie nur, wenn sie dem Kaiser diente.

Die KPCh begann als Kraft für eine demokratische und volksnahe Revolution. Sie degenerierte jedoch schließlich zu einem Zustand, in dem der politischen Form nach die Revolution und das von ihr gegründete Regime eher einem traditionellen yixinggeming (易姓革命), d.h. „einer Revolution, die darauf abzielt, eine königliche Familie durch eine andere zu ersetzen“, ähnelte. Da weder ein Kaiser noch ein „großer Führer“ das Land allein regieren konnte, mussten diese Diktatoren eine Bürokratie aufbauen, um ihren „himmlischen Frieden“ zu erlangen.

Welchen Angriff der Vorsitzende Mao während der Kulturrevolution auch immer gegen andere „führende Kader“ (sprich: „Bürokratie“) gestartet hatte – er hat nie eine echte Arbeiterdemokratie eingeführt, die die von oben nach unten agierende bürokratische Herrschaft ersetzt hätte. Das liegt daran, dass Mao im Grunde selbst an der Spitze eines bürokratisch geführten Staatsapparats stand, ungeachtet seiner Rhetorik über die „Massenlinie“. Auf seinem Sterbebett mobilisierte er diese Maschinerie noch einmal, um den Protest vom 5. April 1976  auf dem Platz des Himmlischen Friedens (1) niederzuschlagen, obwohl er selbst vor seinen längst degenerierten Bürokraten gewarnt hatte. Seitdem dienen sie nicht mehr dem Volk, sondern nur noch ihren eigenen Interessen, nämlich die obersten Führer bei Laune zu halten, damit sie ihre Haut retten und weiterhin in den Genuss ihrer tegong (特供), der Sonderversorgung für hochrangige Beamte, sowie aller anderen Privilegien kommen können.

Zyklus von Aufstieg und Fall

Das kaiserliche China hatte die früheste und am weitesten entwickelte Form der bürokratischen Herrschaft in der alten Welt. In zwei Jahrtausenden durchlief es wiederholt den Zyklus von Aufstieg und Fall, der mit dem dynastischen Zyklus der Veränderungen zusammenfiel. Lizhibaihuai (吏治敗壞) und Huangdihunyong (皇帝昏庸), d.h. „die allgemeine Korruption / Funktionsstörung der Bürokratie und ein unfähiger Kaiser“, galten stets als die ersten beiden großen, von Menschen verursachten Faktoren für das Sterben einer jeden Dynastie. Im Grunde genommen waren und sind dies die beiden Seiten derselben Medaille. Obwohl der Kaiser dem Anschein nach die absolute Macht hatte, waren die niederen Beamten eigentlich nie wirklich machtlos. Im Gegenteil, sie konnten Informationen filtern, den Kaiser täuschen und seine Politik nach ihren eigenen Interessen ausrichten. Dies war der Mechanismus, der ganze Dynastien in den Untergang trieb. Die KPCh-Bürokratie war der größte Motor für die Modernisierung Chinas, den es in der heutigen Zeit je gegeben hat, aber sie ist auch eine, die allzu oft eine starke vormoderne politische Kultur aufweist. Der Grund für die Stärke einer solchen Kultur liegt darin, dass es sich nicht nur um eine Reihe von „Werten“ handelt, denen sich die führenden Beamten verschrieben haben. Sie ist auch deshalb so stark, weil sie ihnen enorme materielle Privilegien sichert. Der KPCh ist es außerordentlich gut gelungen, ihren bürokratischen Absolutismus aufrechtzuerhalten,. Aber gerade deshalb kommen immer mehr Menschen zu der Einsicht, dass diese Institution nichts anderes als der Feind des Volkes ist.

Unterschiede Mao – Xi

Vor nicht allzu langer Zeit wurde behauptet, Xi Jinping werde in die Fußstapfen Maos treten und seine Version der Kulturrevolution einführen. Dieses Argument ist jedoch nicht sehr hilfreich, um Xi zu verstehen. Während Mao es wagte, Millionen junger Menschen zu mobilisieren, um sein Ziel der Parteisäuberung zu erreichen, verlässt sich Xi nur auf seinen Staatsapparat, um seinen „Chinesischen Traum“ und seine Null-Covid-Politik zu verwirklichen. Während Mao eine charismatische Figur war, erwies sich Xi lediglich als ein Don Quijote des 21. Jahrhunderts, der gegen Windmühlen kämpft und sich einbildet, er könne die Covid-Pandemie loswerden, indem er die Menschen endlos einsperrt. Letzten April schrieb ich an anderer Stelle hierzu folgendes:

Wenn die beiden Männer vergleichbar sind, dann deshalb, weil Xis Pandemie-Politik die gleiche Art von Irrationalität, bürokratischer Top-down-Zielsetzung und quasi-militärischer Umsetzung aufweist. Doch hinter diesen üblen Formen des „Arbeitsstils“ steht ein noch übleres Ungeheuer, nämlich die Vorstellung und Praxis der Unfehlbarkeit der Partei oder ihres obersten Führers. Sowohl Fachleute als auch das Volk sollen keine Fragen stellen. Wenn es etwas gibt, das wir aus der Kulturrevolution lernen können, dann ist es dies: Wann immer der Parteiführer anfängt, Gott zu spielen, tritt China in eine äußerst gefährliche Phase ein. (2)

Während die Jugend in der ersten Phase der Kulturrevolution Mao lautstark applaudierte (obwohl sich viele von ihnen bald verraten fühlten, als Mao sie aufs Land verbannte), rief sie genau aus jenem Grund Ende des Jahres 2022: „Xi Jinping – tritt zurück!“ Selbst nachdem die Proteste abgeklungen sind, beteiligen sich einige von ihnen weiterhin an endlosen politischen Debatten in den sozialen Medien und internen Chat-Gruppen. Die anhaltende, von Xi inszenierte Tragödie wird als eines der von der KPCh begangenen Verbrechen in die Geschichte eingehen und nie in Vergessenheit geraten. Genau deshalb wird sie auch darüber hinaus ein Weckruf für die Menschen sein.

Anmerkungen
1) Am 8. Januar 1976 starb der im Volk beliebte Premierminister Zhou Enlai, einige Monate vor Mao Zedong. Im April 1976, einen Tag vor dem chinesischen Totengedenktag, wurden Kränze und Blumen zum Gedenken an Zhou von der Polizei entfernt, was allgemein als Tian’anmen-Zwischenfall bezeichnet wird. (Anm. d. Übers.)
2) Vgl. auch hier in china watch den ersten Blogbeitrag von 19.9.2021 Reaktionär, nicht revolutionär

Übersetzung Ingeborg Wick, Forum Arbeitswelten

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