Seit 2020 sind die jährlichen Gedenkfeiern am 4. Juni in Hongkong aus Anlass der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Jahr 1988 nach massivem Druck verschwunden. Es gibt nur noch Gedenkveranstaltungen in Übersee. Obwohl die dortigen chinesischen AktivistInnen immer noch versuchen, das Gedenken aufrechtzuerhalten, wurde die Zahl der TeilnehmerInnen in den letzten beiden Jahrzehnten immer geringer. Die Overseas Chinese Democracy Movement” als soziale Bewegung war schließlich fast erloschen. Im Vereinigten Königreich war die Situation nicht anders. Doch glücklicherweise ist seit 2020 eine große Zahl von HongkongerInnen in das Vereinigte Königreich eingewandert, und die Gedenkfeier zum 4. Juni hat in den letzten zwei Jahren einige Anzeichen für eine Wiederbelebung gezeigt. Ende letzten Jahres führte die sogenannte Leeres-Blatt-Papier Bewegung zu einer neuen Protestwelle von chinesischen Studierenden im Ausland, die zu einer weiteren wichtigen Gruppe von Teilnehmern an der diesjährigen Gedenkveranstaltung wurden. So marschierten an diesem 4. Juni in London zwischen 400 bis 500 HongkongerInnen und FestlandschinesInnen gemeinsam. Auch wenn diese Zahl noch gering ist, so war es von erheblicher Bedeutung. Über viele Jahre hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) absichtlich eine Spaltung zwischen ChinesInnen und HongkongerInnen herbeigeführt und es gibt nach wie große Unverständnis zwischen den beiden Seiten. Doch in diesem Jahr haben sie den 4. Juni gemeinsam begangen.
Der Grund, warum die Leeres-Blatt-Papier Bewegung so wichtig ist, liegt darin, dass sie auch eine Unterströmung offenbart: Je mehr die KPCh gegen den Strom der Geschichte schwimmt, desto mehr bringt sie Menschen zum Nachdenken – ihre Feinde sind nicht die Tibeter, Uiguren, Hongkonger oder Taiwanesen, sondern es ist die KP Chinas selbst. Nachdem die einfachen BewohnerInnen von Urumqi gegen die überzogene Abriegelung während der Pandemie protestiert hatten, trauerten und protestierten junge Menschen in anderen chinesischen Städten wie Nanjing, Shanghai und Peking spontan, und einige junge Menschen setzten sich sogar für die Freiheit von Minderheiten ein und stellten den Chauvinismus der Han-Chinesen infrage.
Von derselben Faust getroffen …
Am 26.11. letzten Jahres postete ein Twitter-account namens Bang Xiao einen Brief von einem in Xinjiang lebenden Han-Chinesen:
Die langjährige Abriegelung hat endlich zu einer Ethnien übergreifenden Reaktion geführt. Vor allem Han-Chinesen wie ich, die früher die groß angelegten Inhaftierungs- und Umerziehungslager der Regierung in Xinjiang ignoriert haben, wissen nun endlich, wie es sich anfühlt, seine Freiheit zu verlieren und seine Rechte durch den Autoritarismus verletzt zu sehen. Nachdem wir nun selbst von derselben eisernen Faust getroffen wurden, die immer die Uiguren trifft, verstehen wir, dass Schweigen einen hohen Preis hat … Die Mehrheit von uns Han-Chinesen hat eine koloniale Mentalität … wir denken immer, dass unsere Kultur besser ist und dass andere ethnische Gruppen sich integrieren und uns als Zentrum anerkennen müssen … Jetzt erkennen wir, dass die wahren Kolonisatoren nicht die gewöhnlichen Han-Chinesen sind, sondern diejenigen, die die Macht haben. Was diese nicht hören können, sind nicht nur die Stimmen der Uiguren, sondern auch die Stimmen der gewöhnlichen Han-Chinesen. (1)
Es gab auch kurze Videos oder Fotos/Meldungen in den sozialen Medien von Studierenden aus dem Ausland. Deren Kommentare waren gewagter, weil sie freier sind. So sagte z.B. ein junger Chinese der Deutschen Welle während einer Demonstration in Berlin:
Meiner Meinung nach sind die Vorbehalte zwischen Han-Chinesen und Uiguren zu groß. Die meisten uigurischen Freunde, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht mehr, dass es Han-Chinesen gibt, die aufrichtig an ihrer Seite stehen. Als Internationalist, der mit nationaler Überheblichkeit nicht einverstanden ist, beschloss ich ihnen meinen Standpunkt klar darzulegen in der Hoffnung, dass die Uiguren sehen können, dass es noch Han-Chinesen wie mich gibt, die sie verstehen und unterstützen wollen. Ein Freund überzeugte mich davon, dass die Herrschaft der chinesischen Regierung über das Volk in Wahrheit eine Art innere Kolonisierung ist. (2)
Ein anderer chinesischer Student, der an einer Demonstration zum gleichen Thema in London teilnahm, sagt gegenüber Voice of America: Nachdem ich von den Lagern in Xinjiang und dem Völkermord an ethnischen Minderheiten erfahren habe, denke ich, dass Auslandschinesen wie ich für sie eintreten sollten. Ich kann verstehen, dass viele Han-Chinesen bisher aus Unkenntnis nichts dazu sagen. (3)
Realitätsferne Propaganda des Regimes zieht immer weniger
Im einem Interview stellte der Sprecher von China Deviant, einer Organisation chinesischer Stunden in Großbritannien, das Nationalismuskonzept der KP Chinas infrage:
Xinjiang, Tibet und Taiwan sind keine fernen Länder, sondern reale Orte, mit denen die Chinesen in ihrem Alltagsleben oft zu tun haben. Die Menschen in diesen Regionen als reale Menschen aus Fleisch und Blut zu sehen, die gleichermaßen das Recht auf ein erfülltes Leben verdienen … widersetzt sich den Versuchen des Regimes, sie durch Propaganda zu entmenschlichen und bringt uns dazu, die rohe und eingebildete Vorstellung von chinesischer ”Vereinigung” und ”Solidarität” aufzugeben. Diese Rhetorik, mit der das Regime um sich wirft, besteht nur auf unaufrichtigen Parolen, mit denen es das chinesische Volk an der Nase herumführt. Und immer weniger Menschen finden diese Parolen als realitätsnah. (4)
Die chinesischen Stunden in Großbritannien haben auch eine website namens Left Chinese Students Association eingerichtet. In ihrer Solidaritätserklärung gegen politische Unterdrückung in Hongkong und China würdigen sie die Widerstandsbewegung von 2019 in Hongkong und betonen:
Als AktivistInnen aus Hongkong und der chinesischen Diaspora stehen wir gemeinsam gegen politische Unterdrückung und fordern die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in Hongkong und China … Als die Menschen in chinesischen Städten leere Papierbögen hochhielten, um gegen die drakonischen Null-Covid Lockdowns zu protestieren, löste diese Geste des Trotzes ein Echo bei den Hongkongern aus, die 2020 gegen das nationale Sicherheitsgesetz protestiert hatten … Hongkong ist seit Langem ein wichtiger Ort der Unterstützung für die chinesische Arbeiter- und Demokratiebewegung … und wurde Teil des transnationalen Kampfes. Die Hongkonger Zivilgesellschaft hat die sozialen Bewegungen in China engagiert unterstützt: Hongkonger Aktivisten wurden auf dem Festland wegen ihrer Aktivitäten inhaftiert, und viele, die derzeit vor Gericht stehen, wurden gerade wegen ihrer Unterstützung der Demokratiebewegung auf dem Festland und der Tiananmen Bewegung angeklagt. (5)
Die zunehmende Präsenz von Übersee-Hongkongern, Tibetern, Muslimen und Han-Chinesen bei denselben Protesten reicht sicherlich noch nicht aus, um die Kluft zwischen diesen Gruppen in China zu überbrücken, aber es ist zumindest ein positiver Anfang.
Übersetzung von Hermann Dierkes
Anmerkungen:
1) https://Twitter.com/BangXiao /status/1596290173817745409?s=20
2) Deutsche Welle Chinesisch vom 8.12.2022, 现场纪实:不仅仅是民主 —“白纸革命”时代的新青年, Dokumentation: Mehr als Demokratie – Die neue Jugend in der Ära der „Leeres-Blatt-Papier Bewegung“
3) Chinesischsprachige Ausgabe von Voice of America vom 5.12.2022
4) What next for China’s politicised youth? An interview with China Deviants. Lausan Collective 19. Januar 2023
5) Solidarity Statement Against Political Repression in Hong Kong and China veröffentlicht von Left Chinese Student Association