Liebe Nena,
ich sitze auf der Fusion und es ist leise. Ich bin ein paar Tage früher angereist und noch sind die Bühnen nicht in Betrieb. Deswegen ist es insbesondere nachts leise – und zwar so richtig Landlebenleise! Man hört keine unterschwelligen Großstadtgeräusche. Es ist trotzdem wahnsinnig betriebsam auf dem Gelände, weil alles noch fertig gestellt werden muss. Bislang sind nur Menschen vor Ort, die irgendwas an Arbeit zur Fusion beitragen. Die Atmosphäre ist sehr entspannt, man kommt leicht ins Gespräch, man ist trotz aller Differenzen irgendwie Eins: Eins, das bis in ein paar Tagen dieses riesige Festival auf die Beine stellen muss/will. Natürlich kann man ein paar Kleinigkeiten später noch machen, aber der Großteil der Dinge muss bald fertig sein. Sachlicher Leistungsdruck und schon können die ganzen linken Larrys auf einmal doch arbeiten. Wie war das: Die, die können sollen, müssen wollen dürfen?
Natürlich gibt es auch hier Sachzwänge; Notwendigkeiten, die sich aus der Sache selbst ergeben. Realitäten, die sich auch kommunikativ nicht verändern lassen – selbst, wenn man sie weicher formuliert, bleiben sie hart und zwingend. Sie müssen gemacht werden, sonst geht was kaputt oder findet nicht statt. Mir gefällt diese Vor- und Nachfusion Zeit am besten. Die Fusion selbst ist eigentlich nicht so meins. Ich mag die Musik und ich liebe das Gelände. Aber mir sind das zu viele Menschen, mir ist das zu viel stumpfer, egozentrischer und (selbst-) verletzender Hedonismus. Es sind auch so viele Menschen, dass keine wirklichen Begegnungen mehr stattfinden können, weil einfach jede Person an ihren sozialen Grenzen oder schon darüber hinaus ist. Ob man dafür dann so viele Ressourcen und Arbeitskraft aus sonstigen Kämpfen abziehen muss, ist streitbar. Mal ganz abgesehen von der fusioneigenen Klassengesellschaft oder den größenwahnsinnigen Träumen der szeneeigenen Patriarchen, die hier Realität werden können. Aber dieses Jahr war ich sehr froh und glücklich, als ich endlich die Schranke zum Gelände vom Kulturkosmos passiert hatte. Ich habe mich gefreut, auf diesen unregulierten Ort. Ein Gelände, das so groß ist wie ein Dorf oder eine Kleinstadt und auf dem vieles möglich ist, was außerhalb nicht möglich ist. Meine Liebe gilt hauptsächlich diesem Ort weniger der Veranstaltung Fusion. Es gibt auf dem Gelände auch andere Veranstaltungen wie die at.tension oder das Frühlingsfest. Die sind sozial bisschen anders, aber ich würde sagen, das Wesen des unregulierten Ortes trifft auch auf die zu: Solange Du niemanden behinderst, kannst Du hier erstmal tun und sein, was Du magst. Bevor ich hierher gekommen bin, habe ich 1 Friend in einer psychiatrischen Klinik besucht. Friend sagte zu mir beim Abschied: „Viel Spaß im anderen Irrenhaus!“.
Auf der Fahrt über Landstraßen durch Sachsen und Meck-Pomm war mir der Eindruck der Klinik und dieser Worte sehr präsent. Ich war lange nicht in diesem ländlichen Osten. Ich habe noch nie so viele Kornblumen gesehen: Riesige Kornfelder mit blauen, strahlenden Kornblumen und rotem Klatschmohn dazwischen! Dadurch, dass ich Landstraße gefahren bin, musste ich außerdem durch menschliche Ortschaften. In meinem Kopf ist der gesamte ländliche Osten von Nazis und Faschist*innen vereinnahmt. Einige Dörfer entsprachen sehr meinem Vorurteil mit altdeutschen Innschriften, Deutschlandflaggen und starker Verwahrlosung der Immobilien. Den anderen Teil der Orte habe ich allerdings so wirklich nicht erwartet: Ich war in Pleasantville! Top gepflegte Höfe, Häuser und Vorgärten mit pompösen Blumenarrangements. Wohlgenährtes Vieh und gut trainierte Pferde standen neben funktionsfähigen Immobilien mit Solaranlagen, der Tesla oder etwas vergleichbares in der Einfahrt. Die ein oder andere Deutschlandfahne war da auch dabei, aber das Deutschsein kann an diesen Orten scheinbar über andere Attribute performt werden anstatt primär über die Fahne der BRD. Jedenfalls strahlten diese Orte eine so kitschige Version von deutscher Normalität aus, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie bis 2025 überleben konnte. Wie Pleasantville wirkten sie seltsam aus der Zeit gefallen, Relikte einer gesellschaftlichen Ordnung, die angesichts der multiplen Krisen der letzten Jahrzehnte wie der verzweifelte Wunschtraum einer 50er-Jahre-Hausfrau wirken. Wie motiviert man sich dafür, diesen Schein aufrecht zu erhalten? Ist das dieselbe Motivation, die uns auf das Fusiongelände treibt? Bloß nicht stehenbleiben, bloß nichts anders machen, weil Gewohnheit Sicherheit schafft? Weil wir, wenn wir was anders machen würden als vorher, zugeben müssen, dass sich was verändert hat und damit ein gesamtgesellschaftliches Scheitern (Schuld?) thematisiert werden würde?
Und ja, ein Teil in mir genießt die Verzweiflung der konservativen Kräfte (wo ich alles ab den Grünen weiter rechts verorten würde), die nichts mehr haben außer diesem Schein. Nicht mal eine Erklärung haben sie für das Scheitern ihrer Visionen. Hat alles nicht geklappt mit dem Wohlstand und der Sicherheit. Dabei haben wir uns doch an alle Regeln gehalten, uns kaputt reguliert und diszipliniert, damit die kapitalistische Wirtschaft florieren und sich als hässlicher Vorbote der Vernichtung über den ganzen Globus ausbreiten konnte. Die Hausfrauen und ihre Männer aus den Ortschaften im Osten fahren scheinbar als Ausdruck ihrer Wut über das Nichterfüllen ihrer naiven Vorstellungen von dem, was „Gut“ und „Richtig“ ist, immer Freitags mit ihren Autos, Traktoren und absurd großen Deutschlandfahnen auf die Barrikaden – jedenfalls das hiesige Pendant dazu: Sie stellen sich in Kolonne auf Autobahnbrücken. Auf einer Autobahn wurde einige 100 Meter vor der verabredeten Brücke sogar ein Hubwagen auf der anderen Seite der Schallschutzmauer installiert und Dieter konnte seine riesige Deutschlandfahne mit Adler drauf über die Autobahn schwenken. Dieter, der Führer wäre stolz auf Dich. Marianne, auf Dich leider erst ab dem 10. Kind, wenn Du das Mutterkreuz verliehen bekommst. Du muss Deinen Körper erst komplett von Dieter und seinen Erben aussaugen lassen.
Ich glaube, deswegen war ich in diesem Jahr so froh, auf diesem Gelände anzukommen. Niemand hier macht sich vor, dass irgendwas davon Bestand oder Bedeutung hat, was hier passiert (hoffe ich). Und darin liegt vielleicht auch der Unterschied zu den Pleasantvilles drum herum. Dieser Ort ist einer der wenigen, die wirklich wenig regulativ sind: Es gibt Regeln fürs Verhalten im Miteinander, aber keine Regeln dafür wie jemand sein oder nicht sein soll. Die Regeln leiten sich häufig auch aus den genannten Sachzwängen ab, das Miteinander ist dezentralisiert und dementsprechend ebenfalls nicht im Ganzen reguliert. Das Ganze kriegt selten überhaupt mit, was im Kleinen passiert – und andersherum. Das strapaziert viele Nerven, die Ordnung und gute Prozesse mögen oder gewohnt sind. Aber es ist ein Spielplatz für all die Menschen, die an Ordnung und Regulation kaputt gehen. Und ja, es ist immer einfacher, reibungsloser und effizienter mit (selbst-) regulierten Menschen zusammenzuarbeiten. Dasselbe gilt für Ordnungs- und hierarchische Führungsprinzipien. Deswegen haben sie sich auch immer wieder über die ganze Welt ausgebreitet. Es ist hart, ihnen was entgegenzustellen und sie kommen scheinbar so überzeugend mit ihrer Rationalität daher. Wie kann man denn lieber mehr Zeit für etwas brauchen als weniger? Wieso sollte man Themen in langen Entscheidungsprozesse aushandeln, wenn doch jemand auch einfach „die richtige“ Entscheidung treffen könnte? Warum will man sich ständig die sehr verschiedenen Perspektiven von Menschen geben und versuchen, sie zusammenzubringen?
Weil jede Form von übergeordneten Regulierungs- und Disziplinierugstechniken Gewalt ausüben und Menschen in ihrer Freiheit einschränken. Nach Michel Foucault münden sie sogar zwangsläufig im Faschismus. Deswegen sind dezentrale Strukturen und Zusammenhänge, in denen Menschen sich unabhängig von sozialen Hierarchien assoziieren können, notwendig, wenn der Versuch ist, möglichst viel Freiheit für Menschen zu ermöglichen. Auch wenn viele (alle?) dieser Versuche immer wieder scheitern, selten für die Ewigkeit gebaut und meistens Angriffen von Außen ausgesetzt sind, ist das jeweilige Erleben davon doch etwas, was der Versteinerung in Pleasantville oder dem langsamen Dahinsiechen in anderen Zwangssysteme wie dem kapitalistischen Arbeitsmarkt entgegenwirken kann. Sie sind davon kein bisschen Unabhängig, weswegen sie auch keine Form tatsächlicher Utopie darstellen, sondern auf den jeweiligen Inseln der Solidarität früher oder später dieselben Kämpfe entstehen wie drum herum. Aber dazwischen gibt es Momente. Und auch das Wahrnehmen und Wertschätzen von Momenten ist eine Praxis, die den kapitalistischen Effizienzvoraben etwas entgegensetzt. Denn in der Regulation ist leider nicht der Moment also der Weg das Ziel sondern das Ziel ist das Ziel. Ein Ziel, das von vornherein gesetzt wurde (Sicherheit, Schönheit, Gesundheit usw.) und sich durch den Weg und die Wahrnehmungen währenddessen nicht mehr verändern wird. Auch wenn wir die Ausdifferenzierung des jeweiligen Ziels vielleicht noch anpassen (also WAS als sicher, schön oder gesund gilt), bleibt das Ziel im Weg.
Und ja, zu dieser Art umfassendem Freiheitsbegriff, gehört auch die Freiheit, sich selbst zu zerstören. Gerade wenn die gesellschaftlichen Regulierungs- und Ordnungsbedürfnisse wieder in einen Faschismus führen, um die Grenzen des Wachstums durch Krieg und Aneignung zum eigenen nationalstaatlichen Vorteil zu verschieben, wird das Leben derjenigen mit Privilegien wieder zur Verhandlungsmasse. All diese gut ausgebildeten, weißen, häufig wohlhabenden jungen Menschen, die aktuell in diversen Drogenexzessen verschwinden, sind wirklich nicht effizient. Die sind am Ende davon vielleicht noch am Leben, aber um einige Gehirnzellen ärmer und traumatische Erlebnisse reicher. Das ist wirklich nicht das, wofür all die uns umgebende Ordnung aufgebaut wurde und Eure Eltern sich all die Zwänge angetan haben, die sie an Euch weitergeben wollten („Euch“ an dieser Stelle, weil meine Eltern mir glücklicherweise sehr wenige dieser Regulierungszwänge angetan haben – leider mein Vater sich selbst zu wenige). Erfahrungsgemäß macht Selbstzerstörung on the long run aber auch keinen grundlegenden Unterschied, denn immerhin gibt es genug Medikamente, die für privilegierte Menschen die Nebenwirkungen wieder erträglich machen, sodass sie damit dann trotzdem gut weiter arbeiten, Kinder kriegen und für die Nation kämpfen können. Ich habe inzwischen ja einige dieser Lebensläufe miterlebt und es ist wirklich beeindruckend, wie verwundert man sein kann, dass insbesondere der Mischkonsum von Drogen langanhaltende Folgen hat. Upsi doch nicht unverwundbar, aber Vater Staat und Mutter Medizin werden’s schon richten, damit Du endlich wieder einen geregelten Alltag erleben darfst.
Kurzer Exkurs, ging ja eigentlich um was anderes, aber deswegen bin ich dieses Jahr froh, das Fusion Gelände schon vor dem allgemeinen Exzess aber ohne die „da draußen“ vorhandene Regulierung zu erleben. Ich hatte das Bedürfnis nach einem unregulierten Ort, bin aber mit meinen Überlegungen wie viel Regulierung notwendig ist, um was hinzukriegen, aber auch lange noch nicht am Ende. Ist es wie immer das aristotelische Mittel, das lebenswert ist? Aber wo wäre die Mitte Zwischen Regulierung und Chaos? Ich habe den Eindruck, sie ist überhaupt nicht generalisierbar sondern die Entscheidung liegt jeweils im Einzelfall. Und für den Einzelfall haben wir in der Normalität keine Zeit. Der Einzelfall ist ineffizient, zeit- und ressourcenaufwändig.
Ich verharre also in der Haltung von Bartleby, dem Schreiber, und sage zu möglichst vielen regulatorischen Maßnahmen, die generalistisch daher kommen: I prefer not to. Ich möchte lieber nicht. Egal, ob da draußen oder hier in Fusion-Länd. Stattdessen bemühe ich mich um Regulation am Einzelfall. Du hattest das allgemeine Bemühen, um angemessenes Verhalten, Klarkommen, Strukturen und Prozesse ja schon mal als Vorboten des Übergangs zwischen der bisherigen Kontrollgesellschaft zum tatsächlichen Faschismus beschrieben. Wie ist Dein Umgang gerade in diesem Spannungsfeld?
Yours Fin
2. Brief: Im Namen der Sicherheit
5. Brief: Suizide auf den Gleisen – Morde an den Grenzen
6. Brief: Neu definiert: besser „gesund“ als bedürftig, lieber tot als krank