Mit einem verächtlichen Fußtritt befördert der Mann in Schwarz das Schild in den Straßengraben. Er wirkt sehr verärgert. Warte! Mein Begleiter hält mich zurück. Wir warten, bis der Typ ganz weg ist. Wir bleiben stehen, bis der Mann am Ende der Straße verschwunden ist. Türkische Männer sollte man lieber nicht provozieren, ich habe hier schon manche Gefechte mitbekommen. Die Schilder liegen im Regen, ich kann nicht erkennen, was darauf geschrieben wurde, denke mir aber, dass es Überbleibsel der heutigen Demo zum Tag der Frau sind. Dann ist der Mann nicht mehr zu sehen. Als ich hingehe und eines der von ihm in den Dreck getretenen Schilder umdrehe, lese ich, warum er sich so verhalten hat. Auf dem Schild steht: „Brüste der Welt, vereinigt Euch!“ Das halte ich für eine gute Forderung der Aktivistinnen der Frauenbewegung in der Türkei. Vorhin haben wir sie noch schreien und trillern hören, die vielen Frauen auf den Straßen rund um den Taksim, der wie bei jeder Demo komplett abgesperrt wurde. Frauen stehen an zweiter Stelle derjenigen, deren Demonstrationen vom Staat mit aller Härte verfolgt werden. An erster Stelle steht LGBTQI+. Im Juni letzten Jahres erlebte ich mit, wie es zuging bei der Transpride-Parade; verglichen damit kam mir die heutige Frauendemo fast legal vor:
https://sabineschiffner.de/tag-4/
Denn während die Transpride-Parade nur ca. 10 Minuten anhielt, bis sie aufgelöst wurde, laufen die Frauen heute schon anderthalb Stunden in den Straßen und skandieren, während hunderte und tausende von Polizisten die vielen Zugangsstraßen abgesperrt haben. Ich konnte diesmal nicht mitgehen. Ich habe Besuch aus Deutschland und wollte nicht, dass sie es mit der Furcht bekommen.
Außerdem bin ich schon oft genug dabei gewesen. Während der letzten drei Jahre war ich mehrmals mit meiner türkischen Aktivisten-Freundin auf diesen Demos und hatte mich von den Frauen und den Polizist*innen hin- und hertreiben lassen. Meine türkische Freundin war eben noch bei mir und hat sich heute Abend alleine auf den Weg gemacht. Einen lila Schirm gegen den Regen habe ich ihr mitgegeben.
Wir aber sind auf dem Weg den Hügel hinunter, wir haben für heute Abend Tickets für eine Abendveranstaltung geschenkt bekommen, die wir nicht ausfallen lassen wollen; eine Fahrt auf dem Bosporus, mit Essen und Trinken und verschiedenen Shows, eine der touristischen Höhepunkte hier in Istanbul. Da hier in meinem Stadtviertel alles durch die Polizei abgesperrt ist und auch der Shuttle zum Boot ausfällt, gehen wir zu Fuß die Straßen hinunter bis zum Bosporus. Die Fahrt ist dann so grauenvoll, wie ich es eigentlich erwartet habe. Das ganze Boot ist voller Russen, die derzeit wohl einen Hauptteil der Touristen hier in Istanbul ausmachen. Das merke ich daran, dass ich oft auf russisch angesprochen werde. Das Essen auf dem Boot ist grässlich, die Shows erbärmlich, aber der Blick vom Wasser auf die bunt beleuchteten Brücken und Häuser am Rande ist wunderschön. Und zwischendurch kann ich immerhin mit meinem Liebsten ausgelassen tanzen, zu meist orientalischer Musik, die die Russinnen auf der Tanzfläche sehr zu mögen scheinen.
Als die Fahrt vorüber ist und wir wieder aussteigen, schäme ich mich ein wenig, dass ich für diese Abendveranstaltung die Demo habe ausfallen lassen. Auch jetzt wieder, als ich das Schild hochhebe, das eine Türkin gemalt hat, die für ihre Rechte auf die Straße gegangen ist. Wieso war der Mann eben bloß so wütend? Fühlte er sich persönlich angegriffen?
Du bist sowieso Außen vor, dir passiert nichts, die wollen sich in der Türkei nicht vor dem Ausland blamieren, indem sie eine wie dich festnehmen, sagt Zeynep am nächsten Abend, als wir im Goetheinstitut mein neues Buch vorstellen, das von Istanbul handelt und in dem ich eben eine Passage gelesen habe, in der es um den Tag der Gewalt gegen Frauen geht, der am 25. November stattfindet, an dem ich zweimal teilgenommen habe und für den auch immer die ganze Innenstadt abgesperrt wird. Eben hat die Moderatorin Dilsad Budak noch gefragt, warum Zeynep mich einfach mitgenommen habe zu den Demos und gesagt, ich bräuchte keine Angst zu haben. Die Türken wollen sich nicht blamieren, es ist für sie ganz furchtbar für sie, sich vor dem Ausland zu blamieren, sagt Zeynep. Und dann fügt sie hinzu, dass es nicht nur in der Türkei, einem Staat, in dem das Recht oft gebrochen wird, gegen die Frauen geht. Es gäbe doch ganz viele Länder, die frauenfeindliche Politik betreiben würden. Die Einkommenskluft zwischen Männern und Frauen sei so gut wie in allen Ländern groß, auch in Deutschland, das sei nicht nur ein Problem des Kapitalismus. Und selbst in scheinbar freiheitlichen Ländern wie der USA, wo es doch auch noch Staaten gibt, in denen die Abtreibung verboten ist, sei es nicht besser.
Eine Zuschauerin meldet sich. Die Männer haben Angst vor der Auflösung des Patriarchats, deshalb werden sie immer nervöser! Ich muss an den Mann mit dem Schild denken und daran, dass sie vielleicht recht hat. Ja, eine andere Zuschauerin bestätigt es: Die Auflösung des Patriarchats steht kurz bevor! Die anderen türkischen Zuschauerinnen hier im Raum nicken bestätigend. Jetzt wird es wieder politisch, sagt die Moderatorin. Es sollte um das Buch gehen, aber es entspannt sich wie bei allen öffentlichen Gesprächen sofort eine Diskussion um Frauen- und Menschenrechte. Das ist immer so hier in der Türkei! Nicht nur die Männer werden nervös wegen der kurz bevorstehenden Auflösung des Patriarchats. Auch die Frauen sind nervös. Die Bürgermeisterschaftswahlen stehen kurz bevor, alle befürchten, dass es sich danach wie bei der letzten Wahl zum Schlechteren wendet. Ich schaue zu Zeynep und zu den anderen türkischen Frauen im Raum hin und schäme mich ein wenig, weil ich wieder daran denke, dass ich gestern Abend auf dem Boot war, während sie für ihre Rechte kämpften, wie ich auf den letzten Demos miterleben durfte: Sie sind sehr stark und sehr mutig, diese türkischen Frauen!
Ihre Eindrücke aus Istanbul sind jedes Mal spannend zu lesen. Herzlichen Dank für die tollen Eindrücke. Ich stelle immer wieder fest, dass Istanbul eine Welt für sich ist und nicht die Türkei als ganzes Land repräsentiert.