Sie war lange Jahre unsere wunderbare Ärztin, Hausärztin, mit Praxis am Nollendorfplatz in Berlin und gelegentlicher Gast bei uns im Vogelsberg. Jetzt hat Gabriele Goettle sie interviewt, porträtiert. Ich habe, seit sie aufhörte, als Ärztin zu praktizieren, ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so gut wie nie bei ihr melde. Kommt noch hinzu, dass sie einmal anläßlich einer 68er-Beilage der taz unter der Regie von Michael Sontheimer einen Artikel schrieb, in dem sie erzählte, wie sie damals am Kudamm mit SDS-Haus wohnte, wo auch Rudi Dutschke mit seiner Frau lebte. Sie arbeitete zu der Zeit als Animierdame in einem Bar nicht weit vom Kudamm entfernt. Dutschke war ein Frühaufsteher und wenn sie morgens von der Arbeit nach Hause kam, frühstückten sie gelegentlich zusammen, manchmal half er ihr auch, irgendwelche Freier, die ihr bis vor die Haustür nachgegangen waren, zu verscheuchen.
An diesen Abschnitt ihrer Geschichte kann ich mich noch erinnern. Dorotheas Text wurde damals in der taz-beilage nicht gedruckt, stattdessen ein völlig verlogener von Antje Vollmer über die Zeit um 1968. Dorotheas Text sollte später erscheinen, aber dann räumte Sontheimer sein Büro – und der Text verschwand beim Aufräumen. Dorothea schrieb dann auch nichts Neues mehr und auch sonst wurde es still um sie. Deswegen freuten wir uns um so mehr,als Gabriele Goettle sagte, sie wolle sie porträtieren und dazu auch noch in Dorotheas Freundeskreis recherchierte. All das dauerte einige Monate, aber gestern erschien Gabrieles Text dann endlich in der taz. Hier ist er:
Wer ist Dorothea Ridder?
Oder ein etwas anderer Blick auf die 68er
Verständlich, dass niemand mehr etwas hören will über 68 und von 68ern. Selbst die schrillen Faschismusanalogien langweilen inzwischen den Leser. Das ist zweifellos der richtige Moment für eine kleine Serie zum Thema bzw. am Thema vorbei. Denn hauptsächlich geht es mir darum, herauszufinden, wer Dorothea Ridder ist.
Dr. med. Dorothea Ridder, Ärztin im Ruhestand. Geb. 1942 in Berlin-Pankow, kam 1959 m. Mutter u. Bruder n. Westberlin, erhielt als anerkannter Flüchtling eine Ausbildung im Lette-Verein, Höhere Wirtschaftsschule. 1961-62 Sekretärin im wissenschaftlichen Julius Springer Verlag. 1962 Verlobung. 1962-1964 am Berlin-Kolleg das Abitur nachgeholt. 1964 Immatrikulation FU Berlin, Studium am Otto-Suhr-Institut. H. J. Hameister kennengelernt u. so zum Kommune-Zirkel gekommen. 1967 Mitbegründerin d. Kommune 1, lebt mit Hameister aber in der SDS-Kommune. Mitarbeit am frisch gegründeten antiautoritären Kinderladen als „Spielfrau“. Arbeit als Animierdame in Nachtbars zwecks Gelderwerb fürs Studium. 1969 bei Günter Ammon z. Gruppenpsychotherapie. Studienwechsel zur Humanmedizin. Neben d. Studium Wohnung organisiert (f. RAF-Fälscherwerkstatt), Post abgeholt, Verhaftung, Inhaftierung. Ein Jahr in Isolationshaft gesessen (Untersuchungshaft), Haftverschonung. 1973 ärztliche Vorprüfung. 1973 u. 1975 im Uniklinikum in Ankara/Türkei praktiziert. 1975, nach fast 5 Jahren, Verurteilung wg. „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ zu 1 Jahr Haft (wg. guter Führung zur Bewährung ausgesetzt). 1976 ärztliche Prüfung. 1977 Approbation u. Praxisvertretungen in Westdeutschland. 1980 Doktortitel (Dissertation über Intrauterinpessare). 1981-1983 Gemeinschaftspraxis mit dem Arzt Nissim Behar. Ab 1983 Besuche bei Manfred Grashof (RAF, war inhaftiert wg. Mordes in d. JVA Diez a. d. Lahn). Ab 1984 eigene Praxis am Nollendorfplatz in Berlin. März 1984 Verheiratung mit Manfred Grashof i. d. JVA-Dietz. Ab 1989 Praxis geteilt m. e. männlichen Kollegen. Im Juni 1997 schwerer Schlaganfall, Praxisauflösung.
Dorothea Ridder wohnt im Süden Berlins, im Souterrain eines großen villenartigen Mietshauses am Schlachtensee. Vom Arbeitszimmer aus kann sie auf die alten Bäume im Garten blicken. Im Sommer stehen die Fenster und Türen den ganzen Tag offen, von der Küche aus kann sie zuschaun, wie die beiden Hunde ihrer Freundin miteinander spielen, draußen im Hof. Sie empfängt uns mit jenem freundlichen Lächeln, mit dem sie bereits als junge Frau lächelte. Heute mischt sich ab und zu ein bitter ironischer Zug hinein. Geschickt gießt sie den Tee auf, ihre von der halbseitigen Lähmung betroffene linke Hand assistiert der rechten, hilft, wo sie kann.
„Fein zugreifen geht nicht, fest auch nicht, aber beim Fleischschneiden kann ich es mit der Gabel festhalten. So ist das. Erst habe ich die Sprache verloren, mein Gedächtnis. Konnte mir überhaupt keine Namen mehr merken, nichts. Insoweit musste ich sagen, leider, ich habe einen Dachschaden. Eine Scheißgeschichte. Darunter leide ich heute noch. Mein Hypocampus, der ist sehr dünn. Es ist abenteuerlich, wenn ich ein Buch gelesen habe, dann, nach 14 Tagen ist alles weg. Und dann gibt es andere Geschichten, wo ich dann nicht sagen kann, dann und dann habe ich studiert, dann und dann haben wir uns getrennt, das und jenes ist passiert. Da habe ich auch meine Probleme. Deshalb wollte ich auch mal sehen, ob homöopathisch da noch was gemacht werden kann, und hab ihn angerufen … Hameister. Und da habe ich ihn gefragt“ (sehr lange Pause), „ob er mich behandeln kann. Er sagt Nein. Hat mir eine Homöopathin empfohlen. Wir haben damals, nach der Kommune, Medizin angefangen zu studieren, er ist dann Facharzt für Neurologie geworden, war Psychoanalytiker und heute macht er Homöopathie. Also er hatte schon damals den Zwang – es gut zu machen, damit hat er die ganze linke Szene beeindruckt. Ich habe auch darunter gelitten, es hat mich eingeschüchtert. Das war mir neu.
Ich hatte keinen Grund, gegen die autoritäre Familie … das geht ja nicht. Ich bin 1942 geboren, meine Mutter hatte immer viel zu tun, später war sie Krankenschwester. Ich habe ihr Elend mitgekriegt, wie sie dann dick und abgearbeitet war. So wollte ich niemals werden! Sie hat immer nur gewartet. Auf ihn, dass er nach Hause kommt. Mein Vater war immer ein sehr sympathischer, ein sehr schöner Mann, der, manchmal, auch nach Hause kam. Er war ein schöner Grafiker, hatte ein Dekorationsgeschäft, ist viel herumgeschweift mit anderen Damen, oder er war im Gefängnis, weil er für den Westen gearbeitet hat. Aber wenn er nach Hause kam, dann war immer die gute Laune da, wirklich. Das ist mein erstes Verhältnis zu Männern. Das zweite war zu meinem Bruder, fünf Jahre älter, der war eine Zangengeburt und wurde ganz breitgequetscht. Und wurde also furchtbar … du bist sooo hässlich! Es hat mir wehgetan, dass ich ihm nicht helfen konnte. Letzten Endes war die Kindheit sehr günstig für mich, ich bin nie verkloppt worden, hatte nie Stubenarrest, meine Mutter hat gesagt: Mach, was du willst. Ich musste nicht – Junge Pioniere, Arbeiterklasse und das alles! Sie hat viele Bücher gelesen, also bei ihr war es nie langweilig. Mein Vater ist dann enteignet worden, und wir sind in den Westen übergelaufen. Meine Mutter, mein Bruder und ich. Die beiden haben einen Dekorationsladen aufgemacht. Mein Vater ist nach Hamburg übersiedelt und hat dort einen Laden gehabt, später mit seiner zweiten Frau. Ich konnte ihm nicht böse sein. Der Westen war prachtvoll. Die Ausländer, die ganze Welt zum Angucken, und keine Pioniere! Nicht mehr die ewigen Sozialismussprüche überall. Ich konnte dann im Westen so … Modell stehen, ein bisschen Geld verdienen bei Künstlern. Habe mich mit einem Wirtschaftsstudenten verloben müssen, der hatte mich entjungfert und die Couch war so ein bisschen blutig. Ein sympathischer Mann, ein Westdeutscher. Aber ich wollte ja nicht so werden wie meine Mutter.
Und ich habe dann die Ausbildung gemacht, wurde Sekretärin. Meine Mutter meinte, Sekretärin, das wäre doch sehr gut für mich. Dann habe ich aber das Abitur nachgemacht und nebenher Geld verdient mit „drücken“, also in einer Drückerkolonne habe ich die Zeitschrift Praline verkauft. Es gab eine ganze Zeit, wo ich „gedrückt“ habe, und eine ganze Zeit habe ich animiert in der Bar. Da habe ich gesessen … und dann bin ich hingegangen: Sind Sie allei-, alleine hier? Trinken Sie doch mal einen guten Champagner mit mir. Das war keine Problem. Ich hatte niemals irgendein Problem, dass mich jemand ungewollt … bin auch mit keinem weggegangen. Es war okay. Und dann habe ich angefangen zu studieren, endlich … Von meinem Verlobten war ich schon getrennt und habe dann in einem Studentenwohnheim in Zehlendorf gewohnt. Das ist wichtig, jetzt für mich. Da habe ich einen Haitianer kennengelernt, der hat mir sehr viel erzählt von dem, was ihm und dem Land so passiert ist … ich erinnere mich jetzt nicht mehr.“ (Haitis Sklaven haben Ende d. 18. Jh. nach d. Vorbild d. Franz. Revolution einen Sklavenaufstand gemacht, sie schufen die erste u. einzige Sklaven-Republik der Welt. Sie hielt nur kurz. 1964 Diktatur unter Duvalier d. Ä., gest. 1971. Anm. G.G.) „Ich bin damals so reingewachsen in einen Lateinamerika-Zirkel, da waren sehr viele, die also erzählt haben von sich und was die Europäer gemacht haben. Das hat mich sehr getroffen. Und die in Bolivien … Dieser Haitianer sagte: Wenn ich fertig bin mit dem Studium, natürlich, ich gehe zurück und bekämpfe Duvalier. Der muss weg! Das war für mich“ (stark bewegt) „also Ahhhh … Wir und die anderen, die später in der Kommune waren, auch Dutschke, wir waren dann in ,Viva Maria‘.“ (Revolutionsburleske v. Louis Malle, Kultfilm d. APO, lief 1966 i. Berlin. Anm. G.G.) „Und hinterher habe ich gesagt, wenn ich zu Ende studiert habe, komme ich mit … ah! Ah! Danach wurde die Gruppe ,Viva Maria‘ gegründet. Also das war ein Glück für mich. Aber diese andere Sache … ,Africa Addio‘, da war ich drin mit den ausländischen Freunden. Und der war schon wütend, unser Protest. Gegen …“ (Pseudodokumentarischer Film über die brutalen Gewaltorgien v. Söldnertruppen i. Kongo, u. a. tritt „Kongo-Müller“, ein deutscher SS-Mann auf. Für den Film wurden Erschießungen und Massaker so arrangiert, dass die Lichtverhältnisse gute Aufnahmen ermöglichen. Anm. G.G.)
Ein Kater kommt zum Fenster herein. „Oskar“, sagt Dorothea. Er springt auf Elisabeths Schoß, beim Streicheln findet sie zahlreiche Zecken an seinem Kopf. Sie holt ihre Zeckenkarte aus der Tasche, die wir immer bei uns haben für unseren Hund. Sie beginnt eine Zecke nach der anderen vom Katerkopf zu entfernen und in ein leeres Marmeladenglas abzustreifen, während Dorothea versonnen weiter erzählt: „Und dann habe ich in der Zeit Hameister kennengelernt … In der Mensa. Er war ein sehr schöner Mann, nein, wirklich! Also mit dem … wir konnten stundenlang … stundenlang über Philosophie und so – oder was wir gelesen und gehört hatten. Er hat mir auch viel erzählt. Stundenlang. Ich weiß noch – heute ist er vollgebaut, der Potsdamer Platz. Damals war er leer. Ein paar Kriegsruinen noch, da war ja direkt die Mauer. Er wohnte in der Kurfürstenstraße. Wir sind stundenlang spazieren gegangen, ich habe ihm gern zugehört. Heute muss ich staunen, wie neidlos ich damals die absolute Vorherrschaft von Männern akzeptiert habe, ich habe mich einfach geehrt gefühlt, wenn ich ihnen zuhören durfte. Doch, es war eine sehr schöne Zeit. Wir haben wunderbar zusammen geschlafen. Es war für mich kein Problem, da jetzt, da gab’s nicht so dieses … gar nicht, ich war völlig frei! Wenn ich mit ihm allein war, habe ich unheimlich gut reden können mit ihm, über alles. Er war ja sehr engagiert, wusste sehr viel, hat viel gelesen. Marx, Wilhelm Reich. Ich fand die Theorie von Marx sehr einleuchtend, aber dass die Gesellschaft sich ändert, wenn die Produktionsweise sich ändert, also in der DDR …? Und ich habe gesagt: An die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse glaube ich nicht … nicht hier. Ich bin eigentlich unpolitisch gewesen. Ich habe, nicht so wie andere, lies das und das, das müssen wir machen … Es war bei mir eine Suche … ich weiß nicht mehr, nach was? Es fällt mir noch ein … Ich habe studiert, ich wollte die Welt und die Sprachen kennenlernen, ich wollte verstehen … Das ging damals nur – zumindest für mich – nur über männliche Liebschaften.
Und dann kam Kunzelmann nach Berlin. Ich erinnere mich an diesen Ausruf von Hameister – von allen – Ah! Kunzelmann kommt! Hameister und ich im Bett. Als er kam, hatte ich nichts mehr zu sagen. Männerfreundschaften! Weg – da war nichts, keine Frage mehr, gar nichts. Ich war erledigt. Ich dachte, na gut! Aber es ging ja darum, Kommune zu gründen. Also das Experiment. Bei mir war das kein politischer Plan. Nur diese Vorstellung, mit anderen zusammenleben, das fand ich sehr gut. Das gab es nirgends bei uns. Und die hatten auch Angst, andere sind ja abgehauen, die erst ganz groß … Dutschke, Rabehl, haben abgesagt. Lieber doch nicht! Da habe ich gesagt. Doch, ich will! Das mach ich! Es war nicht wegen Hameister, sondern weil es ein schönes Projekt war, wenigstens einen Versuch wollte ich wagen. Und das Komische, da war nichts von freier Sexualität. Die Männer, die da mitgemacht haben, zwar sind die sympathisch, aber: Bei mir kam da nichts hoch. Ich erinnere mich, das muss Teufel gewesen sein, mit dem ich mal versucht habe. Damit ich nicht immer nur mit Hameister, und wir haben dann im Bett gelegen und nur gekichert, er wollte auch nicht.
Das Hauptvergnügen in der Kommune war eigentlich dieses Ritual. Die Zeitungen jeden Tag, wie die sich aufgeregt haben, o Gottogott! Die Hetze in den Zeitungen … zum Frühstück. Und dann die Aktionen der Kommune, nett, phantasievoll. Ich selber konnte nicht gezielt Eier werfen. Die Aktionen, die wir miteinander gemacht haben, die haben geklappt, aber die Sachen zwischen den Personen klarkriegen, das hat nicht geklappt. Es war eine schöne Phantasie.
Das Einzige, was ich jetzt, immer mit Abstand, sage – ich genieße Kunzelmanns Phantasie. Das ist wohl die Phantasie eines reich verwöhnten und erzogenen Bankierssohnes.“ Ich korrigiere: Sparkassendirektors. Sie lacht. „Nein, nein! Was ich meine, diese Art von wirklicher Phantasie, ich muss nachdenken … ich kam mir immer poplig vor. Aber ich kann ja nicht ein Mann werden, ein Kunzelmann. Natürlich war ich eifersüchtig. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, das war beim Foto für den Stern auf dem Friedhof. Wir haben uns so hingestellt. Es war anders. Damals, 67, haben wir uns alle ausgezogen und an die Wand …, wir waren froh, als es vorbei war, und wir uns wieder was anziehen konnten. Dann auf dem Friedhof, nach diesen Jahrzehnten, treffen wir uns wieder als alte Herrschaften.“ Sie lacht. „Und ich sagte zu Kunzelmann: Knie dich nieder. Wenigstens einmal! Ja. Er hat’s gemacht, natürlich. Ich bin da eine Zeit damals ziemlich traurig gewesen, daran hat mich das erinnert. Ja und damals, auch weil ich so traurig war, da habe ich eigentlich keine Möglichkeit gesehen, wie es weitergeht, Hameister war ständig beschäftigt, ich hatte auch keine konkrete Hoffnung, was politisch eigentlich geändert werden kann, wie der Kampf … Andererseits, es war ja ganz neu, dass man sich überhaupt gewehrt hat, politisch! Wann hat sich denn das letzte Mal einer gewehrt?! Protest, da war ich dabei! Aber die Leute überzeugen, ist schwierig. Wovon denn, von uns? Und Kommune, auch gut. Aber ich habe ja mit Hameister in der SDS-Kommune am Ku’damm gelebt, nicht in der K 1. War ich in der K 1? Es könnte sein, dass ich vorübergehend mal … Ich war oft dort, ja. Aber letzten Endes, ich habe mich dann zurückgezogen. Es war mir zu viel … Ich studierte politische Wissenschaften am OSI, war ,stummes Mitglied‘ im SDS, aber im SDS-Arbeitskreis ,Formierte Gesellschaft‘, hieß das, glaube ich. Ich habe mit Stottern den Gründungsvortrag der Kommune 1 im SDS verlesen damals, habe Broschüren verkauft und bin animieren gegangen … Und ich habe natürlich viel gelesen, viel gelernt. Was ich gelernt habe, den Ku’damm rauf und runter laufen, demonstrieren. Keine Angst haben. Vor nichts! Und auch toll: klauen. Gut und viel klauen! Das war wichtig. Aber jetzt, mit meinem Dachschaden, da ist es anders … ich bezahle immer. Ich habe damals auch die ganzen Grundlagentexte … ja, studiert, Marcuse. Und ich dachte immer, ich brauche mehr Zeit, oder was anderes mal … da habe ich dann, ich glaube, es war nach dem 2. Juni, mit Dagrun und ihrem Kind im antiautoritären Kinderladen … lieber mit denen Kontakt gehabt. Ich war noch im SDS, bei den Versammlungen und so, aber habe auch anderes … War ’ne ganze Zeit in anderen Gruppen …“
Der Kater liegt in Duldungsstarre auf Elisabeths Schoß, die Zecken krabbeln matt im Marmeladenglas. „Ich war bei Günter Ammon in der Gruppenanalyse, ich war bei Dieter Duhm.“ (Ammon, 1918-1995, umstrittener, gruppenanalytisch orientierter Psychoanalytiker. Dieter Duhm, auch „Angst-Duhm“ genannt, wegen seines Buches „Angst im Kapitalismus“. Soziologe, Psychoanalytiker, später Künstler. Er war im SDS, Reichianer, befasste sich dann aber u. a. mit der Psychosekte AAO v. Otto Mühl. Gründete Projekte f. freie Liebe, Frieden etc. Noch heute gibt es sein „Heilungs-Biotop Tamera“ in Portugal. Anm. G.G.) „Und dann war ich eine ganze Zeit … beim … Bhagwan.“ (Bhagwan 1931-1990, indischer Philosoph, dann Gründer der „Neo-Sanjassin-Bewegung“ 1970, vertrat die Befreiung v. sexuellen u. religiösen Dogmen, Guru mit Ashram in Poona, Indien, zu dem i. d. 70er Jahren Abertausende von Europäern pilgerten. Anm. G.G.) Wir machen unserer Abneigung gegen diese Personen und Tendenzen kurz Luft. Dorothea jedoch bleibt unbeirrt beim Thema: „Also, ich weiß gar nicht mehr, wo ich wann war, die Reihenfolge. Jedenfalls war immer eine Gruppe da, und immer war ein Mann da. Irgendeiner war immer der Oberguru. Es war nicht so … auch bei Ammon, ich dachte, der ist ja der absolute Obermacker! Aber für eines bin ich ihm dankbar. Er hat gesagt: Studiere Medizin. Medizin ist das Beste für dich. Das Einzige, was ich noch weiß, als ich gewechselt habe zur Medizin, da bekam ich dann kein Stipendium mehr. Von zu Hause hatte ich auch nichts. Ich war sehr knapp. So dass ich wieder animieren musste nachts. Aber es war okay
Und dann vor dem Physikum gab’s dann irgendwie … so was, dass ich eine Wohnung besorgen, oder irgendwelche Taschen hin- und hertragen sollte. Was ich natürlich Freunden gegenüber gemacht habe. Und da bin ich dann also verhaftet worden als Mitglied der RAF und im Gefängnis gelandet in Köln-Ossendorf und saß so ein Jahr in Isolation. Für wen der Koffer, was und wie … ich weiß es nicht mehr. Was ich knapp in Erinnerung habe, ist, dass ich jeden Tag höflich vernommen wurde, sie fragten, wollen Sie uns nicht ein bisschen weiterhelfen? Denken Sie daran, Ihr Studium!“ (In Dorotheas Urteilsbegründung v. Juni 75 wird ein gut hierher passender Satz der Zeugin G. zitiert, der Frau, die mit Dorothea im Auto saß. „Nach der Verhaftung (…) äußerte sich Gudrun Ensslin abfällig über die von der Angeklagten Ridder geleistete Arbeit und gab zu verstehen, dass diese sich stark ihrem Studium verpflichtet gefühlt habe, was sich mit einer Mitarbeit in der (Baader-Meinhof) Gruppe nicht vereinbaren lasse.“ Anm. G.G.)
„Also für mich war das gar nicht so schlimm, die Isolationshaft. Im Gegenteil, ich durfte meine medizinischen Bücher haben und alles, ich konnte endlich mal in aller Ruhe …“ Sie lacht sehr. „Wie ich entlassen wurde, tatsächlich, der Termin wurde für mich nachgeholt, ich bin da rein, hab das Physikum gemacht und weiterstudiert. Aber hatte immer polizeiliche Auflagen und so.“ Sie seufzt laut. „Ich habe weiterstudiert, zu Ende studiert, war in der Türkei, habe viel Unterstützung bekommen … von schönen Männern. Und ein schöner Mann, Kollege, leider verheiratet, hat mir angeboten, in seine Praxis mit einzusteigen, in der Seesener Straße in Wilmersdorf. Als die Praxiswohnung dann gekündigt wurde, bin ich zum Nollendorfplatz gezogen, alleine, und habe dort eine Praxis aufgemacht. Die Patienten kamen mir alle nach. Das war mein Leben! Nollendorfplatz ist so eine Gegend in Schöneberg … Ich war eine der Ersten damals, die mit Methadon angefangen hat für die Fixer da von der Szene. Ich war praktische Ärztin und habe klassische Medizin gemacht.
Zu mir kamen ja Leute, jahrelang sah ich die in meiner Praxis. Das war mein Leben, das ich immer noch vermisse … Ich habe viel gearbeitet, viel. Und ich habe natürlich viel geraucht in diesen 15 Jahren. Und ich hatte nicht so ein Ding … das ist die oder der, die haben das und das … nein, ich habe viel dagesessen und nur noch zugehört … das war … Nein, also ich wollte ja nicht, so, und dann der Nächste bitte! Ich habe meine Patienten eigentlich … geliebt! Das, ja. Und dass ich so einen Ausweg gefunden habe als Ärztin – also keine so großen politischen Lösungen musste ich … kein Machtding, ganz klar, es war ein Ausstieg! Kleine Lösungen in meiner Praxis am Nollendorfplatz. Ein Handwerk kann ich, das mache ich richtig. Meine Patienten waren mein Leben! Das war auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite habe ich gleichzeitig mit einem Mann zusammengelebt, der 20 Jahre jünger ist. Ein schöner Mann! Andrew Hood, der kannte mich über Erich Fried – der ja lange Patient war bei mir. Und der Vater von Andrew – auch ein schöner Mann – war Nachbar von Erich. Auch jüdisch und alter Trotzkist, er war Partisan in Italien. So kam die Bekanntschaft, und Andrew … das war eine schöne und zärtliche Beziehung. Aber nach vielen Jahren hat er sich in eine jüngere Frau verliebt. Es war für mich sehr traurig, aber eigentlich nicht überraschend. Und zu Fried noch, es war so, dass, 1981 oder 1982, er diese erschütternde Krebsdiagnose hatte, unheilbarer Krebs! Jeder kann sich vorstellen, was das bedeutet. Er kam immer nach Berlin, hat dann bei mir gewohnt – auch vorher schon. Ich habe ihn behandelt und wir haben viel geredet, sehr viel, über das Politische, das war ihm wichtig. Er hat dann doch noch bis 1988 gelebt.
Und fast zehn Jahre später hat es dann mich erwischt. Schlaganfall, ein Thrombus im Gehirn. Vom Rauchen! Und dann habe ich leider eine Epilepsie entwickelt, also nicht solche Krampfanfälle. Aber es kann plötzlich und überall passieren: Ich kippe um. Bum, weg! Letztens habe ich mich hier an der Hand, das tut weh, Brüche, blaue Flecken. Also das bestimmt mein Leben! Zum Glück bin ich nicht ganz alleine, nebenan ist eine Freundin, die Frau, die mich im Park gefunden und sich lange Zeit um mich gekümmert hat. Auch ein Freund. Aber es ist scheiße. Es bestimmt mein Leben. Aus heiterem Himmel, Bum, weg! Jederzeit. Ich muss Antiepileptika nehmen. Und die muss ich selber zahlen. Ich bin ja nicht versichert. Weil ich kein Geld mehr hatte … Alles Geld, alles, vom Verkauf meiner Praxis, vom Verkauf meines Grundstücks am See, alles weg! Ich habe nur diese Rente, da ist nichts drüber. Aber ich muss das Medikament nehmen, jeden Tag. Fokale Epilepsie. Im Chinesischen hat es vielleicht was mit unterdrückter Wut zu tun. Jedenfalls, das Medikament macht mich furchtbar lahm. Das ist das Blöde. Und was mich natürlich noch besonders stört, sind die Sprechprobleme und die Gedächtnislücken … weshalb ich jetzt, vor unserem Gespräch noch mal das Buch vom Ulli gelesen habe, ein tolles Buch, er erklärt den ganzen Zusammenhang …“ (Ulrich Enzensberger, „Die Jahre der Kommune 1“, sehr sorgfältig recherchierte Geschichte von APO und K 1 im historischen Kontext der 60er-Jahre, 415 Seiten unverblümte Rückschau. Anm. G.G.) „Ich mag seine Art zu schreiben, nur leider … schade ist, wenn ich das gelesen habe, ist es trotzdem wieder weg. Ich mache mir Notizen, damit passiert das Gleiche.“ Wir erzählen den steinalten Witz: Kommt ein Patient zum Psychiater und sagt, Herr Doktor, es ist schrecklich, ich vergesse alles. Der Psychiater fragt: Seit wann haben Sie das? Der Patient fragt: Was? Dorothea lacht, nicht so ganz erheitert. Seltsam, Apoplektiker können nicht lügen. Das ist schön.
„Ich habe was vergessen, ich bin ja verheiratet! Damals, als ich in Westdeutschland Praxisvertretung machte und gehört habe, die bringen sich alle um … sind plötzlich tot – ich kannte die ja fast alle dort -, also da war ich sehr traurig. Und dann habe ich Kontakt zu Manfred Grashof bekommen. Der hat, als die Polizisten ihn verfolgten … zurück… hat den Polizisten plötzlich tödlich getroffen. Saß als Lebenslänglicher. Jedenfalls habe ich ihn eine ganze Zeit lang besucht, als ,Frau Doktor‘, das war schon was. Also, das muss ich sagen, er hat nie geklagt, er hat das so hingenommen. Er hat mir viele Briefe geschrieben, seine Zelle mir aufgemalt. Dann habe ich gesagt: So, jetzt heirate ich dich. Und so haben wir geheiratet, im Knast.
Der Gefängnispfarrer hat uns getraut. Da gibt es Bilder … Er ist dann nach 17 Jahren, glaube ich, entlassen worden.“ (Er sagte sich Anf. d. 80er-Jahre von der RAF los u. wurde 1988, nach 16 Jahren Einzelhaft, durch Bernhard Vogel, v. d. CDU, damaliger Ministerpräsident v. Rheinland-Pfalz, begnadigt. Anm. G.G.) „Ich weiß noch, ich habe dann den Volker Ludwig vom Grips-Theater gebeten, ob eine Arbeit bei ihm möglich wäre, denn eine Arbeit ist ja wichtig, als Grundlage. Und der hat das gemacht. Manfred arbeitet da als Beleuchter und auch Schauspieler, die ganzen Jahre, seit er draußen ist. Und so war das, so ist er zufällig mein Mann geworden. Das ist auch was, was ich gelernt habe in meinem Leben, oder besser gelernt habe … auch durch meine Arbeit, dass diese Einteilung in Gut und Böse …“
Sie schweigt, der Kater ist von Zecken befreit und liegt wie bewusstlos da vor Erschöpfung. Im verschlossenen Glas krabbeln die Zecken dem Licht entgegen.
Dorothea seufzt und sagte: „Ich überlege. Also die ganze Moral … Viva Maria, ja! Die ganzen Anti-Schah-Geschichten und Anti-Vietnam-Geschichten, ja! Klauen, ja! Aber ich habe das Wort Revolution nie benutzt. Nach dem 2. Juni. Ah! Es war ganz leicht, in die RAF reinzurutschen, sehr leicht! Mir war ganz klar, was ich mitmache, vielleicht mal eine Wohnung besorgen, so was, konspirativ, auch das Fälschen, okay, da konnte ich unterstützend sein … aber so was wie: ,Natürlich darf geschossen werden’…“ (Ulrike Meinhof, 1970 in Agit 883) „Nein! das habe ich damals schon gesagt. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, in so eine Bank reinzugehen, mit einer Knarre – ’ne, nicht Angst -, dem die Knarre hinzuhalten und ihm in die Augen schaun dabei … also … das ist absolut … das ist nicht ethisch. Dazu habe ich keine Lust. Das ist mein ,Fehler!'“ Sie lacht. „Gut, dass ich das im Beruf ja dann auch Gott sei Dank erlebt habe. Bei jedem, der reinkam – und wenn ich ihm in die Augen geguckt habe, war ganz klar, jeder war er selber. Ah! Ganz toll! Und in jeden war ich wie verliebt. Und kann mir nicht vorstellen, dem gegenüber noch mal das … den zu verletzen, im Gegenteil! Da habe ich nichts zu bereuen.“ Denkt lange nach und sagt: „Was ich bereue, ist, dass ich geraucht habe, zu viel geraucht habe! Das bedaure ich. Und das Zweite, was ich zwar nicht bereue, was aber vielleicht schade ist, dass ich kein Kind kriegen konnte. Am Anfang wollte ich nicht so werden wie meine Mutter, und später, die Praxis, die war mein Traum. Aber der ist vorbei.“
Während des Gespräches kam mir eine Idee. Einige von Dorotheas alten Freunden und Bekannten könnten von ihr erzählen, von früher, um so die Erinnerungslücken quasi zu vergesellschaften und vielleicht zu schließen. Sofort stimmt sie zu und holt ihr Telefonbüchlein. Sie blättert, schweigt. „Beispielsweise eine deiner Sprechstundenhilfen“, schlage ich vor.
„Ja. Hier: Renate Günter, sie hat am längsten mit mir zusammengearbeitet, hat den Laden aufrechterhalten. Und auch Barbara Fischer, eine wunderbare Mitarbeiterin. Sie hat so ein ausgleichendes, sanftes Wesen. Nie Stress, phantastisch! Sie ist jetzt krank geworden, aber vielleicht …? Und jetzt gehe ich mal alphabetisch, von vorne… Ulrich Enzensberger, aber die habt ihr ja selbst. Ach, Erich Fried 22, Dartmouth Road … komisch, so ein altes Telefonbuch, 20 Jahre ist das her. Und hier natürlich, Manfred Grashof, mein Mann, ich weiß nicht, ob er was sagen will, normalerweise mag er die Presse nicht, aber bei dir … das ist eine Handynummer.“ Sie blättert und hält es mit der Linken, seufzt: „Hameister, da habe ich nur die Nummer von der Praxis, aber wahrscheinlich wird er das ablehnen. Und dann, Helmut Höge, habt ihr auch? Und nun Andrew, Andrew Hood. Ich war sehr glücklich mit ihm, all die Jahre, er hat mich verwöhnt. Später wurde er dann Filmregisseur wie sein Vater. Aber es läuft wohl nicht so. Also, das würde mich sehr interessieren, wie Andrew mich beschreibt. Ach, Marianne Herzog, zu ihr habe ich gar keine Verbindung mehr, weiß gar nicht, ob die Nummer noch stimmt.
Kunzelmann, Nee? Horst Mahler … klar, wollt ihr nicht. Verstehe ich. Es ist schade um ihn, nein, das meine ich wirklich. Ich hatte ihn eigentlich immer gern. Hatte einen guten Kontakt zu ihm, auch zu seinem Bruder. Um seine Mutter habe ich mich immer wieder mal gekümmert, medizinisch. Hier, Povl, kenn ihr ihn? Der wird euch gefallen. Er heißt eigentlich Peter Oelze von Lobethal, der war also ganz aktiv im Afrika-Projekt. Ist auch ein guter Freund von Höge, sie haben alle mal zusammengelebt im Vogelsberg.“ Blättert. „Wer das ist, keine Ahnung! Hier, ganz wichtig, Astrid Proll, da habe ich zwei Nummern, sie ist eine ganz alte Freundin. Vor einiger Zeit waren wir mal im Kaufhaus und ich habe einen epileptischen Anfall bekommen, sie weiß das. Aber sie war trotzdem so erschrocken, ich bin ja dann richtig weg für eine Zeit. Wir waren beide im Knast in Köln-Ossendorf, wir haben beide am gleichen Tag Geburtstag, am 30. Mai. Und natürlich müsst ihr Renate Sami fragen, sie ist ja auch Filmemacherin. Wir haben gut und lange zusammengewohnt am Bundesplatz, in der Wohnung von Klaus Eschen vom Sozialistischen Anwaltskollektiv. Das war die Wohnung seiner Eltern mal, wir haben sie gemietet. Renate ist eine schöne Frau, groß, ganz uneitel. Das letzte Mal, als wir uns trafen, fragte sie: Na, wie geht’s denn jetzt so mit den Männern? Ich musste kichern. Die Frage ist kitzlig, weil ich mich immer viel verliebt habe in schöne Männer. Und jetzt, es ist zum Lachen, ich bin mit einem 77-jährigen Mann zusammen. Er ist krank, zahnlos, einen halben Meter kleiner als ich. Wir gehen zusammen ins Theater und ins Thermalbad. Wir haben jede Woche ein Fest und danach geht er wieder. Ich bin nicht verliebt, es ist … eine herzliche Sympathie … und vielleicht etwas Traurigkeit.“
Wir erheben uns, danken. Sie besteht darauf, uns bis zum Auto zu begleiten. Der Kater folgt uns mit Miau. Draußen zeigt sie auf ein verhülltes Nachbarfenster. „Da wohnt Eric, auch ein alter Freund, er war eine ganze Zeit hinterm Tresen im ,Dschungel‘. Er weiß, wann ich Medizin studiert habe. Nach dem Knast hat er sich ein bisschen um mich gekümmert. Entschuldigt, ich laufe so langsam … ich bemühe mich, nicht zu humpeln.“ Als wir wegfahren, sehe ich sie im Rückspiegel am Straßenrand stehen.