vonHans-Peter Martin 22.10.2019

Game Over

Hans-Peter Martin bloggt über die globale Titanic der Politik und Wirtschaft – und wie es doch ein „New Game“ geben kann. Krieg oder Frieden.

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Die Ingen-Welt ist üblicherweise eine unaushaltbare. Balingen, Hechingen, Pfäffingen, bitte, bitte nein. Tüb-Ingen ist schon schwierig genug. „Nix gsagt isch gnuag globt“, und „Was ma hat, hat ma“, sind gelebte Glaubenssätze. Großzügigkeit macht verdächtig. Sich einladen lassen, aber nicht selber einladen, das gilt als Lebenskunst. Am besten auch bei jedem Kaffee. Kostenbefreite Parkplatzberechtigungen eignen sich als Thema für ellenlange Erörterungen bei Abendeinladungen. Der Bezug zum Geld ist das Maß fast aller Gespräche.

Und dann Villingen-Schwenningen. Schon der Name mündet in einer Zumutung, einem doppelten Ingen. Geiz ist die Vatersprache, Sturheit eine Tugend. „Du kannsch genauso gut ans Klavier naschwätze, das bringt gleich viel“, sagt an diesem Samstagmorgen eine Partnerin zu ihrem frisch Geliebten im „Oldtimerhotel“ in Unadingen nach einem Schlager-Konzert der „Papi’s Pumpels“ in Bräunlingen. Das liegt neben Döggingen. „Sauschwänzlebahn“ nennt sich die nahe Verbindung Richtung Süden. Na denn.

Robuste Alleskönner

Jetzt aber Donaueschingen am Ostrand des Schwarzwalds. Die Anreise über das schwäbische Epizentrum Stuttgart füttert schon das Klischee. In der Staatsoper der Landeshauptstadt beharrt die Angestellte an der Abendkassa, eine Karte für die Freundin des Bühnenbildners nur bis zu einer halben Stunde vor Vorstellungsbeginn bereitzuhalten und ausschließlich an die Begünstigte persönlich auszuhändigen. „Sie hat noch genau acht Minuten“, warnt sie ernsthaft. In Donaueschingen verweist der Kontrolleur auf „die Vorschrift“, wonach keinerlei Gepäck in den Aufführungssaal mitgenommen werden darf. Auch eine sichtbar leere, kleine Tasche im A4-Format ist nicht erlaubt. Einen Ermessensspielraum gäbe es nicht. „Da müsste man die AGB ändern“, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen.

In den Donauhallen nennt sich ein Großraum zwar „Bartók-Saal“, doch kein Parkettboden schmückt diesen „robusten Alleskönner“, sondern ein „schön geteerter Untergrund“, wie der praxisfreundliche „Schwarzwälder Bote“ schwärmt. „Darin finden weiterhin Viehmarktauktionen statt“, erklärt Björn Gottstein. In den ungeraden Monaten werden Fleckviehkühe versteigert, in den geraden Vorderwälderkühe.

In legendären Zeiten

Gottstein, Experte für Neue Musik,  leitet seit 2015 die Donaueschinger Musiktage, die im Oktober dieser Ingen-Welt voller Spießerstolz einen Klangzauber bescheren, der zu Recht Weltruf genießt. Der Dank gebührt zunächst dem Fürsten Max Egon zu Fürstenberg, „unter dessen Protektorate“ ab 1921 „der jungen Tonkunst in schwerer Zeit Förderung und Hilfe gebracht“ wurde, so die Gedenktafel neben dem „Mozart-Saal“. Wolfgang Amadeus Mozart war schon bei den Ahnen des Fürsten zu Gast. Igor Strawinsky und Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg, Karlheinz Stockhausen, aber auch John Cage und – logisch -Béla Bartók prägten mit ihren Uraufführungen das weltweit älteste Festival für Neue Musik.

Üppige Feste begleiteten die Konzerte „in legendären Zeiten“, erinnert sich Gerhard R. Koch, selbst eine Musikkritiker-Legende. Max Egons Nachfahre Fürst Joachim Egon tanzte auf dem Tisch und jodelte, bis, so die Fama, einiges im Schloss abhanden kam. Inzwischen fehlen auch die Zelte für die Empfänge im Schlossgarten. Die Fürstenbergs haben sich, obwohl zweitgrößte Waldbesitzer in Deutschland und hochadelig vernetzt, zurückgezogen. Das gegenwärtige Oberhaupt „Seine Durchlaucht Heinrich Fürst zu Fürstenberg“,  läßt sich mit dieser Bezeichnung im Programmheft aber weiterhin als „Schirmherr“ erwähnen. Im Hintergrund, so heißt es, sei die Familie, die inzwischen Süddeutschlands größte Anbieterin von Urnenplätzen ist, weiterhin aktiv. 

Umverteilung vom Feinsten

Längst sind jedoch Steuer- und Gebührenzahler die Hauptmäzene. Es ist Umverteilung vom Feinsten. Stipendien werden an junge Studenten der Komposition bis nach Seoul und San Francisco vergeben, der öffentlich-rechtliche Rundfunk SWR beauftragt die Uraufführungen und schickt zusätzlich zu seinem Symphonieorchester auch mehr als 100 Mitarbeiter vor Ort. Zusätzlich zur Viehmarkthalle (und zwei stets musiktauglichen Sälen) werden auch mehrere Schulsporthallen zu Konzertsälen umgerüstet, in historischen Gebäuden finden sich Klanginstallationen und Diskussionsforen. Zehn Hauptkonzerte an drei Tagen und Dutzende Sonderveranstaltungen brauchen Platz.

Ein Computer wurde mit 90 richtungweisenden Klavierstücken angelernt – und mit zehn schlechten, etwa Richard Claydermans „Ballade pour Adeline“. Mit Künstlicher Intelligenz statt als Kurator aus Fleisch und Blut wählte er dann unter 93 eingereichten Bewerbungspartituren die drei besten aus. „Ich hätte anders entschieden“, meint Festivalleiter Gottstein. Die Software „curAltor“ von Nick Collins entwickelte ihren eigenen Geschmack und bevorzugte flächige Musikstücke. Ein Konkurrent für bisherige Jurys, weil unbestechlich? Trend oder Spielerei? Wohl von allem etwas.

Der finanzielle Aufwand für die Donaueschinger Avantgarde summiert sich auf einen Millionenbetrag – bei lächerlich niedrigen Eintrittspreisen. Gutverdiener erhalten solcherart je Eintrittskarte ein Steuergeschenk in dreistelliger Höhe, Musiknerds mit geringem Einkommen finden sogar kostenlose Schlafplätze. Da Sitzplätze nicht reserviert werden können und die Orchestermitglieder sich immer wieder wie bei einem Surround-System im Raum verteilen, entwickelt sich eine eigene Intimität, die in den Konzerttempeln von Hamburg, Berlin oder Paris weder gewollt noch herstellbar ist. Adabeis tummeln sich nirgendwo, es fehlt ihnen die Bühne.

Kulturelle Klausur

Wer mit Neuer Musik noch fremdelt, kann sich hier anfixen. Aus der Nähe zuzusehen, wie zeitgenössische Komponisten zumeist jedes Instrument als kompletten Klangkörper begreifen und so etwa Harfen an deren Rahmen widerspenstige Kratztöne entlocken, wird zur packenden Hörhilfe. „Unterkomplex“ wird in diesem Rahmen als Kritik verstanden. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit und dem Alter mancher Festivalbesucher ist kaum je ein Hüsteln wahrnehmbar, so intensiv bündelt sich die Aufmerksamkeit. Man kann sich wie in einer kulturellen Klausur fühlen, mitten in einer Kreisstadt, die dem Wiederaufbau nach einem Großbrand im Jahr 1908 ein unerwartetes Zentrum voller Jugendstilgebäude verdankt. Für den Kulturjournalisten Koch sind die Donaueschinger Musiktage denn „keine Fachmesse, sondern ein Gesamtkunstwerk“.

Gesamtkunstwerk im Oktober 2019

Der Oktober 2019 liefert die Bestätigung – voller Klangfeuer, musikalischer Gesteinsbrocken und fruchtbarer Ton-Asche.

Wie in Vulkanen bebt, klopft, blubbert und poltert es. Entlang ungewohnter Klangsequenzen drängen sich neue Verben auf: Hummeln, Qurlen, Wurrlen, neben Quaken und Brummeln.

Die Polin Lidia Zielińska bezieht sich mit ihrem Stück „Klangor“ auf „alle Arten von Klappern, Stapfen und Knurren“. Dabei klingt zu geschmeidig für viele Besucher, unterkomplex wie die „Elemental Realities“ des Schweizers Jürg Frey und „Remember Me“ des Deutschen Gordon Kampe. Nein, das muss nicht sein.

Kantig bleibt hingegen der deutsche Schlagzeuger Christian Lillinger mit seinem „Open Forum for Society“. Musikalisch ist nicht auszunehmen, ob nicht auch er die „Offene Gesellschaft“ Karl Poppers fälschlicherweise mit einer funktionsfähigen „Gemeinschaft“ gleichsetzt.

Großflächig präsentiert sich das Klangforum Wien mit dem Spanier Alberto Posada („Poética del espacio“), übertroffen aber vom Dänen Simon Steen-Andersen. Er ist ein künstlerisch wertvoller Frechdachs, der das Orchester mit einem großen Chor und einer Bigband auftreten lässt und sie dann noch auf einer riesigen Videowand mit Archivaufnahmen ihrer Vorgänger konfrontiert. Da nicht improvisiert, sondern vom Blatt gespielt wird, erfordert dies höchste Präzision – und es gelingt. Bravo.

Eva Reiter aus Wien ließ sich für ihre „Wächter“ in einem Baumarkt 180 PVC-Rohre zuschneiden und mit einer kleinen Membran versehen. Wer hätte nicht schon einmal durch ein Rohr geblasen oder eines in der Luft geschwungen? Aber wenn ein ganzes Symphonieorchester dabei einer Partitur folgt? Die Musiker lassen sich, wenn auch sichtbar distanziert, darauf ein und schaffen so einen sanft-traurigen Klangteppich, der sich im Gedächtnis einnistet. Die Struktur liefern dazu Eva Reiter und Susanne Fröhlich an Kontrabassflöten. Schön, und erfrischend, produktiv mutig in brisant politischer Zeit.

Denn es fällt auf: Während sich der Klang neue Wege sucht, fehlen Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Gegenwart. „Manchmal brauchen die Komponistinnen und Komponisten einfach etwas länger“, beruhigt Festivalchef Gottstein.

Oder ist das eine Beschwichtigung? Der neue SWR-Intendant Kai Gniffke will nicht nur „sparsam wirtschaften“, sondern warnt, dass „die Spielräume in den nächsten Jahren sehr eng sein werden“. Darum gilt: ab ins Spießer-Hochland zwischen Freiburg und Konstanz, so lange Steuer- und Gebührenzahler noch mitspielen. Die Donaueschinger Musiktage sind ein großzügiges Geschenk für neugierige Ohren und ein wunderbarer, unablässiger Sinnesreiz, verlässlich schelmisch. Wann je sind nach anspruchsvollen Konzerten so viele beglückte Gesichter zu sehen? Das gelingt bei Freunden von Qualität und Niveau sonst fast nur mit exzellenten, süffigen Weinen.

Klischee-Brecher

Und auch in Schwaben lassen sich natürlich Klischees aufbrechen, bisweilen binnen Stunden. Einer mitten aus der so beengten Ingen-Welt, der Villinger Mario Mosbacher, ist Schulleiter des Fürstenberg-Gymnasiums und mit der Baar-Sporthalle einer der Quartiergeber der Festivals. Der studierte Physiker zeigt sich aufgeschlossen wie auch in Großstädten nur wenige Menschen.Ein Professor hat ihn geprägt: „Er war ein Spielkind, der immer gesagt hat: ‚Lass uns das probieren’, anstatt zwei Tage darüber nachzudenken, warum es nicht funktionieren kann.“ So erzählt Mosbacher empathisch von Musikstücken, die in seiner umgebauten Halle aufgeführt wurden, „wo Leute am Ende aufgesprungen sind, es hat sie fertiggemacht“. Ja wie, vor Empörung? „Nein, weil es sie so positiv gepackt hat.“

Selbst beim Ballett-Besuch in Stuttgart ließ sich die Dame an der Abendkasse erweichen, der Freundin des Bühnenbildners wenige Minuten vor der Aufführung doch noch eine Karte auszuhändigen.

Und in Donaueschingen wurde das Taschenverbot in den Sälen schnurstracks aufgehoben, auch ohne formelle Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Den Grund freilich lieferten die Gebührenzahler. Wären die Vorschriften eingehalten worden, hätten die Live-Übertragungen im SWR nicht pünktlich beginnen können. Das würde sich noch weniger mit dem schwäbischen Selbstverständnis vertragen.

Donaueschingen 2020 und 2021

Die nächsten Donaueschinger Musiktage finden vom 15. bis zum 18. Oktober 2020 statt. Neben dem SWR Symphonieorchester werden unter anderem das Ensemble Musikfabrik aus Köln und das Ensemble Talea aus New York zu sehen und zu hören sein. Insgesamt wurden wieder 20 Kompositionsaufträge vergeben.  Der Vorverkauf beginnt am 1. Juli 2020.

Die Konzerte sind oft Monate vorher ausverkauft, das wird erst recht für die Musiktage 2021 gelten. Dann wird das Festival 100 Jahre alt.

https://www.swr.de/swrclassic/donaueschinger-musiktage/swrclassic-donaueschinger-musiktage-100.html

In der SWR2 App sind alle Konzerte aus dem Jahr 2019 verfügbar, manches findet sich auch unter SWRClassic.de

 

Ein Lesehinweis: Hans-Peter Martin, „Game Over – Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?“, Penguin Verlag, München. Weitere Informationen: www.hpmartin.net

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