Liebst Fin,
ich muss dir unbedingt noch etwas dazu schreiben, was mich mal wieder massiv angesprungen hat in letzter Zeit; eine Wahrnehmung, die nicht ganz neu ist, aber an individueller Schärfe nochmal zugenommen hat diesen vergangenen Winter.
Ich brauchte wegen einer Frage zu den Paukenröhrchen meines Kindes zeitnah eine medizinische Auskunft.
Als ich nach einem Vormittag Telefondienst endlich jemanden in der Kinderarztpraxis an der Strippe hatte, wurde mir mitgeteilt, dass sie derzeit nur Notfälle behandeln können, weil sie massiv unterbesetzt sind. Hab ich schon gemerkt!
Also wurde ich an die HNO-Praxis verwiesen. Dort dauerte es mehrer Tage Telefonversuche, um einen Menschen zu sprechen.
Nichts ungewöhnliches, wie ich schon seit einer Weile mitbekomme.
Die Sprechstundenhilfe verpasst mir erstmal einen Anpfiff, dass die Paukenröhrchen im letzten Jahr alle 3 Monate hätten ärztlich kontrolliert werden müssen.
Zum Einsetzen der Paukenröhrchen vor über einem Jahr war es schon praktisch unmöglich gewesen, einen Termin zu bekommen. Wir waren damals bei vier Praxen vorstellig gewesen und hatten insgesamt ein drei viertel Jahr warten müssen, bis eine Institution die notwendige OP für mein Kind terminieren konnte.
Der Grund ist, dass die kassenärztlichen Leistungen soweit gekürzt worden sind, dass die Kosten für so eine Operation nicht mehr vollständg gedeckt werden und sich viele Ärzt*innen schlichtweg weigern, solche Operationen weiter durchzuführen in dem Umfang, wie es medizinisch und gesellschaftlich eigentlich notwendig wäre.
Denn viele Kinder leiden an einer Sprachunterentwicklung, weil sie nicht gut genug hören können. Aber da kann ein Kleinkind ja ruhig mal bis zu einem Jahr mit warten, egal ob die Einschulung mit Sprachdefizit ansteht oder ein erlebtes Zurückbleiben bei den regelmäßig vom Gesundheitssystem vorgeschriebenen Us (kinderärztliche Untersuchungen für Babys und Kleinkinder); soviel zu den Ansprüchen!
Insofern wäre es mir gar nicht möglich gewesen, diese regelmäßigen Kontrollen umzusetzen; aber klar, eigentlich im medizinischen Prozess vorgeschrieben; hab ich verstanden. (Ich war damals so glücklich gewesen, überhaupt eine Klinik, 40 Minuten Autobahn entfernt, gefunden zu haben, die diese OP zum Einsetzen der Röhrchen überhaupt durchgeführt hatte.)
Aber das alles sage ich der Sprechstundenhilfe am Telefon natürlich nicht, denn ich brauche ihr Wohlwollen für meine Frage.
Deshalb nehme ich auch den Termin, den Brocken, den sie mir zuwirft ohne Widerspruch – obwohl er natürlich mitten in Schul- und Arbeitszeit liegt – und voller Dankbarkeit an.
Was ich hier ausführe, ist inzwischen Normalität: ein Gesundheitssystem, das den westeuropäisch geborenen Menschen eine körperliche Gesundheit bis ins hohe Alter verspricht, aber durch marktwirtschaftliche Interessen soweit ausgebeutet wird, dass die darin arbeitenden Menschen dieses Versprechen für die anderen arbeitenden Menschen gar nicht mehr erfüllen können und die daraus entstehenden Defizite in jedem Haushalt, in jeder Familie, für jede Privatperson individuell ausgebadet werden müssen.
Und das macht natürlich etwas mit Menschen, wenn sie weiterhin Ansprüche erfüllen müssen, wie rechtzeitig Atteste für sich selbst oder die Kinderkrankentage (die übrigens nie ausreichen für zwei arbeitende Elternteile), weil es sonst Stress mit dem Arbeitgeber gibt. Oder wenn sie sich in einer medizinischen Unsicherheit empfinden, wie ich in meinem Beispiel, aber tagelang niemanden errreichen und sich mit der Klassifizierung beschäftigen müssen, was denn nun ein Notfall ist und was nicht.
Das macht etwas mit Menschen, es macht unsicher, es macht zusätzlichen Stress, es gefährdet die eigene Sicherheit auf dem Arbeitsplatz und / oder im eigenen Körper.
Eine Freundin, Krankenpflegerin auf der Intensivstation, wechselte jüngst Lebensort und Arbeitsplatz, ging in eine andere, eine sehr große Stadt. Neulich gestand sie mir, wie entsetzlich es ist, dass kaum ein Mensch dort die Intensivmedizin lebend oder ohne massive gesundheitliche Schäden verlässt, weil Prozesse und Protokolle vom Personal nicht mehr ausgeführt werden können, wie es dank der medizinischen Apparate aber notwendig wäre. Auf Warnsignale der Maschinen, wenn Produkte ausgelaufen oder leergelaufen sind, kann kaum noch ein Mensch reagieren, weil es zu wenig arbeitende Menschen im Verhältnis zu den durchgeführten Maßnahmen gibt, die der Nachbehandlung bedürften. Sie sagte: „Sterben die Menschen nicht direkt bei uns, sterben sie wenige Tage später auf Station, weil die Intensivbetten wieder freigemacht werden müssen, die laut Personalschlüssel sowieso schon über Kapazität belegt sind.“ Aber ein Krankenhaus muss ja wirtschaftlich bleiben.
Nach wenigen Monaten dort bemerkt sie an sich selbst eine „Verrohung“, eine Gleichgültigkeit, die sie bei ihren neuen Kolleg*innen schon beobachtet hatte, und nun an sich selbst auch wahrnimmt – eine Gleichgültigkeit, wenn sie in der Pause sitzt und die Geräte Warnsignale piepen hört.
Die Menschen können nicht mehr, sie können nicht mehr mitfühlen, sie stumpfen ab aus Selbstschutz und dauerhafter Überforderung.
Eine compassion fatique greift um sich.
Ein schönes, naja schön, ein eindrucksvolles Buch kann ich zu diesem Begriff übrigens sehr empfehlen von Mareike Fallwickl: Und alle so still (2024).
Mensch kann nicht mehr wahrnehmen, mensch kann nicht mehr fühlen, mensch kann nur noch irgendwie funktionieren, den Job machen, und hoffen, dass mensch selbst nicht bedürftig wird.
Du hast diesen Eindruck mal in einem etwas anderen, aber psychologisch ähnlichen Kontext benannt als: „selbstverletzende Betriebsamkeit“.
Diese ist derzeitig besonders gefährlich für das Individuum, denn wenn du medizinisch oder psychologisch definiert „zusammenklappst“ oder auch nur ein wenig fachliche Unterstützung bräuchtest, gibt es da zwar einen Anspruch, ein Versprechen des Gesundheitssystems an den westeuropäisch geborenen Menschen, aber dieses wird nicht (mehr) eingelöst. Ich sagte nach dem Gespräch zu meiner Freundin, dass ich hoffe, niemals bedürftig ins Krankenhaus zu müssen.
Sorgen, Ängste, Sicherheitsverlust bei gleichzeitig erhöhten Ansprüchen individuell zu verarbeiten, ein wunderbarer Nährboden für unsere politische Zukunft.
Seit der letzten Pandemie hat sich der Abschlussgruß „Bleib gesund!“ ja breitgemacht, und war mir schon damals massiv unangenehm, jetzt verstehe ich noch deutlicher die Botschaft dahinter: „Werd nicht bedürftig!“, „Funktionier unbedingt weiter!“.
Aber ich fühle lieber weiter…
Herzlichst umarmt Dich
Deine Nena