Von Dirk Knipphals
Katrin Bettina Müller war zuerst fast zwanzig Jahre lang eine freie Autorin der taz und dann gut zwanzig Jahre Redakteurin der taz, zuständig für die Bereiche Theater und Berlin-Kultur in der Kulturredaktion. Mehrere tausend Artikel hat sie in der Zeit geschrieben, viele Autorinnen und Autoren betreut. Nun geht sie als Redakteurin in Rente, als Autorin wird sie der taz erhalten bleiben. Ihr Kollege Dirk Knipphals hat auf ihrer Verabschiedung in der taz die Abschiedsrede gehalten. Hier ist sie. Viele Kolleg*innen in der taz haben Katrin Bettina Müller als leise Kollegin wahrgenommen. Sie war aber, wie Dirk Knipphals betont, auch sehr beharrlich und sehr bestimmt in dem, was sie journalistisch wollte.
Anfang September des Jahres 2004 schreibt Bettina über Pina Bausch. –
(Zu den kleinen Lustigkeiten, ein Kollege von Bettina zu sein, gehörte es, dass ich ein paar Jahre lang nicht genau wusste, wie ich sie ansprechen sollte. Katrin? Bettina? Katrin Bettina? Kbm? Ich habe mich irgendwann für Bettina entschieden – und dabei ist es dann geblieben.)
Also. Anfang September des Jahres 2004 schreibt Bettina über Pina Bausch. Sie hatte schon vorher über sie geschrieben. Sie hat auch nachher über sie geschrieben, zum Beispiel 2009 den dann fälligen Nachruf. Aber bleiben wir bei dem Artikel aus dem Jahr 2004. Wer über Bettina reden will, muss eben auch über Tanz reden. Und hier kann man ein bisschen ihre Besonderheit, ihre Handschrift entschlüsseln.
„Pina Bausch ist … mütterlich geworden“
An Pina Bausch ist Bettina 2004 etwas aufgefallen, nach einigen Vorbemerkungen setzt damit ihr Text ein: „Pina Bausch ist … mütterlich geworden“, so steht es irgendwie staunend da, mit drei Pünktchen vor dem Wort „mütterlich“, weswegen man vor diesem Wort beim Lesen automatisch eine kleine Pause setzt. Und der nächste Satz lautet: „Kaum traut man es sich zu sagen, so wenig gilt diese Eigenschaft als künstlerische Qualität.“ Was stimmt. Da ist was Uncooles. Die mütterliche Pina Bausch wird man kaum als Avantgarde, als Revolutionärin des Tanzes noch in der taz verkaufen können. Wie dann?
Anlass für den Text war ein Gastspiel der Wuppertaler Compagnie in Berlin. Es gab auch eine Pressekonferenz, die Bettina besuchte und auf der sie Pina Bausch zuhörte, ihrer „langsamen Wuppertaler Diktion, die so erdig und gemütlich klingt“. Man merkt dem Text den Respekt vor der Aufgabe an, der großen Pina Bausch gerecht zu werden, und das in einer Zeitung wie der taz, in der – sagen wir es so: die Berichterstattung über Tanztheater nicht zum zentralen Markenkern gehört.
Bettina macht im Fortgang des Textes zwei Schritte. Der erste ist ein negativer Schritt. Das aktuelle Stück von Pina Bausch, schreibt Bettina, „ist weit entfernt von kriegerischen Spannungen, ökonomischen Krisen, kulturellen Identitätsverlusten, kurzum: von allen Schlagworten einer aktuellen Situationsbeschreibung“. Und damit, kann man anfügen, auch weit entfernt von so ziemlich allem, was auf den vorderen Seiten der taz üblicherweise behandelt wird – Krisen, Spannungen, Verluste -, und auf den ersten Blick auch von dem, was gemeinhin Diskurs genannt wird.
Leise und beharrlich
Es ist tatsächlich im nachhinein fast ein bisschen verblüffend zu sehen, was Bettina hier in einer leisen und beharrlichen Art macht. Klar, das liegt jetzt etwas neben dem Talk of the town, sagt sie, aber schaut doch mal über euren Tellerrand, macht eure Augen auf und nehmt etwas wahr, es lohnt sich. Das sagt sie nicht explizit, aber es schwingt doch mit.
Und dann kommt der zweite, der positive Schritt, nämlich das, was man denn in dem Stück wahrnehmen kann. Ich zitiere jetzt etwas länger, und ich kann nur hoffen, dass ich den Sound dieser Beschreibungsprosa einigermaßen flüssig rüberkriege:
„Menschliche Energie verschwendet sich in vielen kleinen Hilfeleistungen. Arme von Umarmungen bleiben in der Luft stehen, auf dass andere dahinein wie in ein Hemd schlüpfen können. Vier Männer rollen einen Schrank herein, auf dem dann eine Tänzerin mit gespitzten Lippen auf Küsse wartet, für die die Tänzer sehr, sehr hoch springen müssen. Je zwei von ihnen begleiten gebückt den Gang einer Frau, um vierhändig ihren Rocksaum wie von Wind zu bewegen. Sechzehn Frauenhände greifen tröstend nach einem Mann, der in seinem Solo zuvor das Abrutschen, Fallen, Leerwerden, Weggleiten, Zusammenklappen geübt hat. Fast könnte man sagen, dass sich dies Stück in einem tröstlichen Zärtlichkeitsrausch ergießt.“
Das ist ganz schön, oder?
Viele starke Verben. Wenig Substantivierungen. Keine Floskeln. Wichtiger als die Einordnung und das Urteil ist diesem Text erst einmal die genaue Beschreibung und ein ganz kleines Bisschen auch das Glück des Schwelgens im Beschriebenen.
Über journalistische Gegenwartsbeschreibungen hinaus
Als ich im taz-Archiv nach möglichen Stellen für diese Rede gesucht und das hier gefunden habe – man könnte viele andere Beispiele nehmen, Bettina hat ja wahnsinnig viel geschrieben -, da habe ich gedacht: Hier hat Bettina als Autorin kurz die Handbremse gelöst. Bei allem Sinn für Gefühle bleibt die Beschreibung aber auch exakt. Man kann den Willen heraus- und das Können hineinlesen, dem Leser, der Leserin wie in einer Flaschenpost zu vermitteln, was schön war beim Anschauen dieses Tanztheaterstücks. Und was dann eben auch den Horizont erweitert, über Schlagwörter der politischen und überhaupt journalistischen Gegenwartsbeschreibungen hinaus.
Und gleichzeitig wird an dieser Stelle auch klar, wie Bettina Pina Bausch gerecht werden wollte. Eben nicht, indem sie leer und abstrakt ihre Bedeutung behauptet. Sondern indem sie den tanzenden Körpern zuschaut und das beschreibt, was diese tanzenden Körper erzählen. Und hier lohnt sich dann der zweite Blick auf das Verhältnis von Tanztheater und Diskurs. Körper auf der einen Seite – Diskurs, Intellekt auf der anderen Seite – oft wird das in unserer Tradition als Gegensatz behandelt. Aber hier ist es das eben nicht. Es sind die Körper, die erzählen. Und Bettina ist dabei und schreibt das auf.
Bettina ist zuerst zwanzig Jahre lang freie Autorin der taz gewesen und dann gut zwanzig Jahre lang Redakteurin für die Bereiche Theater und Berlinkultur. Sie hat also ein ganzes Arbeitsleben lang für die taz abends in Theatern gesessen. Sie hat sich auch um viele andere Themen gekümmert – Ausstellungen besprochen, Künstlerinnen porträtiert, auch Bücher vorgestellt und rezensiert, sie hat auch sogenannte freie Texte geschrieben usw. -, aber gerade bei ihren Texten übers Tanztheater wurde immer wieder auch klar: Das war natürlich mehr als ein Job.
Was treibt sie an?
Woran bemisst man eine Kulturautorin und eine Kulturredakteurin? Da sind die Themen, die Meinungen, die sie abdeckt, die Namen, die sie anbringt, das Hintergrundwissen, das sie teilt. Aber das ist nicht alles. Da ist auch noch das Eigene einer Person, das was nur sie einbringt, die Handschrift, das, was man selbst gar nicht richtig steuern kann, weil man das ein Stück weit mit ganzer Person ist. Dieses Eigene ist extrem wichtig bei Kulturredakteur*innen. Es muss da sein. Und da gab und gibt es eben viel bei Bettina, nicht zuletzt die Bereitschaft, immer wieder neu hinzuschauen.
Ich hab mich jetzt gefragt: Was treibt sie an? Was erfährt sie an den Abenden, in denen sie im Dunkeln eines Theaters im Publikum sitzt und Schauspieler*innen, Tänzer*innen, anderen Menschen bei ihren Aufführungen zusieht?
Neben dem Text zu Pina Bausch bin ich im Archiv auf Bettinas Porträt des Schauspielers Bruno Cathomas gestoßen. Bettina erzählt darin, wie Cathomas im Rahmen einer Performance über die Bibel einmal Gebote an die Zuschauenden formuliert hat.
Eines dieser Gebote lautet: „Liebe deinen Schauspieler wie dich selbst“. Das sagt also Cathomas. Und es ist Bettina, die trocken anmerkt: „Als ob wir das nicht immer schon täten, in dem Moment, in dem das Spiel beginnt.“
Liebe und Dankbarkeit gegenüber den Schauspielern
Hier ist die Handschrift. Das ist irgendwie ganz Bettina, scheint mir. Dieses Trockene. Und zugleich das Herzblut. Liebe deinen Schauspieler wie dich selbst. Darum geht es ihren Texten eben auch: um menschliche Regungen.
Pina Bausch hat Bettina in ihrem Porträt von 2004 „fürsorgliche Großzügigkeit“ attestiert. Das kann man in vielem auch auf sie selbst anwenden. Und das schließt neben Erkenntnis eben auch Liebe und Dankbarkeit den Schauspielern gegenüber mit ein. Und den Lesenden gegenüber?
Wenn das Spiel zu Ende war, ist Bettina nach Hause gegangen. Sie hat drüber geschlafen. Und am nächsten Vormittag hat sie darüber geschrieben. Bettina hat als Redakteurin auch viele andere Dinge gemacht. Sie hat die Berlinkultur geplant und bestückt. Sie hat viele Seiten produziert, Autor*innen betreut usw. Aber sie war eben auch selbst Autorin.
Es ist nicht leicht, über Tanz zu schreiben. Man muss die Flüchtigkeit dieses Gegenstands erhaschen. Man darf ihn dabei nicht festnageln. Es gibt die Gefahr, zu seicht zu werden. Es gib auch die gegenteilige Gefahr, mit Worten zu dick aufzutragen und das konkret Gesehene hinter den Schlagworten unsichtbar zu machen.
Manchmal hat man, wenn man ihre Texte nachliest, den Eindruck, dass ihr selbst mulmig dabei wird, etwas beschreiben zu müssen. „Alles schlingert, die Körper, die Gedanken, der Text“, so fängt dann zum Beispiel ein Abschnitt an. Manchmal hat man den Eindruck, dass sie all ihren Mut zusammennehmen muss, um etwas zu beschreiben, doch das macht sie dann eben auch immer.
„Jede ausgehandelte Tanzkritik ein kleiner Triumph“
Aus dem Schreiben hat sie nie ein großes Drama gemacht. Gut, sie hat einem schon erzählt, wann es ihr auch schwerfiel, einen Text zu schreiben. Aber schließlich war immer ein Text da. Im Zweifel ist sie pragmatisch. Gut ist ein Text, wenn er funktioniert, in dem Sinne, dass er flüssig gelesen und verstanden werden kann.
Als das Tanzfestival Tanz im August, das Bettina seit seiner Gründung für die taz begleitet hat, 30. Jubiläum feierte, 2018 war das, hat Bettina selbst einmal eine Bilanz ihres Schreibens gezogen. „Überhaupt, das Schreiben über Tanz, es hat einen Teil meines Berufslebens ausgemacht. Dafür überhaupt Platz zu bekommen. Gegen die Vorhaltungen von Kollegen anzuschreiben, dass Tanzkritiken gefühlig oder kitschig seien oder doch immer dasselbe darin stünde. Zwanzig Jahre lang freiberuflich unterwegs, war jede ausgehandelte Tanzkritik auch ein kleiner Triumph.“ Und das hat sie in den zwanzig Jahren, in denen sie Redakteurin war, dann nicht vergessen.
Diese Wendung „kleiner Triumph“ finde ich interessant. Das Leben eines Kulturredakteurs, einer Kulturredakteurin ist ja tatsächlich manchmal etwas seltsam. Man sitzt von außen betrachtet einfach nur am Bildschirm und erlebt tatsächlich aber innerlich kleine Bearbeitungsdramen, manche Planungsniederlagen, aber eben auch seine kleinen Triumphe. Ich musste ein bisschen lachen, als ich das jetzt bei Bettina wieder las. Manche in der taz würden Bettina bestimmt als „leise“ oder „zurückhaltend“ beschreiben. Ich sehe das ein bisschen anders. Hinter dieser Zurückhaltung steckt viel Kraft, auch ein bisschen Trotz oder so was wie: Na, wollen doch mal sehen. Und ich glaube, ich bewundere Bettina wirklich ein bisschen für die stille Beharrungskraft, mit der sie da bei sich blieb und bleibt.
Bettina und der Tanz
Das ist natürlich auch taz. Es ist ja immer ein bisschen ahnungslos, wenn jemand meint die taz als homogenen, womöglich gar gesteuerten Haufen beschreiben zu müssen. Tatsächlich besteht die taz aus vielen einzelnen, sich teilweise überlagernden, teilweise nebeneinander stehenden, teilweise auch gegeneinander stehenden einzelnen Projekten. Man kann in der taz sein Ding machen, aber das muss man dann eben auch selbst machen, manchmal ohne viel Unterstützung und Anerkennung.
Bettina hat es gemacht und macht es noch. Eine ganze Reihe dieser kleinen Projekte sind mit ihrem Namen verbunden. Die Chiffre Tanz steht da für viele weitere wie die Entdeckung weiblicher Künstlerinnen in diversen Jahrhunderten, die Berlinkultur, die Förderung von Berufsanfängerinnen usw.
Vieles davon hätte nicht so sein müssen, wie es dann war – es hätte auch ganz anders sein können – doch es war und ist so, weil Bettina da war. Und es wird anders sein, wenn sie nicht mehr da sein wird. So ist das eben.
Bettina hat nicht nur über Tanz geschrieben, sie hat auch selbst getanzt. 2017 schreibt sie über den Tanzkurs, den sie besucht hat, in einer Tanzschule, mit Tanzlehrer, ganz klassische Paartänze, langsamer Walzer, Rumba, solche Sachen. Der Text erzählt unter anderem davon, dass die Frage, wer führt und wer folgt, sich längst von den Geschlechterrollen unabhängig gemacht hat – und dass sie aber selbst zunächst einige Schwierigkeiten hatte, bis sie ihre Rolle als Folgende ganz ausfüllen konnte. Zunächst war sie überzeugt, besser tanzen zu können als der Führende, schreibt sie, doch dann entdeckt sie, dass ihr „in seinem Arm viel mehr vom Tanz wieder einfällt als ohne ihn“. Und sie sagt, das seien „kleine Glücksmomente, ein Anfang vom Gefühl des Schwebens“.
Teamplay zwischen Führen und Folgen
Das Verhältnis von Führenden und Folgenden in der taz ist verwickelt. Bettina hat sich – etwa als sie stellvertretende Ressortleiterin war – oft persönlich sehr zurückgenommen und in den Dienst der Gruppe gestellt. Gleichzeitig hat sie, ohne es groß raushängen zu lassen, ihr Ding auch ziemlich konsequent im Rahmen der jeweiligen Gegebenheiten durchgezogen. Es hat da immer beide Seiten gegeben: die Teamspielerin und die Autorin mit eigener Agenda.
Der Text über den Tanzkurs endet mit einer „Weisheit“, die sie dem Tanzlehrer zuschreibt: „Die Führenden haben die Aufgabe, die Folgenden gut aussehen zu lassen. Und umgekehrt.“ Ich glaube, damit hat Bettina auch über den Kontext des Tanzkurses hinaus etwas Allgemeines formulieren wollen. Ich verabschiede mich, wir verabschieden uns hier ja nicht von der Autorin Katrin Bettina Müller, die bleibt uns erhalten, sondern von der Kollegin. Und da möchte ich zum Schluss schon einfach sagen, dass dein kollegiales Teamplay zwischen Führen und Folgen natürlich wichtig war in den vergangenen Jahren.
Vielen Dank dafür. Und mal sehen, was jetzt noch alles kommen wird an kleinen Triumphen und vielleicht ja auch Glücksmomenten.