Von Jürgen Zimmerer, Historiker und Autor
Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, abgeleitet aus dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. Um jedoch die Verpflichtung aus der Geschichte zu begrenzen, gibt es eine zweite Staatsräson: Für keine anderen Verbrechen Wiedergutmachung zu zahlen. Eine Einordnung.
„During these sensitive discussions, on the statement that Germany having massacred the Jewish people, and has done reparations to the unfortunate Jewish victims by the Nazi regime, Mr. Ruprecht Polenz, with arrogance and insensitivity unbecoming a diplomat and an [sic] Special Envoy entrusted with doing justice to that painful past of German destruction of the Herero and Nama, admonished the delegates, telling us not to compare the destruction of the Nama and the Herero with the massacres of Jewish people. He continued saying that the Jewish suffered more than the Nama and the Herero […]
We have been insulted by the German Special Envoy, Ruprecht Polenz who told us that the Holocaust cannot be compared with the 1904-1908 Nama and OvaHerero Genocide because the killing of the Jews as [sic] more extreme. […]
We are convinced Mr. Polenz’s utterances are a sign of blatant racism […] To add salt to insult, his colleague Ambassador Schlaga, at no point did he attempt to rectify the situation that went out of hands as a result of comments made by Mr. Polenz.“1
Mit diesen deutlichen Worten verurteilten Vertreter*innen der Nama im November 2016 in Windhoek Äußerungen, die der deutsche Delegationsleiter Ruprecht Polenz (CDU), ehemaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des deutschen Parlaments, in der deutschen Botschaft in Windhoek ihrer Aussage nach getätigt hatte.
Deutschland hatte gerade Verhandlungen mit der namibischen Regierung über den deutschen Kolonialkrieg von 1904 bis 1908 gegen die Herero und Nama in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika aufgenommen. Dabei bot die deutsche Delegation die lange geforderte offizielle Anerkennung als Genozid und eine offizielle deutsche Entschuldigung an; im Gegenzug sollte Namibia auf Wiedergutmachung verzichten.
Diese Ablehnung jeglicher Pflicht zur Reparation, die man als Folge einer Anerkennung als Völkermord befürchtete, durchzog die deutsche Politik schon seit Jahren. Es war kein Geringerer als der erste grüne Außenminister Deutschlands, Joschka Fischer, der ansonsten stets die Verantwortung, die aus Auschwitz erfolge, betonte, der dies auf den Punkt brachte:
Eine „entschädigungsrelevante Entschuldigung“ werde er zum Genozid an den Herero und Nama nicht abgeben, wurde er schon 2003 zitiert, kurz vor dem 100. Jahrestag des Völkermordes. „Entschädigungsrelevant“, darum ging es, keinesfalls durfte es eine Anerkennung einer Wiedergutmachungspflicht geben, die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, auch die Aussöhnung mit den Opfern, war dagegen sekundär.
Deshalb lehnte man von deutscher Seite lange Zeit auch jegliche Anwendung des Begriffs Genozid für den kaiserlichen Kolonialkrieg ab. Noch 2012 stimmte der Deutsche Bundestag mehrheitlich gegen die Anerkennung des Völkermordes. Im gleichen Jahr erklärte die Bundesregierung, warum aus ihrer Sicht die Anerkennung eines Genozids in Namibia nicht möglich war: Sie führte aus, dass die UN-Genozidkonvention als völkerrechtliche Grundlage erst am 12.1.1951 (für die Bundesrepublik gar erst am 22.2.1955) in Kraft getreten sei.
Sie gälte „nicht rückwirkend. Bewertungen historischer Ereignisse unter Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen, die im Zeitpunkt dieser Ereignisse für die Bundesrepublik Deutschland nicht in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht vorgenommen.“ Völkerrechtliche Bewertungen „von historischen Ereignissen“ seien
„nur unter Anwendung der im Zeitpunkt dieser Ereignisse geltenden völkerrechtlichen Regeln und Bestimmungen und unter Zugrundelegung der historischen Fakten des konkreten Sachverhalts zu beurteilen. Was die historischen Fakten betrifft, so sind diese Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.“2
Genozid, so die deutsche Position, konnte es also vor dem Inkrafttreten der UNO-Genozidkonvention nicht geben. Dass damit auch der Holocaust nicht als Genozid bewertet werden konnte, obwohl ja Raphael Lemkin und dann auch die UN den Straftatbestand Genozid in Auseinandersetzung mit dem Holocaust entwickelten, störte die Bundesregierung offenbar nicht.
Genauso wenig hielt dies den Deutschen Bundestag davon ab, 2015 eine Resolution einzubringen und 2016 zu beschließen, wonach der osmanische Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges als Genozid zu bewerten sei. Aber schließlich war hier nicht ein deutscher Staat der Haupttäter und deshalb auch nicht eine deutsche Regierung die Verantwortliche für etwaige Wiedergutmachungen. 2022 erkannte der Bundestag auch den Holodomor, Stalins Hungerpolitik gegenüber der Ukraine in den 1930er Jahren, als Völkermord an.
Die verhandelte Anerkennung
Für den Krieg gegen die Herero und Nama fehlt dagegen dieser Schritt bis heute, denn das Abschlussdokument der namibisch-deutschen Verhandlungen wurde zwar 2021 paraphiert, aber bis heute nicht ratifiziert. Dieses Dokument enthielt die Anerkennung des Genozids, bzw. die Bereitschaft dies zu tun, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung hinsichtlich der daraus folgenden rechtlichen Verpflichtungen des Täters:
„The German Government acknowledges that the abominable atrocities committed during periods of the colonial war culminated in events that, from today’s perspective, would be called genocide.
On the basis of this acknowledgment, the German Government recognizes Germany’s moral responsibility for the colonization of Namibia and for the historic developments that led to the genocidal conditions between 1904 and 1908 […] with its gross human rights violations and human sufferings thereof. On the same basis, Germany accepts a moral, historical and political obligation to tender an apology for this genocide and subsequently provide the necessary means for reconciliation and reconstruction. […]
Germany apologizes and bows before the descendants of the victims.“3
„Events that, from today’s perspective, would be called genocide“, wie es im ausgehandelten Text hieß, war nichts anderes als der Ausschluss rechtlicher Folgen aus dem Eingeständnis, wie etwa einer Pflicht zur Wiedergutmachung.
Polenz‘ eingangs zitierte Aussage befand sich also in Übereinstimmung mit den Grundlinien der deutschen Politik. Jedwede Form von rechtlicher Verpflichtung sollte abgelehnt werden. Nur wenn die Nachkommen der Opfer, bzw. die sie vertretende Regierung, auf ihre Ansprüche verbindlich verzichteten, sollte es eine Anerkennung und eine Entschuldigung geben. Dazu passte es, dass man sich zwar auf die Zahlung von 1,1 Mrd. Euro durch Deutschland einigte, verteilt auf 30 Jahre, aber diese Zahlungen bewusst nicht als Reparationen oder Wiedergutmachungszahlungen tituliert wurden, sondern als „Hilfe“. Die deutsche Regierung war nicht bereit, auch nur den kleinsten Hinweis zuzulassen, dass sie zu bestimmten Zahlungen verpflichtet sei.
Das 2021 ausgehandelte Abkommen stieß auf enormen Widerstand, vor allem von Herero und Nama, und ist bis heute von der namibischen Regierung nicht offiziell angenommen. Hinter verschlossenen Türen wird zwischen beiden Regierungen weiter verhandelt, wobei Deutschland offenbar nachgebessert hat, wie aus einer Bekanntmachung der namibischen Vizepräsidentin Dr. Netumbo Nandi-Ndaitwah vom 27.6.2024 bei der Eröffnung des Chiefs Forums Meeting in Khomasdal, Windhoek, hervorgeht.
Sie berichtete, dass eine Erhöhung der in Aussicht gestellten Zahlung von 1,1 Mrd. € im Raum stehe, ohne jedoch eine genaue Summe zu nennen. Statt auf 30 Jahre sollte nun ein – ebenfalls nicht spezifizierter Teil – vorab gezahlt werden. Dieser Betrag solle nun auch nicht mehr als „Hilfe“ oder „Zuschuss“ bezeichnet werden, was in der Erklärung von 2021 für großen Ärger gesorgt hatte, sondern als Beitrag zur „Sühne“ bzw. als „Sühnefond“. Auch gebe Deutschland die Einschränkung in der Erklärung auf, es habe sich um einen Genozid „nach heutigem Verständnis“ gehandelt. Welche rechtlichen Auswirkungen letzteres haben wird, ob daraus eine Pflicht zur Zahlung abgeleitet werden kann, bleibt abzuwarten. Auch ein „Sühnefond“ ist keine „Reparation“.
(Völker-)rechtliche Verpflichtungen sind aber nur das eine. Noch stärker wirkt das historische Beispiel des Holocaust, und die sich daraus ergebende (Selbst-)Verpflichtung zur Wiedergutmachung. Der deutsche Umgang mit dem Holocaust ist längst zum globalen Symbol für eine Aufarbeitung geworden, die sich darum bemühte, historisches Unrecht wiedergutzumachen bzw. dafür zu entschädigen. Auch deshalb wurde und wird der deutsche Umgang mit kolonialen Verbrechen international so genau beobachtet. Deutschland hat durch seinen selbstkritischen Umgang mit dem Holocaust einen enormen Reputationsgewinn erzielt, muss sich aber nun international auch selbst daran messen lassen. Während des Ringens um eine Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama wurde immer wieder auf das Beispiel des Umgangs mit dem Holocaust verwiesen.
Gleichzeitig war es von Anfang an das deutsche Verhandlungsziel, jede rechtliche Verpflichtung aus den historischen Ereignissen zurückzuweisen, um neben den Holocaust nicht noch einen weiteren Präzedenzfall treten zu lassen, der zudem zu einem Präzedenzfall werden könnte auch über die allgemeine Anwendbarkeit der für den Holocaust getroffenen (Wiedergutmachungs-) Regelungen. Deshalb ist das Ringen um den Genozid an den Herero und Nama auch eine Auseinandersetzung über die Universalisierbarkeit der Lehren aus dem Holocaust.
Der Präzedenzfall, den man von deutscher Seite fürchtet, betrifft dabei nicht nur – und wohl auch nicht in erster Linie – die deutsche Kolonialgeschichte, sondern den Zweiten Weltkrieg, wo etwa von Seiten Griechenlands, Polens und auch Russlands Reparationsforderungen gegenüber Deutschland erhoben werden. Weiter gefasst, ist es auch eine Debatte um die rückwirkende Ausgestaltung eines Verständnisses von Genozid, das nicht den Holocaust zum alleinigen Vorbild nimmt, sondern die spezifischen Bedingungen des späten Siedlerkolonialismus, wie er in Namibia um 1900 vorliegt, berücksichtigt, was ihm Relevanz weit über die deutsche oder namibische Geschichte hinaus verleiht.
Die andere Staatsräson
Auf koloniale Verbrechen bezogen, bleibt das deutsche Handeln halbherzig und auf juristische Schadensbegrenzung ausgerichtet, statt auf einen echten Ausgleich mit den Nachkommen der damaligen Opfer. Wäre es um bedingungslose Anerkennung von Schuld gegangen, hätte nichts den Deutschen Bundestag davon abgehalten, den Genozid an den Herero und Nama anzuerkennen. Auch könnte niemand den Bundespräsidenten davon abbringen, eine Entschuldigung auszusprechen, wie er bei seinem Besuch in Windhoek anlässlich der Beerdigung des namibischen Staatspräsidenten Hage Geingob für seinen nächsten Besuch in Aussicht stellte, wenn er es wirklich wollte. Verloren wäre dann nur das Faustpfand: Anerkennung gegen Reparationsverzicht!
So bleibt der Eindruck, die deutsche Regierung versuche sich mit ihren Verhandlungen nur einer lästigen Pflicht zu entledigen, ohne sich wirklich um eine Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen und genozidalen Geschichte zu bemühen oder diese auch in der deutschen Öffentlichkeit aufarbeiten zu wollen: Die Verbrechen der Geschichte sollen nicht um ihrer selbst willen und in eigener Verantwortung aufgearbeitet werden, sondern ein potentielles juristisches Problem – auch für die Zukunft – soll beseitigt werden. Auch die deutsche Bundesregierung weiß schließlich, dass Wiedergutmachungsforderungen historischen Unrechts international immer stärker werden.
Offenbar ist man in Berlin bereit, den Willen zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes einer deutschen „Staatsräson“ zu opfern, die darin besteht, nichts zu unternehmen, was als Anerkennung einer Wiedergutmachungspflicht angesehen werden könnte. Es ist eine andere „Staatsräson“, als etwa die von Merkel in Bezug auf Israel formulierte, und doch sind beide verbunden.
Deutschland möchte keinerlei Zahlungsverpflichtung eingehen, die aus der vergangenen Tötung von Menschen resultieren. Auch deshalb ist es bestrebt, den dafür bereits bestehenden Präzedenzfall, den Holocaust, einzuhegen. Einen Ausweg aus dem Dilemma, keine Wiedergutmachungsverpflichtung für vergangene Verbrechen anzuerkennen, dennoch aber aus der Wiedergutmachung für den Holocaust politisches Kapital im Inneren und Äußeren zu schlagen, der Welt zu beweisen, dass Deutschland wieder gut geworden sei, scheint der Rekurs auf die Singularität des Holocaust zu bieten. Wie dies funktioniert, sieht man am eingangs zitierten Beispiel von Ruprecht Polenz.
Man sieht es aber auch an der von Merkel beschworenen „Staatsräson“ in Bezug auf Israel. Vordergründig die moralische Pflicht zur Hilfe und Solidarität aus der Geschichte, aus den Verbrechen des Dritten Reiches begründend, werden diese Lehren zugleich auf Solidarität mit jüdischem Leben, insbesondere mit Israel beschränkt.
2008 hatte die deutsche Bundeskanzlerin vor der israelischen Knesset erklärt:
„Deutschland und Israel sind und bleiben – und zwar für immer – auf besondere Weise durch die Erinnerung an die Shoah verbunden. […] Der Zivilisationsbruch durch die Shoah ist beispiellos. Er hat bis heute Wunden hinterlassen. […] Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“4
Außergewöhnlich war nicht, was Merkel garantierte – das Existenzrecht Israels gehörte auch vorher schon zu den Eckpfeilern deutscher Nahostpolitik –, sondern dass sie Sicherheit und Existenzrecht mit dem Begriff der „Staatsräson“ umfasste und mit der Geschichte, genauer der Singularität des Holocaust, verband.5
Der Begriff der „Staatsräson“ verweist mit der darin enthaltenen Vorstellung von abstrakten staatlichen Interessen, die den Rechten Einzelner, etwa nach politischer Teilhabe und Mitbestimmung, entzogen sind, auf den vordemokratischen Raum. „Staatsräson“ ist dem politischen Tagesstreit entzogen, dem (partei-)politischen Hick-Hack. Merkel, bekannt für ihr Verwalten der Politik durch angeblich alternativlose Entscheidungen, führt diesen Grundsatz hier fort.
Sie erklärt Solidarität mit Israel zum Grundsatz deutscher Politik, ohne aber zu spezifizieren, was diese Solidarität bedeutet, ja sie entzieht jeder Diskussion darüber die Möglichkeit. Das öffnet ihn für Missbrauch: Ist etwa durch eine Kampagne wie die des BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) Israels Sicherheit, ja seine Existenz schon gefährdet? Ist Israels Sicherheit gefährdet, wenn man die aktuelle israelische Regierung kritisiert, ihr die bedingungslose Gefolgschaft verweigert, Waffenlieferungen einstellt? Diese Fragen haben seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 noch einmal deutlich an Brisanz gewonnen. Auch wegen des Diktums der Staatsräson kann darüber im politischen Deutschland nur schwer diskutiert werden.
Ohne es ausdrücklich auszuführen, begründete Merkel die deutsche Außenpolitik auf einem der konfliktreichsten Felder der internationalen Politik mit einem Rekurs auf die Verpflichtungen aus der Geschichte, genauer aus dem „Zivilisationsbruch durch die Shoah“. Der Holocaust wurde damit zur ultimativen Begründung deutscher Außenpolitik. Konsequenzen, insbesondere moralische, aus der Geschichte sind damit jedoch weitgehend der politischen Meinungsbildung entzogen. Wer handelt schon gegen Geschichte und Moral?
Folgen der Singularität
Diese Singularität, auf die Merkel sich bezieht, besitzt dabei eine weitere wichtige politische Funktion: Sie beschränkt die Selbstverpflichtung Deutschlands auf Israel, da natürlich keine Bundesregierung ihren außenpolitischen Handlungsspielraum durch „alternativlose“ Konsequenzen aus der Geschichte generell einengen lassen wollte. Ähnlich konkrete Verpflichtungen aus der deutschen Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches, etwa zur Solidarität mit Polen oder der Ukraine, um nur zwei Länder zu nennen, die unter dem deutschen Vernichtungskrieg von 1939-45 besonders gelitten hatten, gibt es nicht.
Die zitierte Beispiellosigkeit der Shoah hat also auch eine konkrete politische Auswirkung: Sie begründet die bedingungslose Solidarität mit Israel und nur mit Israel, nicht etwa mit der Ukraine, dem Schauplatz millionenfacher deutscher Massaker während des Zweiten Weltkriegs. Die bedingungslose Garantie der Sicherheit und des Existenzrechts der Ukraine etwa stand für Merkel nie auf dem Programm und so sah sie nur wenige Jahre nach ihrer Knesset-Rede der Annexion der Krim durch Russland weitgehend tatenlos zu. Und auch seit dem 7. Oktober 2023 ist der politische Diskurs in Deutschland etwa über Militärhilfe an Israel und an die Ukraine sehr unterschiedlich. Bedingungslose Unterstützung der Ukraine gibt es von Bundeskanzler Scholz nicht.
Auch vergleichbare historische Selbstverpflichtungen aus anderen Epochen der deutschen Geschichte bestehen nicht, selbst für Massenverbrechen bis hin zum Genozid, wie auch das oben diskutierte Beispiel des Genozids an den Herero und Nama zeigt.
Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die Geschichte der deutschen Erinnerung an das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg: Lange Zeit stand der Holocaust hier keineswegs im Mittelpunkt. Persönlich sahen sich viele Deutsche in der Nachkriegszeit vielmehr als Opfer: als Opfer des Regimes und seines Geheimdienstapparates, als Opfer des Krieges durch Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten, der Vergewaltigungen durch die Soldaten der Roten Armee, als Opfer des alliierten Bombenkriegs, als Opfer der scheinbaren ,Siegerjustiz‘, die nachträglich ihr Verhalten kriminalisierte, und schließlich als Opfer eines angeblich von außen oktroyierten ,Schuldkultes‘.
Noch 1985 musste Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes in seiner berühmten Rede dafür werben, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr als Tag der Niederlage zu betrachten, sondern als Tag der Befreiung. Dazu, dass dies dann bereitwillig übernommen wurde, trug sicherlich auch bei, dass er den Deutschen jeglichen Alters auch einen Ausweg aus der persönlichen Schuld anbot. Befreit wird man von etwas, das man nicht will, von etwas Fremdem, das einen befällt, nicht von etwas, dem man millionenfach zujubelte, an dem man sich millionenfach beteiligte. Das seit Ende der 1970er Jahre einsetzende, breite gesellschaftliche Bekenntnis zu beispiellosen Verbrechen wurde erleichtert, indem jüngere Deutsche zumindest teilweise von der Täter- auf die Opferseite rücken konnten.
Von Weizsäckers Rede erteilte zwar dem Geschichtsrevisionismus, der das ,Dritte Reich‘ noch verherrlichen wollte, eine klare Absage, er tat dies aber, ohne die Mehrheit der Deutschen mit ihrer eigenen Täterschaft – oder der ihrer Eltern und Großeltern – zu konfrontieren. Zu den weitreichenden Folgen zählte, dass sich damit doch auch die Vorstellung vom Nationalsozialismus als etwas Fremdem, aus der deutschen Geschichte Gelöstem, verfestigte.
Eine ähnliche Funktion scheint – aus Perspektive der Nachkommen der Täter – auch das pauschale Postulieren einer Singularität des Holocaust zu erfüllen, oftmals gepaart mit Hinweisen, auf das „schlimmste“ Menschheitsverbrechen, entzieht es doch das Verbrechen der historischen Entwicklung und damit auch seiner geschichtlichen Verortung. Die damit implizit verbundene Herauslösung aus der Geschichte bildet die Voraussetzung für die Ehrenrettung dieser nationalen Geschichte. Das Erheben der zweifellos zu konstatierenden Ungeheuerlichkeit des Verbrechens zu einer pauschal postulierten, welthistorischen Einmaligkeit, zu einer moralischen Singularität, befördert auch eine Enthistorisierung. Ein Zivilisationsbruch kann eben auch als Bruch in und mit der Geschichte gelesen werden.
Jenseits der Frage, wie Einschätzungen wie „schlimmste“ etc. qualifizierend zu treffen sind, bedeutet gerade der Superlativ eine Verantwortungsreduzierung: Aus einer Vielzahl von Verbrechen, von der Euthanasie bis zum Vernichtungskrieg, die in ihrer Gesamtheit das „Dritte Reich“ ausmachten, wird ein Verbrechen herausgehoben, als singulär, womit alle anderen auch ein Stück weit normalisiert werden. Da zudem die unzweifelhafte Singularität des Judenmordes in der ideologischen Fundierung durch Antisemitismus lag, wird aber auch Antisemitismus zur ausschließlichen Ursache dieses Verbrechens, was in der historischen Forschung mit Hinweis auf situative Radikalisierungen etc. durchaus kontrovers diskutiert wird. Kontinuitätslinien zu anderen Ursachen werden damit gekappt. Aus Sicht der „Wiedergutwerdung“ der Deutschen hatte dies den Vorteil, dass sich die Aufarbeitung der Verbrechen und des „Nie wieder“ auf den Antisemitismus und den Kampf dagegen reduzieren lässt, oder noch verengter: auf die „Staatsräson“ der bedingungslosen Solidarität mit Israel.
Im Umkehrschluss heißt dies: Solange Deutschland bedingungslos solidarisch mit Israel ist, und hier liegt die Betonung auf „bedingungslos“, treten andere Lehren aus den Verbrechen des Dritten Reiches in den Hintergrund, etwa die, für eine offene Gesellschaft einzutreten, gegen Antisemitismus und Rassismus, für Geflüchtetenschutz, oder aber auch gegen Krieg und Kriegsverbrechen allgemein.
Die Verengung des Gedenkens
Die Verengung dessen, was als Verbrechen des „Dritten Reiches“ anzusehen ist, auf den Holocaust, ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Beobachten lässt sich dies etwa an der Diskussion um das Mahnmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas, dem sog. Holocaust-Mahnmal.
Seine Errichtung in Berlin stand im direkten Zusammenhang mit der Entscheidung, die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands von Bonn nach Berlin zu verlegen. Um die Ängste der Nachbarn zu beschwichtigen, wollte man auf symbolische Weise zeigen, dass man geläutert sei, durch ein „Bekenntnis, dass sich dieses geeinte Deutschland zu seiner Geschichte bekennt und zwar indem es in seiner Hauptstadt, in ihrem Zentrum, an das größte Verbrechen seiner Geschichte erinnert“, sagte Bundestagspräsident Thierse bei der Eröffnung.
Ein Denkmal für die Millionen Opfer im Zentrum der Hauptstadt war und ist eine Ausnahmeerscheinung, die aller Ehren wert ist. Es war jedoch eine politische Entscheidung mit Folgen, an diesem Mahnmal nicht aller Opfer des Dritten Reiches zu gedenken, sondern nur der jüdischen. Zur Debatte hatte auch ein Denkmal für alle Opfer des Dritten Reiches gestanden, zumal warnende Stimmen wie die des Historikers Reinhart Koselleck darauf verwiesen, „wir dürften uns als Täter nicht anmaßen, eine Hierarchie der Opfer festzuschreiben“, denn „dies tut, bedient sich weiterhin jener Kategorien, mit denen die SS ihre Opfer definiert hat, um sie zu vernichten“. Der Bundestag entschied sich bekanntlich anders.
So wurde zwar die Verlegung der deutschen Hauptstadt von Bonn nach Berlin, und damit die Machtverlagerung vom Westen in das alte Zentrum des Deutschen Reiches, von einem demonstrativen Bekenntnis zur eigenen problematischen Geschichte begleitet, allerdings wurde zugleich auch eine Verengung der Perspektive vorgenommen. Das Denkmal erinnere an „das schlimmste, das entsetzlichste Verbrechen Nazideutschlands“, erklärte Thierse bei der Eröffnung. Es handelte sich um eine Last, die manche*r auch deshalb leichter tragen konnte, da auch Thierse, die Formulierung von Weizsäckers aufgreifend, des Kriegsendes als „Befreiung unseres Landes und unseres Kontinents von der Hitlerbarbarei“ gedachte. Gerade so, als habe es ein zweites, ein anderes, Deutschland gegeben, als sei Hitler alleine schuld, als sei es keine deutsche Barbarei gewesen.
Im Sinne der historischen Ursachenfindung reduziert das plakative Postulieren einer Singularität multiple Faktoren, die von gesellschaftlichen Strukturen, über militaristische und imperialistische bis zu allgemeinen eugenischen Vorstellungen reichen, auf Antisemitismus als Alleinursache. Indem zugleich der Holocaust zum Sinnbild für die Verbrechen schlechthin wurde und wird, wird die deutsche Geschichte, soweit sie nicht mit Antisemitismus zu tun hat, entlastet.
Um dies zu verstehen, muss man die Geschichte der allmählichen Zentrierung des Gedenkens auf einen als singulär verstandenen Holocaust in Beziehung setzen zu der zeitgleich vollzogenen Ehrenrettung Preußens, verbunden mit der architektonischen Überschreibung der Spuren der deutschen Gewaltgeschichte. Preußen steht hier für eine idealisierte deutsche Geschichte vor 1914, die man der deutschen Gewaltgeschichte von 1914 bis 1945, und wenn man die deutsche Teilung als Ergebnis derselben dazurechnet, bis 1989, gegenüberstellt(e).
Das preußische Disneyland: ein steingewordener Schlussstrich
Zum Symbol dafür wurde der Wiederaufbau des Berliner Schlosses, einschließlich des damit verbundenen Humboldt Forums. Nachdem das ursprüngliche Schloss der Hohenzollern, der Dynastie der bis 1918 regierenden preußischen Könige und deutsche Kaiser im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und dann in der DDR abgerissen worden war, beschloss der Bundestag 2006 seinen Wiederaufbau. Dafür wurde der mittlerweile dort stehende Palast der Republik abgerissen.
Das Ersetzen des einen durch das andere war eine vergangenheitspolitische Grundsatzentscheidung, mit der die Spuren der deutschen Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert, worunter als Sinnbild der deutschen Teilung auch der Palast der Republik gehörte, überschrieben und ausgelöscht wurden. Überschrieben wurden sie ausgerechnet durch ein Symbol der Ungleichheit und des Antidemokratischen.
In Verbindung mit dem Humboldt Forum, dass von Namen und Anspruch an ein Berlin, ein Preußen, ein Deutschland erinnert, das bildungs- und wissenschaftspolitisch Weltgeltung besessen hatte, wurde daraus ein steingewordener Schlussstrich: Die Geschichte des deutschen Jahrhunderts der Gewalt und des Rassismus wurde ersetzt durch die Geschichte der deutschen wissenschaftlichen Weltgeltung. Das Image vom „Land der Richter und Henker“ wurde so wieder zu dem der „Dichter und Denker“.
Allerdings geriet an diesem Punkt die Debatte über das koloniale Erbe Deutschlands in Konflikt mit dem neuen Narrativ, da die ethnologischen Sammlungen im Humboldt Forum den Blick auf kolonialen Raub und koloniale Ausbeutung lenkten. Trotz all der Mühen, das Bild eines weltoffenen Berlins und damit auch Deutschlands zu zeichnen, eines Zentrums der Wissenschaft, schuf man in Berlin so erst recht ein Denkmal der Engstirnigkeit. Das vermeintlich unproblematische Deutschland vor 1914 war eben das undemokratische Kaiserreich mitsamt seinem auf Gewalt und Rassismus beruhenden Kolonialreich. Und die humanistische und universale Wissenschaft, die das Humboldt-Forum symbolisieren sollte, war zugleich Grundlage und Nutznießerin dieser Weltaneignung.
Vor diesem doppelten Hintergrund, der Reduktion der Lehren aus der Geschichte des Dritten Reiches auf den pauschal als singulär postulierten Holocaust und der Erhebung dieser Lehren und damit der Singularität zur innen- wie außenpolitischen „Staatsräson“ auf der einen, und dem gleichzeitigen Verschieben des identifikatorischen Kerns der Berliner Republik ins Nationalistisch-Konservative auf der anderen Seite, wird der Streit um das koloniale Erbe bedeutsam.
Die Anerkennung der deutschen kolonialen Verbrechen als Teil der deutschen Gewaltgeschichte, auch als eine der Wurzeln der Verbrechen des Dritten Reiches, einschließlich des Holocaust, verweigert den unkritischen Anschluss an die Nationalgeschichte, selbst in der Form der Disneyfizierung Preußens, wie es das Berliner Schloss darstellt. Daraus speist sich die Vehemenz der Debatte um eine Kontinuität „Von Windhuk nach Auschwitz?“ ebenso wie um den sogenannten „Zweiten Historikerstreit“.6
Jürgen Habermas hat dies erkannt:
„Die Kontroverse der letzten Monate dreht sich im Kern um ein Argument: Wenn man den kolonialen Charakter der Zielsetzung von Hitlers rassistischem Vernichtungskrieg gegen Russland berücksichtige und wenn man den organisierten Mord an den europäischen Juden in diesem, seinem Entstehungskontext betrachte, erkenne man schon im Genozid der deutschen Kolonialverwaltung an den Nama und Herero in Südafrika jene kriminellen Züge, die im Holocaust verstärkt und in anderer Weise wiederkehrten.“7
Ganz seiner Position im Historikerstreit von 1986 entsprechend, sieht er dennoch die Singularität des Holocaust als erwiesen an, allerdings verwahrt er sich allen Versuchen mit der die Thesen kolonialkritischer Wissenschaftler wie etwa Dirk Moses‘, Michael Rothbergs oder auch des Autors dieser Zeilen diffamiert werden sollten:
„Wie alle historischen Tatsachen mit anderen Tatsachen verglichen werden können, so auch der Holocaust mit anderen Genoziden. Aber der Sinn des Vergleichs hängt vom Kontext ab. Im sogenannten Historikerstreit ging es seinerzeit darum, ob der Vergleich des Holocaust mit den stalinschen [sic] Verbrechen die nachgeborenen Deutschen von ihrer politischen Verantwortung […] für die NS-Massenverbrechen entlasten könne. […] Unter anderen Vorzeichen geht es heute nicht um eine Entlastung von dieser Verantwortung, sondern um eine Verschiebung der Gewichte.“
Allerdings sitzt dabei selbst Habermas einer Verzerrung der Debatte auf, denn es geht zumindest mir nicht einmal um die „Verschiebung der Gewichte“, sondern um das Aufdecken bisher vernachlässigter Wurzeln und Kontinuitäten. Es geht bei „Von Windhuk nach Auschwitz?“ nicht um eine Dezentrierung des Holocaust, wie minimal auch immer, sondern um ein besseres Verständnis der Ursprünge und der Traditionen, in denen Judenmord und Vernichtungskrieg standen.
Nimmt man diese Fragen wirklich ernst, dann kann an Stelle einer pauschalen Singularität mit ihrer – auch – entlastenden Funktion die weit produktivere Frage treten, was am Holocaust singulär war, und was nicht. Stellt man die Frage so, wird dem Antisemitismus sein berechtigter Raum gegeben, ohne das Allgemein-Systemische der Gewalt zu ignorieren oder zu entschuldigen. So kann die Geschichte des Antisemitismus mit der Geschichte der Genozide verbunden werden, insbesondere in Deutschlands Jahrhundert der Gewalt.
Deutschland ist dafür noch nicht – oder nicht mehr – bereit. Die Öffnung hin zu einer Anerkennung der Geschichte der rassistischen (einschließlich antisemitischen) Massengewalt, scheint vorbei. Zumindest scheint derzeit jede Öffnung unter dem Ansturm der politischen Identitätskämpfe zusammenzubrechen.
Kolonialismus und offizielle Erinnerung
Das jüngste Lehrstück liefert Deutschlands Kulturministerin Claudia Roth, die Anfang 2024 den Versuch unternahm, das deutsche Gedenkstättenkonzept zu modernisieren und zu erweitern, das aus dem Jahre 2008 stammte und die Finanzierung von Gedenkstätten an nationalsozialistische Verbrechen und die DDR-Diktatur regelte. Neben die beiden bestehenden Pfeiler wollte sie Kolonialismus, Migration und Demokratie stellen, und damit auch das seit der letzten Regierung Merkel bestehende Regierungsprogramm zu Anerkennung und Aufarbeitung des kolonialen Erbes umsetzen.
Auch in der Regierung Scholz war dies in den Koalitionsvertrag geschrieben worden. Schon kurz nach Bekanntwerden des ersten Entwurfes begann der konzertierte Widerstand dagegen, angeführt von den Verteidiger*innen der bereits etablierten Institutionen, den Leitern der NS- und DDR-Gedenkstätten. Claudia Roth, die durch den Streit um die in ihren Verantwortungsbereich fallende documenta 15 und die Berlinale 2024 bereits zahlreichen Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt war, knickte ein.
Statt alle Beteiligten endlich an einen gemeinsamen Tisch und ins Gespräch über ein modernisiertes Erinnerungskonzept zu bringen, lud Roth nur die Vertreter*innen der etablierten Gedenkstätten zur Diskussion. Das Ergebnis war kaum überraschend: Die Reform wurde komplett kassiert, es wurde festgehalten, die „Gedenkstättenkonzeption des Bundes mit den Themen Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des SED-Unrechts …fortzuschreiben.“
Zwar fügte man, wie in solchen Fällen üblich, Lippenbekenntnisse darüber ein, Kolonialismus und „andere wichtige Themen“ separat weiterdiskutieren zu wollen, aber es wurde deutlich: Zur offiziellen Gedenkkultur, zur damit verbundenen deutschen Identitätspolitik, gehörten nur das Gedenken an Nationalsozialismus und DDR, nicht aber die kolonialen Verbrechen. Den einen gebührt ein Platz im Zentrum der deutschen Gedenkkultur, die anderen bleiben außen vor.
Das koloniale Erbe ist nicht Teil der offiziellen deutschen Gedenkstättenkultur, zumindest nicht ihres eigentlichen Kerns, wie Roths Rückzieher zeigt. Klarer kann man eine Verbrechens- und Opferhierarchie nicht benennen. Deutsche Opfer außerhalb Europas sind offenbar nur Opfer zweiter Klasse. Das läuft auf nichts weniger als die Relativierung des Genozids an den Herero und Nama hinaus. Im Grunde ist es auch das, was der Vorfall um Polenz, der eingangs zitiert wurde, beschreibt.
Dass ausgerechnet eine Ministerin von Bündnis 90/Die Grünen Opfer de facto nach Hautfarbe bzw. Herkunft hierarchisiert, also entlang rassistischer Logiken, zeigt, wie sehr die Debatten um Vergangenheit und ihre Aufarbeitung, um koloniales Erbe und Singularität des Holocaust, in Deutschland die bisher bestehende politische Matrix durcheinanderwirbeln. Es zeigt aber auch, wie sehr die Reduktion der Lehren aus der Geschichte auf Israel ihrerseits auch ein Schlussstrich unter die deutsche Geschichte sein können. Weitere Lehren werden vielleicht nicht völlig ignoriert sie, allerdings werden an den erinnerungspolitischen Katzentisch verwiesen.
Blickt man auf die sich aus der Vergangenheit ergebende „Staatsräson“ kommt man nicht umhin, einander entgegenlaufende Entwicklungen festzustellen. Je mehr der Holocaust ins Zentrum der offiziellen deutschen Erinnerungspolitik und damit auch der deutschen Identität rückte, desto stärker versuchten sukzessive deutsche Regierungen dessen Präzedenzcharakter zu beschränken. Neben die „Staatsräson“, Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen, trat die „Staatsräson“, keine rechtlichen Konsequenzen aus der Vergangenheit für andere historische Ereignisse anzuerkennen. Deutschlands koloniales Erbe wurde zu einem zentralen Beispiel dafür. Diese zweite „Staatsräson“ trägt ihrerseits aber dazu bei, die deutsche Geschichte jenseits von Antisemitismus und Holocaust zu normalisieren, und damit auch zu rehabilitieren.
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und Leiter des Projektverbundes „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Er publizierte zur deutschen Kolonialgeschichte, zum Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus und zur Erinnerungsgeschichte.
1 Media Conference Statement by Hon. Ida Hoffmann, Chairperson: Nama Genocide Technical Committee, o.D.: https://web.archive.org/web/20230612114450/http://genocide-namibia.net/wp-content/uploads/2015/03/PRESS-RELEASE-NOV-2016.pdf.
2 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Partei „Die Linke“, 14.8.2012, Drucksache 17/10481; https://dip.bundestag.de/vorgang/historische-politische-und-juristische-hintergr%C3%BCnde-des-massakers-gegen-die-herero/46536?f.deskriptor=Herero&rows=25&pos=15
3 Joint declaration by the Federal Republic of Germany and the Republic of Namibia, „United in Remembrance of our Colonial Past, United in our Will to Reconcile, United in our Vision of the Future“, o.D.: https://www.parliament.na/wp-content/uploads/2021/09/Joint-Declaration-Document-Genocide-rt.pdf.
4 Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset, 18. 3. 2008: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170.
5 Die folgenden Überlegungen habe ich ausführlicher entwickelt in: Jürgen Zimmerer, Erinnerungskämpfe. Wem gehört die deutsche Geschichte“, in: ders. (Hg.); Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein, Stuttgart 2023; S. 11-37, und ders., Der Völkermord an den Herero und Nama und die deutsche Geschichte, in: ebd.; S. 55-79.
6 Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 22024 (2011). In der Einleitung der erweiterten Ausgabe gehe ich genauer auf diese Debatten ein. Siehe dazu auch Zimmerer (Hg.); Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein, Stuttgart 2023.
7 Jürgen Habermas, Der neue Historikerstreit, in: Philosophie Magazin 60 (2021) 6, S. 10-11.
Ein Fall für eine universal fundierte Betrachtungsweise, die Gleiches und Verschiedenes benennt und bewertet.
Eine Opfergruppe herausgreifen und dann die Hände falten wäre demnach offen falsch: Es gab 1933ff. politische „Feinde“, „Erbkranke“, „Juden“, „Zi******“ genau wie das Wüten von SS und Wehrmacht im besetzten Ausland, v.a. im Osten, aber nicht nur dort.
Und eine der Generalproben dürfte im Nachhinein gesehen Deutsch-Südwest gewesen sein.
Schließen wir alles in die Betrachtung ein, ohne gegenseitiges „Herauskürzen“.