vongnu 12.01.2020

GNU – Literarische Grotesken

Damals wie Heute das zynische Lächeln über die menschliche Irrfahrt. | © Fabian Fox Fotografie

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Sprachmemo 23. DEZ. 2030
Unsere Technik ist mittlerweile sehr weit und ausgeklügelt.
Bei all dem Fortschritt verlieren wir schnell die Vergangenheit aus den Augen, das ist so üblich, wenn man sich mit der Zukunft befasst.
Wir dürfen jedoch nie unsere eigene Geschichte leugnen. Sie lehrt uns, dass ohne Vergänglichkeit in irgendeiner Form – jetzt mal abstrakt gesprochen – im prähistorischen Sinne, jedweder Fortschritt unmöglich wäre.
Und es ist gerade auch die Vergangenheit, die uns jederzeit wieder einholen kann und somit allen Fortschritt fürs erste ausradiert und zunichte macht. Das Schicksal ist hier äußerst teilnahmslos und von höherer Bestimmung und Gerechtigkeit befreit. Es spielt keine Rolle, ob wir darauf vorbereitet sind oder nicht. Hier kommt meine Figur ins Spiel.

Ich vergesse nicht die Ziffern, sehr ironisch, 08:08 Uhr. Definitives Signal, offizielle Bestätigung des Unausweichlichen. Der extraterrestrische Marschflugkörper 2048_88, ein bis dato unbekanntes Flugobjekt, befindet sich auf der Zielgeraden mit direkten Anflug zur Endstation Erde. Masse zu groß, Sprengkraft Hiroshima Hoch 200. Annahme des astrologischen Supergaus. Destination – 30. DEZ. 2030.

Sprachmemo 24. DEZ. 2030
Frohe Weihnachten. Der Christstern leuchtet hell am Gestirn. Ein Indiz für Gott. Irgendetwas wird passieren. Die Bibel sollte Recht behalten. Nach dem Waldbrand kommt der Ascheregen. Dünger für neues Leben. Wird es gedeihen? Es geht weiter. Wir machen Platz für die Evolution 2.0.
Erste Anweisungen liegen nicht in meinem Zuständigkeitsbereich. Das Pressewesen. Der Mantel des Stillschweigens. Nur nicht das öffentliche Zusammenleben gefährden. Die Angst vor der Massenpanik.
Wir brüten im operativen Einsatzteam fieberhaft nach Ausflüchten. Eine enge, global agierende Schnittstelle aus führenden Astrologen, Physikern und Wissenschaftlern, den höchsten Würdeträgern des Militärs mitsamt den Präsidenten höchstpersönlich wird geschaffen. Grenzen können also doch überwunden werden, plötzlich? Mir macht das Hoffnung. Ich wusste es die ganze Zeit. Es kommen nicht viele infrage. Ich kann meinem Versprechen und den Treueschwur, Taten folgen lassen. Meiner Position gerecht werden, nun da die Pflicht ruft.

Sprachmemo 26. DEZ. 2030
Mein vollkommenstes Weihnachtsfest. Positive Nachricht, wir überspringen glatt den Evolutionsknick. Es geht weiter. Alles wie zuvor. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit informiert alle zentralen Presseagenturen.
Botschaft; alles weiter wie zuvor.
Der Weihnachtsmann kommt auch 2030. Einzige Neuerung ist das vorgezogene Silvester. Die Explosion wird am nächtlichen Himmel deutlich sichtbar sein. Das ist der Teil des Deals und der Rat der Expertise. Der gregorianische Kalender beugt sich einem Ereignis mit Tragweite. Irgendwie komisch, dass gerade alles ausgerechnet in der Weihnachtszeit passiert. Wir feiern die Geburt des Messias. Künftig haben wir einen Grund mehr zum Feiern – unsere Neugeburt.
Ich nehme keine Drogen. Ich möchte meinen Triumph bei vollem Bewusstsein auskosten, möchte dabei wach sein.
Sie sagt, dass sie mich liebt. Das ist gerade alles so verrückt, dabei kenne ich sie kaum zwei Tage. Viele sparen sich das immer alles auf und vertagen das in die Zukunft. Doch was ist, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Sie haben keinen Sinn für die eigene Vergänglichkeit. Entsagte Entschleunigung. Die Leute denken es geht einfach immer so weiter und merken nicht, wenn es schleichend vorbei geht.
Der oberste Staatsanwalt konnte alles arrangieren. Ich muss nicht auf die Warteliste. Der Präsident ist unser Trauzeuge. Ich kenne ihn nur aus unseren gemeinsamen Sitzungen. Ich glaube, er hätte das Potenzial eines guten Freundes, bliebe uns doch nur mehr Zeit. Ich schätze seine ruhige und besonne Art. Mutter ist sehr stolz auf all die Ehren.

Sprachmemo 28. DEZ. 2030
Endlich kann ich mit meiner Liebe allein sein. Keine lästigen Termine mehr. Wir sind ungestört. Dafür sorgen die Gorillas vor unserer Suite. Sie beschützen uns und schirmen uns vor nervigen Fans und Verschwörern ab. Vielleicht bewachen sie auch mich. Nur für den Fall der Fälle, dass ich mir es doch noch anders überlegen sollte. Dafür ist es doch längst zu spät. Egal, was ich tue oder nicht, mein Schicksal würde identisch enden. Ich hatte meinen Entschluss gefällt und trete in Erscheinung. Ich hatte die bessere Wahl getroffen. Ich ficke sie, besorge es ihr die ganze Nacht. Ein Schuss wird schon auf die volle Acht gehen. Sicherheitsgedanken, ein Teil meines Erbgutes landet im Gefrierbeutel. Das war der Rat des präsidialen Leibarztes. Überall auf Nummer sicher gehen.
Als ich an ihrer Klitoris herumdoktere, sagt sie mir, wie sehr sie mich liebt. Mir kommen kurze Zweifel. Ich frage mich, wieso und mit was ich eine so tolle Frau verdient habe und ob ich jetzt auch neben ihr hier liegen könnte, wenn ich ein anderer wäre? Ich wische die lästigen Gedanken rasch beiseite. Ich bin ja kein Anderer. Ich bin doch genau der. Ich bin Ich.

Sprachmemo 30. DEZ. 2030
Die Mission beginnt. Ein letzter Fick und der Abschiedskuss.
Jetzt, da das Unausweichliche, unausweichlich ist, bekomme ich Probleme mit meinen flatternden Nerven. Ich habe kalte Füße und würde am liebsten zurückrudern. Verständlich, wem würde es anders ergehen in Anbetracht solcher großen Aufgaben. Ich glaube jedoch, wahre Größe wird nur durch die Überwindung der inneren Zweifel gekennzeichnet.
Ich bin Thomas Meyer, alles ist sicher, es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung. Meine Rakete wird um 20:58 NY-Ortszeit auf den Asteroid treffen und das Zerstörungspotenzial in einer kontrollierten nuklearen Sprengung eliminieren.
Wieso kein neues Kapitel in der Geschichtsschreibung aufmachen. Mal etwas positives. Alle Märtyrer waren tragische Helden. Ich sehe mich nicht als Held. Ich bin besorgt, über meine Frau, meine ungeborenen Kinder und Enkel.
Ich gebe eine letzte öffentlichkeitswirksame Botschaft. Alle Kameras blitzen grell auf. Ein Statement für die Ewigkeit.
»Schützt unseren Planeten für die künftigen Generationen. Schützt mein Vermächtnis. Ich bin ein Mensch. Erhaltet ein lebenswertes Ökosystem, das uns allen die Basis zum Leben gibt.«
Danke. Ich winke ab, zu meiner Gefühlslage möchte ich keine Auskunft geben. Die Gorillas verhindern schlimmeres, ich bin froh, dass ich sie jetzt habe. Endlich geschützt. Der Operationsleiter gibt mir die letzten Instruktionen. Wir sprechen den gesamten Ablauf noch einmal bis ins letzte Detail durch. Sie pflanzen mir einen Chip ins Ohr. Ich bin nicht allein, wenn es soweit ist. Ich höre die ruhige Stimme des Operationsleiters in meinem Kopf. Alles wird gut, ich weiß es. Kurz ärgere ich mich noch über die Unrelevanz der Klatschpresse. Es musste sich noch einiges verändern, doch dafür blieb ja jetzt noch etwas Zeit. Ich spüre den gigantischen Druck des immensen Feuerstrahls in meinem Körper als die Rakete startet, jede Sehne vibriert, die Wände des Raumschiffs beben und wackeln. Das war der Start. Ich erinnere mich an meinen ersten Passagierflug. Ich liebe das Gefühl des Startens, das Beschleunigen auf der Landebahn, das kurze Abheben, erneute einknicken und aufprallen der Reifen und der anschließende Höhenflug. Das konträre Gefühl nach unten zu fahren, das sich dabei einstellt, wenn der Magen einige Zoll nach oben rutscht und das wärmende Adrenalin, das sich allmählich im Körper ausbreitet und sich dabei, wie die beste Droge der Welt anfühlt. Ich sehe am Display die berechnete Flugzeit. Laut Simulation ist die Detonation in 2:17 h. Wir sind live im Stream, die Gesellschaft liebt doch das Spektakel über alles. Sie brauchen Helden zum Anfaßen. Helden, die es wirklich gibt. Das ist besser wie Kino.
Einige Eindrücke schießen durch meinen Kopf. Ich habe noch etwas Zeit um nachzudenken, viele Erinnerungen. Ich schirme mich ab, möchte niemanden hören, keine Glückwünsche, nur den Operationsleiter, der hin- und wieder den Zeitplan durchtaktet. Kostbare Lebenszeit. Sie vergeht langsam. Ich genieße es, den letzten Dauerlauf, das Ende eines Marathons, das Leben auf der Zielgeraden. Die ganze Last fällt ab. Ich genieße nun alles, das Leid und der Schmerz sind passé. Ich muss an mein erstes Referat in der Schule denken. Ich war so aufgeregt, wäre damals am liebsten daheim geblieben, doch, sobald ich das Wort erhob, löste sich alles auf. Jetzt war es genauso. Spannend, dass so vieles im späteren Leben, doch bereits in der Kindheit fußt.
Ich würde gleich sterben. Es ist eine bewusste Entscheidung. Ich hatte abgewogen. Mein Verhängnis, ich würde kein Niemand sein, niemals, solange der Zirkus da unten noch weiterging. Sterben würde ich so oder so. Ausweglos und definitiv, doch so konnte ich Spuren hinterlassen. Meine Kinder würden es ein Leben lang gut haben, eine neue Erbschaftslinie. Spuren hinterlassen. Der einzige Antrieb des Menschen.

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