Immer wenn sie Zug fährt, beschleicht sie ein seltsames Gefühl.
Sie sieht die Welt an sich vorbeirauschen. Da draußen, während sie mit Hochgeschwindigkeit durch die Landschaft fliegt. Wiesen, Bäume, Bauernhöfe, Brücken, Bahnhöfe, Industriegebiete und Stadtnamen ziehen in windeseile an ihrem Fenster vorbei.
Das Gefühl hatte sie früher nicht beim Zugfahren. Das ist neu und irgendwie unangenehm.
Es erinnert sie an ein Gefühl an diesem Ort, wo sie auch aus dem Fenster schaut. Und doch ist es anders. Zuhause, wenn sie mit ihrem Kind auf dem Boden sitzt, umgeben von Spielsachen, die auch auf dem Boden liegen.
Sie schaut auf, auf zu einem der Fenster in dem Raum und blickt hinaus.
Sie sieht Wolken am Himmel vorbeiziehen,
hört gedämmte von draußen Geräusche
und wenn sie aufsteht und hinausblickt,
sieht sie ein paar Menschen leben,
ein Auto, das in die Straße einbiegt und vorbeifährt,
eine Frau, die ihre Mülltonne reinschiebt,
zwei Fahrräder, die geschwind vorbeisausen,
dann ist da auch dieses seltsame Gefühl.
Sie hört, wie er was braucht und wendet sich ab. Vorbei das Gefühl, vorbei der Gedanke, der noch gar nicht ganz da war. Sie befühlt automatisch seine Stirn, nickt innerlich, findet seine Trinkflasche und reicht sie ihm. Während er trinkt, beugt sie sich über die Puzzlestücke und schaut, aber sieht nicht. Sie ist gar nicht da. Sie ist irgendwo zwischen einem Zugfenster und ihrer Wohnung, da draußen, aber sie denkt an etwas anderes, an das, was direkt hinter ihr liegt.
In der Nacht hat sie es schon gemerkt.
Seine Stirn war zu warm, wärmer als sonst.
Und er hat super unruhig geschlafen.
Aber ausgerechnet heute!
Heute hätte sie dringend hingemusst.
Heute wollten sie darüber sprechen.
Und danach hatte sie noch was schönes vorbereitet, worauf sie sich lange gefreut hatte.
Das Telefonat am Nachmittag hätte sie heute endlich mal gerne hinter sich gebracht.
Das muss sie jetzt wieder alles neu ansetzen.
Hatte er nicht auch ein bisschen Durchfall gestern?
Und das Paket wollte sie doch auf dem Rückweg noch dringend abholen.
Was hat sie heute gemacht?
Den Anruf beim Kinderarzt, sonst nichts.
Resigniert zuckt sie mit den Schultern und greift nach einem Puzzlestück, probiert es hier und dort einzusetzen, legt es dann beiseite und greift sich ein anderes, eines mit Farbflecken, die passen müssten, aber auch das passt noch nicht.
Ich sehe die Welt an mir vorbeirauschen.
Und wenn ich im Zug sitze, finde ich das schön.
Ich sitze gerne am Fenster und schaue hinaus,
während etwas anderes passiert, während ein Mensch den Zug fährt
und ich kann hinausschauen
und meine Gedanken können kreisen,
in Ruhe kreisen,
denn ich muss nichts entscheiden,
ich muss nichts planen,
ich muss nichts machen,
ich muss nicht.
Ein Mensch fährt den Zug und nimmt mich mit.
Ich komme automatisch an, ich muss nur in den Zug steigen,
sitzen und rausschauen.
Das Puzzlestück passt an ein anderes. Halbwegs zufrieden legt sie es neben das Hauptpuzzle für später. Den Wasserkocher hat sie nicht kochen gehört. Deshalb steht sie auf und schaut nach. Macht ihn wieder an. Bleibt jetzt daneben stehen. Er kommt hinterher in die Küche, greift nach ihrer Hand, will hochklettern. Automatisch greift sie unter seine Schultern, setzt ihn hoch, hoch auf die Platte, weit genug vom Wasserkocher entfernt. Stellt sich davor, damit er nicht wieder runterrutscht, runterfällt, sich weh tut.
Das Wasser kocht wieder. Schnellt hebt sie ihn runter. Er protestiert, aber sie muss ja das heiße Wasser eingießen und das ist zu heiß, erklärt sie.
Er hängt an ihrem Bein. Sie konzentriert sich, bloß nichts daneben kippen, denn unter ihr steht ein verletzliches, kleines Kind. Sie muss sich gut konzentrieren, nicht zu hastig aus dem Wasserkocherschnabel raus in die Teekannenöffnung reinzukippen, ohne was zu verkippen. Keine heißen Tropfen, die daneben auf den Boden fallen, auf das Kind, das so viel noch nicht kann und so viel noch nicht weiß, von der Welt da draußen und so viel noch nicht versteht von der Welt, die auch ihre Welt ist, eigentlich, wenn er nicht krank ist.
Denn dann sind sie eine eigene Welt, eine Welt drinnen, auf dem Fußboden ihrer Wohnung, zwischen Puzzelstücken und heißem Tee, zwischen Fieberthermometer und gewichtigen Entscheidungen, zwischen schlechtem Gewissen und verdrängter Erschöpfung, zwischen nichts-tun und die ganze Welt-sein.
Und sie schaut auf, schaut hinaus aus einem Fenster und sieht die Welt an sich vorbeirauschen.
Manchmal den ganzen Winter hindurch.
Jahrelang.