vonfrida 21.03.2025

Frida, ich und du

Intimer Umgang mit Schmerz und Leid des Menschen in ihrer jeweiligen Rolle: Sozialisation, mothering, Feminist

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Liebst Fin,

ich sitze im Zug nach Süddeutschland und lese deinen letzten Brief über die Verschärfung des Rassismus in Deutschland. In meiner Wahrnehmung liegt dem zunehmenden Rassismus eine Bewertung von Menschen zugrunde, eine Entwertung von Menschen ohne deutschen Pass, und eine Abstumpfung von Menschen mit deutschem Pass gegenüber Leben und Tod, gegenüber menschlichen Existenzen.

Schon beim ersten Halt nach meinem Startbahnhof standen wir zeitlich ungewiss, weil sich „unbefugte Personen auf den Gleisen“ befanden. Zu meinem Glück dauerte diese Unterbrechung nur eine halbe Stunde. Der Zugführer benannte das Ereignis als Suizid-Versuch, als unser Zug wieder anrollte.

Da wurde also ein Mensch von den Gleisen „gerettet“, während wir anderen Menschen teilnahmslos im von ihm/ihr auserkorenen Werkzeug seines/ihres Selbstmordversuches saßen und uns hauptsächlich darum sorgten, ob wir unsere Anschlüsse noch rechtzeitig erreichen würden.

Ein Mensch beschließt aus Gründen das Ende ihrer Teilhabe an dieser Gesellschaft in dieser Welt und wird dadurch Teil einer Gemeinschaft, die für ihr Weiterleben nur so viel Interesse hat, wie es ihre Reisepläne weniger verzögert, wenn ihr Versuch Erfolg gehabt hätte.

Die Reste wegräumen, Spurensicherung, traumatisierter Lockführer, Tatortreinigung usw., das alles dauert länger, als einen lebenden Menschen vom Gleis zu pflücken und in Polizeigewahrsam zu nehmen; welch ein Glück für uns.

Ich habe gehört, dass es besonders beliebte Selbstmordstrecken gibt. Zwischen Köln und Bonn liegt eine; nun weiß ich, dass auch zwischen Nienburg und Hannover eine liegt. Gut zu wissen.

Ob wohl eine(r) meiner Mitreisenden auch darüber nachdenkt, warum dieser Mensch versucht hat, sich das Leben zu nehmen?

Mir schießt sofort Verzweiflung durch den Kopf als Grund. Und gleichzeitig ein warmes Mitfühlen, ein verstehendes Nicken, diesen Zweifeln Einhalt zu gebieten, ihnen eine Ende setzen zu wollen. Das hat nicht geklappt, im Gegenteil wird es jetzt alles noch komplizierter, vermute ich.

Suizide und Versuche sind bei der DB Alltagsroutine geworden. Die Menschen sterben im Mittelmeer und in den Auffanglagern an den Grenzen Europas und sie erliegen der Verzweiflung ganz nah, auf der Strecke nach Hannover, heute Morgen, an einem Freitag, kurz bevor das Wochenende beginnt. Ein wichtiger Unterschied dabei ist, eine Wahl zu haben.

Es könnte mich beinahe Milde stimmen, dass von diesem Selbstmordversuch genauso wenig Notiz genommen wird, wie an dem Mord der vielen, vielen anderen Menschen an den Grenzen Europas, bei denen das unterscheidende Kriterium ist, dass es sich um nicht würdige Menschen handelt; nicht würdig im Sinne eines deutschen Passes.

Mit einem Suizid-Versuch gehörst du anscheinend zu einer ähnlichen Kategorie an unbedeutendem Leben oder Sterben, eine genauso unbedeutende Existenz. Aber du gehörst nicht zur Selben, denn dein Polizeigewahrsam sieht sicherlich anders aus, als wenn du ohne deutschen Pass aufgegriffen wirst.

Aber auch du gehst unter im selbstverletzenden Alltag der Teilnahmslosigkeit; bloß nicht zu viel wahrnehmen; bloß nicht zu viel fühlen, denn es könnte mich ja etwas berühren von der Verzweiflung.

Denn die Verzweiflung ist es auch, die Menschen an die Grenzen schwemmt; die Verzweiflung, leben zu wollen, aber nicht zu können, wo sie geboren wurden.

Nach den letzten politischen Entwicklungen, unter anderem dem, was du aus dem Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD herausgezogen hast, wird dieses nicht-Wahrnehmen von Negativität zunehmen, denn die Entwertung von Menschen greift weiter umsich, mit diesem Papier wird es wieder mehr zum deutschen Recht.

Übrigens finde ich es bemerkenswert krass, dass dieses Sondierungspapier ausgerechnet am 8. März ausgehandelt wurde. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die aufgrund ihrer Geschlechtszuschreibung Entwerteten auf die Straßen gegangen sind. Soviel zur Bedeutung dieser Menschen im Präfaschismus.

Während ich weiter in Richtung Süddeutschland im Werkzeug für deutsche Selbstmorde über die Schienen rumpele, denke ich an die aufgedunsenen, angeschwemmten Leichen der Menschen, die leben wollten.

Menschen, deren Wert zu leben ihnen aber von Menschen abgesprochen wird, die im selben Zug sitzen wie ich.

Ich grüße dich mit herzlicher Schwere

Nena

1. Brief: Wahlplakate 2025

2. Brief: Im Namen der Sicherheit

3. Brief: An Regeln halten

4. Brief: Lahmgelegt


Anmerkung der taz Blogs Redaktion: Haben Sie suizidale Gedanken oder machen Sie sich Sorgen um eine Person in Ihrem Bekanntenkreis? Eine Liste mit Hilfsangeboten finden Sie unter taz.de/suizidgedanken

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