vonchina-watch 30.04.2023

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Liu Xiang gehört in China zu einer Generation, die sich als unorthodoxe MarxistInnen versteht und universelle linke Werte vertritt, aber dem Land eine sozialistische Vergangenheit abspricht. Während des Studiums an der Central South University war Liu Xiang Mitglied der studentischen Untergrundgruppe Spring Awakening Club (2017 aufgelöst) und aktiv an einer Reihe von lokalen Aktivitäten beteiligt. — Au Loong Yu

Die westliche Linke hat eine Tradition, die Kritik an dem imperialistischen Lager, dem ihre eigenen Länder angehören, zu priorisieren. Diesem Prinzip in allen Anti-Kriegs-Fragen zu folgen, wäre sicherlich dogmatisch und verfehlt. Aber die Linken in der chinesischsprachigen Welt folgen dieser Tradition auf eine noch problematischere Art und Weise – sie bestehen darauf, der Kritik am US-geführten westlichen imperialistischen Lager Vorrang einzuräumen, während sie vernachlässigen, zu welchem ihre eigenen Länder gehören. Die westlichen Linken halten an dieser Position nicht nur fest, weil die USA die stärkste und kriegerischste Kraft sind, sondern auch, weil es effektiver ist, den “Feind im eigenen Land” zu bekämpfen.

Der wahrscheinlichste Schauplatz des nächsten großen Krieges ist zweifellos Taiwan – während ich diesen Artikel schreibe, hat die Volksarmee der Chinas eine neue Runde von Militärübungen durchgeführt und angekündigt, dass sie “die Belagerung der Insel weiter aufrechterhält und den Druck weiter erhöht”. Die Linken in der chinesischsprachigen Welt müssen sich sicherlich zu Taiwan äußern. Aber wie können wir vermeiden, eine falsche Position einzunehmen? Vielleicht sollten wir unseren Standpunkt auf einige Grundsätze stützen, die jeder mit einem gesundem Gewissen verstehen würde.

Erster Grundsatz: Taiwan sollte niemals von der Kommunistischen Partei Chinas regiert werden

Es wird oft gesagt, dass die Taiwan-Frage kompliziert sei. Aber eine Sache ist sehr einfach und klar: Das Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist eine sehr schlechte Diktatur. Dafür gibt es viele Argumente – die Europäer sind wahrscheinlich sehr damit vertraut, was in den letzten Jahren in Hongkong und Xinjiang passiert ist. Auch wenn die KPCh nicht die schlechteste Regierung und Taiwans derzeitige Regierung nicht die beste der Welt ist, wäre die Ablösung der bisherigen Regierung Taiwans durch die KPCh zweifellos eine Katastrophe für die arbeitenden Menschen in Taiwan. Und sie wird niemals die Wahl von 23 Millionen Taiwanern sein, egal wie die Umfragen oder Abstimmungen ausfallen.
Die Propaganda der KPCh betont die “Ein-China-Politik”, weigert sich aber zuzugeben, dass der offizielle Staatsname Taiwans die Republik China (ROC) ist, die eine längere Geschichte hat als die Volksrepublik China (VRC). Außerdem heißt es in Artikel 1 der Verfassung der VR China: Das sozialistische System ist das grundlegende System der Volksrepublik China. Die Führung durch die KPCh ist das wesentlichste Merkmal des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen”. Wir müssen den Wortspielen der KPCh entkommen und Klartext reden: Eine Partei, die behauptet, für immer an der Macht zu sein, kann kein Land repräsentieren.

Wenn jemand eine Grundsatzdebatte anstoßen will, ist die Linke sicherlich berufen darauf zu reagieren, denn eine solche Debatte kann in eine Befürwortung und Aufklärung für linke Ideen beflügeln. Wenn jedoch jemand mit diesem Grundsatz nicht einverstanden ist und die Debatte darüber überspringen will, um über andere Aspekte der Taiwan-Frage zu sprechen, ist es Zeitverschwendung über solche zu streiten, unabhängig davon, ob sich die andere Seite als links, rechts oder sonst wie bezeichnet.

Zweiter Grundsatz: Krieg sollte nach Möglichkeit wann immer vermieden werden

Es gibt keinen guten Krieg auf dieser Welt. Ganz gleich, wie ruhmreich und gerecht die Gründe für einen Krieg auch sein mögen, er ist unweigerlich mit brutalen Tötungen, Opfern unter der Zivilbevölkerung, Zerstörung der Natur usw. verbunden. Der Krieg ist eine barbarische Lösung, die mit der Entwicklung der Zivilisation abgeschafft werden sollte. Auch wenn die Natur des Imperialismus und andere Missstände der menschlichen Gesellschaft diktieren, dass “kein Krieg” immer noch ein utopisches Ideal ist, gibt es doch viele Instrumente, um Kriege zwischen Nationen zu verhindern – wie z. B. Regierungshotlines, Abrüstungskonferenzen und Rüstungskontrollverträge. Es gibt also immer eine Chance, einen konkreten Krieg zu vermeiden.

Solange Taiwan nicht von der KPCh übernommen wird, ist es akzeptabel, keine Maßnahmen zu ergreifen, die die KPCh übermäßig reizen würden, um einen Krieg zu vermeiden. Dazu gehören: die Ausrufung eines neuen Staates Taiwan, die Entwicklung oder Stationierung von Atomwaffen in Taiwan, eine groß angelegte militärische Präsenz Dritter in Taiwan oder die Entwicklung eines Plans für einen aktiven Angriff auf das Festland.

Dieser Grundsatz bedeutet auch, dass im Falle eines Taiwan-Krieges die Partei, die angreift, auf das Schärfste verurteilt werden sollte – sei es die Volksarmee Chinas, die aus irgendeinem Grund eine Zwangsvereinigung einleitet, oder die USA oder Taiwan, die einen “Präventivschlag” führen, um eine mögliche Zwangsvereinigung zu verhindern. Sobald der Krieg beginnt, wird die Komplexität der Antikriegsposition natürlich noch größer. Unter welchen Bedingungen sollte es einen Waffenstillstand geben? Sollte die angegriffene Seite den Krieg auf das Gebiet der anderen Seite ausweiten? Sollten wir die militärische Intervention Dritter unterstützen? Ich fürchte, dass die Debatte über diese Fragen es schwierig machen wird, sich an einige einfache Grundsätze zu halten.

Wenngleich beide chinesischsprachig so sind die Aufgaben der Linken auf dem Festland und in Taiwan nicht die gleichen. Während die taiwanesische Seite die gewaltsame Rückeroberung der von der Volksrepublik China beanspruchten Gebiete auf dem Festland praktisch aufgegeben hat, betont die Volksrepublik China immer wieder, dass sie die erzwungene Wiedervereinigung nicht aufgeben wird und dass die Kriegsfähigkeit der Volksrepublik China weitaus größer ist als die Taiwans. Mit anderen Worten: Die Linken auf dem Festland haben eine größere Verantwortung, sich einem von ihren eigenen Machthabern angezettelten Krieg entgegenzustellen. Es sollte ein Mindeststandard für die Linken auf dem Festland sein, kein Loblied auf die Zwangsvereinigung zu singen und sich nicht auf die Seite der KPCh im imperialistischen Kampf um die Vorherrschaft zu stellen.

Dritter Grundsatz: Taiwan hat das Recht, sich militärisch zu verteidigen

Obwohl ich gegen ein Wettrüsten bin, muss ich zugeben, dass Taiwans Fähigkeit zur Abschreckung einer der Hauptgründe dafür ist, dass der Krieg in der Straße von Taiwan bisher nicht ausgebrochen ist. Wenn die ROC ihre Streitkräfte auflöst, würde es mit Sicherheit zu einer Zwangsvereinigung kommen, auch wenn es für KPCh nicht mehr nötig, wäre einen Krieg zu führen.
In der Tat gibt es einen Konflikt zwischen den oben genannten Grundsätzen 1 und 2: Sollte Taiwan die Herrschaft der KPCh akzeptieren, um einen Krieg zu vermeiden? Taiwans langjährige Strategie in dieser Hinsicht bestand darin, seine defensiven Fähigkeiten zu stärken, damit die andere Seite ihre Ziele nicht ohne weiteres durch eine militärische Intervention erreichen kann. Diese Strategie hat sicherlich zu einem schädlichen regionalen Wettrüsten geführt, aber sie hat im Gegenzug einen Krieg und die Machtübernahme durch die KPCh verhindert.
Taiwans Wirtschaft ist jedoch nicht groß genug, um ein solches Wettrüsten dauerhaft aufrechtzuerhalten, und schon jetzt ist es nicht mehr in der Lage, die Abschreckung allein mit seinem eigenen Streitkräften zu erreichen. Der Krieg in der Ukraine hat bewiesen, dass ein kleines Land in der Lage ist, auch gegenüber einem größeren Gegner zu bestehen. Aber es braucht dazu anhaltende ausländische Hilfe.
Die taiwanesische Linke steht in dieser Frage vor einem Dilemma: Einerseits muss sie sich gegen den exzessiven Militarismus der eigenen Regierung, die mangelnden Investitionen in den sozialen Bereich und die Tatsache, dass sie zu einer Melkkuh für die westliche Rüstungsindustrie geworden ist, wehren. Andererseits muss sie sich der Notwendigkeit stellen, dass ihr Land als verletzliche Partei gegen Aggressionen kämpfen muss. Wie ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Aspekten gefunden werden kann, muss sorgfältig abgewogen werden.
Für die Linke auf dem Festland ist es relativ einfach, in dieser Frage eine Position zu beziehen – ihre Priorität sollte die Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts der Republik ROC sein.
Aber schließt das Recht Taiwans auf Selbstverteidigung die Beteiligung Dritter ein? Die Beteiligung der USA ist sicherlich durch ihre eigenen Interessen motiviert, und eine größere Konfrontation zwischen den USA und der VR China wäre für die allgemeine Menschheit schädlich. Aber aus Taiwans Sicht ist die Zusage Amerikas, das Land militärisch zu schützen, in der Tat unerlässlich, um einen Krieg und die Machtübernahme durch die KPCh zu verhindern. Wenn im Falle einer Invasion durch die Volksarmee Chinas die taiwanesische Öffentlichkeit einer Beteiligung Dritter – wie etwa durch die Bereitstellung von Waffen, Nachschub, Geheimdienstinformationen usw.- zustimmt, sollte sich die Linke meiner Meinung nach auch nicht prinzipiell dagegen aussprechen. Natürlich ist es auch wichtig, einen direkten Krieg zwischen den beiden atomar bewaffneten Mächten – China und den USA – zu vermeiden, denn die verheerenden Folgen eines solchen Szenarios wären unabsehbar. Aber ein solches Szenario ist nicht mehr nur ein Problem bezüglich der Taiwan-Frage. Wie man eine Position dazu entwickelt, müsste gesondert diskutiert werden.

Übersetzung von P. Franke, Forum Arbeitswelten

 

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