Liebst Fin,
ich war gestern auf der Demo „100.000 Mütter“ in Berlin und möchte dir von meinen Eindrücken berichten.
Wie du vielleicht erinnerst, folge ich den Initiatorinnen dieser Demo schon ein halbes Jahr auf social media und ihrer Verbreitung des Themas mothering. Sie selbst definieren betroffene Personen als: Mütter.
Die zwei Autorinnen haben um ihre Buchveröffentlichung des Buches „Mütter. Macht. Politik.“ ein großes Netzwerk ins Leben gerufen, mit dem sie Betroffenen Unterstützung anbieten. Gleichzeitig plädieren und werben sie dafür, dass sich Menschen, die selbst nicht direkt vom mothering betroffen sind, um die Politik für Mütter kümmern sollen und müssen, weil diese selbst keine Kapazitäten dafür haben.
Das ganze sollte zu eben dieser gestrigen Demo gipfeln, zu der sie 100.000 Mütter vorm Brandenburger Tor versammeln wollten.
Um mir das anzusehen und als Betroffene zu erleben, was diese Initiative auf die Straße bringt, bin ich dorthin gefahren.
Es waren ein paar hunderte Menschen, viele mit ihren Kindern, ein paar wenige Väter und so gut wie keine nicht-aktiv-mothernde Person, die sich gegen 12 Uhr in Berlin am Monbijou-Park/Oranienburger Straße versammelt hatten. Im Laufe der Demo stieg die Zahl weiter an, bis zur Abschlusskundgebung wurden um die tausend Teilnehmenden genannt.
Schön war die weltübergreifende Message, dass es weder um Herkunft, Nationalität, Schicht oder andere normierende Grenzen geht, sondern immer wieder die Gemeinsamkeit der Rolle als Mütter thematisiert, angeprangert und sichtbar gemacht wurde.
Leider wurde auch sehr deutlich, dass es weiterhin wenig Aufmerksamkeit für dieses Thema gibt, weder durch großzügige Budgets / Spenden oder Förder*innen, noch durch andere große, sich solidarisierende nicht-mothering-Vereinigungen, noch durch in Politik arbeitende Menschen, die sich für Mütter, für die Rolle mit ihren Zwängen, Repressionen und ihres ausgebeutet-Seins engagieren wollen würden.
Eine Offensichtlichkeit war schon im Vorfeld dieser Initiative klar benannt worden und hat sich mit der Demo gestern nicht verändert: Menschen IM mothering haben keine Kapazitäten, um neben der unbezahlten Care-arbeit auch noch Politik zu machen, obwohl es um eine große, eine riesige Bevölkerungsgruppe geht; eigentlich um eine Rolle, die jede Menschen betrifft. Denn, wie sagte bei der Kundgebung eine Rednerin: „Ich kenne keinen Menschen, der nicht durch eine Mutter auf diese Welt gekommen ist.“
Die Themen auf den Plakaten und Bannern richteten sich auf zwei zentrale Bereiche:
– die Phase der Geburt, zu der es inzwischen einige Initiativen gibt, um die weit verbreitete Erfahrung der „Misshandlungen im Kreissaal“ zu thematisieren, und um den Missstand an Versicherungszahlungen für selbstständige Hebammen bekannt zu machen, und
– die Phase der umfangreichen, aber unbezahlten Care-arbeit für das Heranwachsen eines Menschen in unserer Gesellschaft, die Ausbeutung von meist weiblich gelesenen Menschen im mothering über Jahrzehnte in einem Menschenleben.
Der Bereich der rechtlichen Entmündigung, die OhnMACHT, wenn es um strukturelle Entscheidungen geht, die viele unter Gewalterfahrung leidenden, weiblich gelesenen Personen im mothering machen, war nicht so deutlich sichtbar, aber durch eine Initiative durchaus auch vertreten.
Eine Demonstrationsteilnehmerin zum Beispiel benannte es inhaltlich so: dass das Sorgerecht in Deutschland noch immer vor dem Strafrecht steht, damit meinte sie: auch wenn eine Mutter von dem Vater der gemeinsamen Kinder zu Brei oder / und Krankenhausreif geschlagen wird, hat dies keine Auswirkungen auf sein Recht und seine Macht über die gemeinsamen Kinder und, und das fand ich besonders erschreckend bemerkenswert, er behält weiterhin die Macht über ihr Narrativ, über ihre Geschichte und Perspektive auf die Gewalterfahrung(en), was die Öffentlichkeit angeht.
Die Rechtslage und auch die gelebte Realität mit Institutionen und Öffentlichkeit hat sich sogar verschlechtert für weiblich gelesene Personen im mothering und für die Kinder.
Von in Jugendamtarbeitenden und mit dem Jugendamt zusammen arbeitenden Menschen höre ich immer wieder, dass sich die institutionelle Praxis und Rechtslage dahingehend entwickelt hat und weiter entwickeln wird, dass rechtliche Väter immer mehr Macht über Kinder und Ex-Partner*innen bekommen, was ihren Wohnort, ihren Bewegungsraum und ihr Narrativ an Familiengeschichten angeht.
Ein typisches Zeugnis für den Präfaschismus, würde ich sagen, wenn ich daran denke, wofür meine Oma noch das Mutterkreuz verliehen bekam.
Diese Erkenntnisse im Hinterkopf war ich außerdem neugierig, welche Personengruppen und Initiativen auf der Demo vertreten sein würden oder womöglich stören würden. Rechtspopulismus habe ich nicht wahrgenommen. Durch die Route waren wir allerdings eine touristische Attraktion an diesem Samstag.
Was diese Initiative und diese Demo auf jeden Fall gebracht hat und weiter leistet, ist, dass es Netzwerke gibt und dass Kontakte hergestellt wurden und weiter werden.
Trotzdem bezweifle ich sehr, dass diese in den nächsten Jahren eine tatsächliche Alternative, eine Macht auf die Beine stellen können, die vor den Ohnmachtserfahrungen und weiteren Misshandlungen schützen wird. Sie können vielleicht auffangen und Leid und Erfahrungen teilbar machen und halten. Es wird Zeugnisse geben, Zeugnisse für irgendwann, wenn Menschen wieder fühlen wollen.
In diesem Zuge möchte ich noch eine andere gesellschaftliche Strömung betrachten, die mich bisher verzweifeln ließ, aber von den Initiatorinnen als hoffnungsvoll interpretiert wurde: Die sich verschärfende Rechtslage gegen weiblich gelesene Personen im mothering, das Erstarken einer machtvolleren, patriarchalen Rolle und die zunehmende Gewalt in Familien in Deutschland und weltweit zeigen auch, dass die Forderungen der marginalisierten Gruppen doch Wirkung zeigen, dass sie auch eine Bedrohlichkeit für die patriarchale Gesellschaftsordnung haben, dass sie vielleicht doch ernstgenommen werden müssen.
Und dies ist nicht nur sichtbar anhand ausgelagerter Beispielen wie Kolumbien, wozu ich just heute Morgen, zum Muttertag, einen Beitrag von Zeit online als Podcast gehört habe. Darin wurde aufgezeigt, dass gerade zum Muttertag die Gewalt gegen weiblich gelesene Menschen drastisch zunehme.
Ich möchte dazu unbedingt anmerken, denn das fehlte in dem Beitrag: Das ist nicht nur irgendwoanders so, – der bürgerliche Faschismus blickt ja äußerst gerne tandelnd auf´s Ausland – dass die Gewalt gegen Frauen, Mütter, Töchter, FLINTA*s zunimmt, sondern auch hier, direkt nebenan, in unseren für privat deklarierten und als harmlos normal bezeichneten Familien- und Partnerschaftskonflikten.
Der Böschungsbrand an mehreren Stellen auf meiner Strecke, heute zurück nach Hause, verzögert meine Zugfahrt gerade um Stunden. Irgendwie passt das mal wieder seltsam stimmig zu meinen Gedanken und Eindrücken, die ich hier mit dir teile.
Ich habe die Zeit genutzt und eine Skizzenreihe über die Krähenmama entwickelt – mein Erbe der Rabenmütter aus der 68´iger Generation, das ich mit meinen Lebenszeiterfahrungen wieder neu definiere.
In diesem Sinne fliege ich zurück nach Hause und schicke dir flammende Grüße.
Herzlichst
Nena
2. Brief: Im Namen der Sicherheit
5. Brief: Suizide auf den Gleisen – Morde an den Grenzen
6. Brief: Neu definiert: besser „gesund“ als bedürftig, lieber tot als krank