Von da müssen sie gleich kommen! Nein, von hier, ich seh sie bereits.
dito
8. Dezember
Pünktlich um neun Uhr kam Dirk. Er brachte noch Werner – seinen Schwager und Pinki, seinen Treckerfahrer – mit. Sie mußten sich gleich an die Arbeit machen und mithelfen, die Strohballen vor die Laufställe in der Scheune aufzustapeln. Um 14 Uhr sollte die Kommission kommen, aber wir waren lange vorher fertig. Bevor wir anfingen, war Hans doch noch etwas nervös geworden. Gegen Mittag fuhren wir los. Leinchen hatte wider Erwarten keine großen Zicken gemacht und war ruhig in den Anhänger gestiegen. Allerdings hatte sie dann die ersten hundert Kilometer doch Angst und war völlig durchgeschwitzt. Ich war wegen ihr nervös und ließ Werner, den Fahrer, ein paar Mal unterwegs anhalten. Dann über die Rheinbrücke bei Köln. Das war nichts Großartiges mehr, nichts Triumphierendes, wie damals noch mit Leinchen auf der Fähre und es war das erste Mal auf einem Schiff für sie gewesen. Ich war mir vorgekommen wie ein Eroberer. Wir brauchten für die Rückfahrt mit Pausen acht Stunden, wofür ich viele Wochen gebraucht hatte. Zurück auf dem Hof brachte ich Leinchen in den Stall (es war der jetzt leerstehende Sommerstall für Sauen), verstaute meine Sachen in meinem Zimmer und dann gingen Dirk und ich zu Tante Anni, um einen zu trinken. Dort musste ich erst einmal von meiner Reise erzählen, ich gab ihr eine Kurzfassung, wobei ich den Schwerpunkt auf die Landschaftsbeschreibungen legte.
9. Dezember
Eigentlich wollte ich ja drei Tage nach Bremen und mich am Montag erst in die Arbeit auf dem Hof stürzen, aber dann kam Dirk mir gleich mit dieser oder jener Idee – was man vielleicht wie machen könnte – und dann brachten wir erst einmal den Pferdeanhänger wieder zurück zu seinem Cousin, der einen wunderschönen großen Hof auf der anderen Weserseite besitzt und dort frühstückten wir erst einmal und dann redeten wir über seine Mutterkühe und über seinen Ärger: früher hatten die Nazis ihm ein großes Stück Land enteignet, jetzt wollte die Bundeswehr ihm noch einmal mehrere Hektar abnehmen. Bei dem Gespräch fiel mir ein, dass hier in der Wesermarsch – wo jeder Hof so groß oder größer ist als alle, die ich unterwegs kennengelernt hatte – sich die Landwirte untereinander viel mehr über ihre Arbeit unterhalten – in der Kneipe z.B., sich Tips geben und dergleichen als weiter südlich. Auch gibt es ein Machtgefälle von Nord nach Süd: Artikel, die z.B. in der Niedersächsischen Bauernzeitung erscheinen, werde oft in der Pfälzer Bauernzeitung nachgedruckt – umgekehrt nie: sie betreffen meistens technische “Verbesserungen”, Probleme der “Betriebsorganisation”, Bauernerfindungenetc.. Abends dann – nachdem ich doch noch dieses oder jenes gearbeitet hatte (füttern, Schweine reinholen), führ ich mit dem Pkw von Dirk in die Disko nach Asendorf. Herrlich die Autofahrt mit Musik aus dem Autoradio. In der Disko traf ich die ganzen Leute aus den umliegenden Wohngemeinschaften und einige von den jungen Bauern, die ich aus der Gegend kannte. Bis halb fünf morgens tanzten wir zusammen.
10. Dezember
Ich bin wieder im Arbeitsalltag auf Dirks Hof eingespannt. Füttern – den Bullen Rübenblattsilage, den Mastschweinen und Sauen Mehl, bei den Sauen mit Ferkeln zweimal am Tag ausmisten. Die Kühe werden von den Frauen, vom Schwiegervater und Jan, der ab und zu dort aushilfsweise arbeitet, versorgt. Tagsüber bringe ich Leinchen zu Hans-Dieters Pony auf die Weide. Die beiden kennen sich noch vom letzten Sommer her. Abends – es wird immer viel zu schnell dunkel – treffe ich Doris. Wir bringen zusammen das Pferd in den Stall und gehen zu Dirk auf den Hof. Dirk und Edith sind auf einem Fest und ich habe mich bereiterklärt, für ihre Kinder Andrea und Jens den Babysitter zu spielen. Die beiden sind streng erzogen, besonders Dirk fackelt nicht lange mit ihnen und wenn ich mit den beiden allein bin, hauen sie immer auf die Kacke – tun alles, was sie sonst nicht dürfen. Es macht aber diesmal keinen Spaß. Ich bin froh, als sie endlich eingeschlafen sind. Doris schläft bei mir, aber um vier Uhr steht sie auf und fährt mit dem Rad nach Hause. Ich schlafe bis Mittag und fahre dann nach Bremen.
12. Dezember
Den ganzen Tag fahre ich mit Trecker und Anhänger Kies auf die Gemeindewege. Mit mir zusammen arbeiten noch zehn andere Bauern. Dirk, der sich gerade einen dritten Trecker gekauft hat – ein unheimlich schweres Ding mit Allradantrieb – lädt mit dem Frontlader die Anhänger voll. Er hat sich in den Trecker ein Radio mit Kopfhörer eingebaut und ist jetzt während der Arbeit nicht mehr ansprechbar. Wenn man was von ihm will, muß man vor seinen Trecker laufen und ihm irgendwie ein Zeichen geben. Nach jeder Fuhre machen wir auf dem betonierten Platz direkt an der Weser – wo der Kies liegt – eine Pause und trinken Cola-Rum. Es ist ein feuchtkalter nebliger Tag – Wesermarsch-Wetter. Gegen Mittag sind wir alle schon ein wenig angetrunken. Nach dem Essen kaufe ich bei Tante Anni drei Flaschen Moselwein aus Bernkastel/Cues. Tante Anni macht ihn mir heiß, gießt ihn in zwei Thermonsflaschen und gibt ihn mir mit. Der heiße Wein schmeckt allen und ist im Nu alle – trotz anfänglicher Vorurteile (“heißer Wein, igitt!”). Abends bin ich dann wirklich besoffen. Als Doris kommt, fahren wir in eine Kneipe, danach zu ihr. Auf ihrer Couch schlafe ich ein. Um ein Uhr wache ich erschreckt wieder auf und fahr nach Hause.
13.Dezember
“Lange Tage, kurze Nächte, das ist was für Bauernknechte”, sagt Dirk mal wieder und weckt mich schon um Sieben. Nach dem Füttern und nachdem ich das Pferd auf die Weide gebracht habe, fangen wir mit den Bauarbeiten an. Im Laufstall für die Sauen sollen neue Freßboxen gebaut werden. Zuerst aber müssen die alten, vergammelten rausgerissen werden. Der Tag vergeht immer viel zu schnell, selbst der Arbeitstag ist im Nu rum und jeden Tag streiche ich aus Zeitmangel ein paar Sachen, die ich unbedingt eigentlich machen wollte, aus meinem Programm. Ich komme nicht einmal dazu, das Pferd auf eine andere Weide zu bringen, auf der noch hohes Gras steht, vorher müßte ich dafür erst einmal den Zaun reparieren. Auch Briefe kann ich nicht mehr schreiben. Völlig gehetzt schaffe ich es nach dem Mittagessen – wenn Dirk und Edith kurz Mittagschlaf halten – gerade noch, nach Hoya ins Café zu fahren, um dort einen Kaffee zu trinken und gelangweilt in alten Illustrierten zu blättern. Abends kommt Doris. Nach einem langweiligen Fernsehfilm gehen wir nach nebenan. Während wir im Bett rangeln, unterhalten wir uns über Arbeit. Über unser Gerangel und dieses Perspektiv-Gespräch schlafen wir müde ein und wachen erst um drei Uhr wieder auf. Dann bringe ich sie mit dem Auto nach Hause.
Selbst wenn es soo dicke käme – wir würden nicht noch einmal aufgeben.
18. Dezember. Sonntag
Tagsüber mit Dirk arbeiten – füttern, ausmisten, seine von mir eingerichtete Werkzeugecke wieder in Ordnung bringen, fehlendes Werkzeug in Verden einkaufen, Ställe ausbauen, mauern und betonieren, die Freßboxen kaufen – bei einem Stalltechniker. Bei dem Stalltechniker arbeiten jetzt mehrere Freunde von mir aus einigen Landkommunen in der Umgebung. Zwischendurch immer mal wieder bei Tante Anni reinschauen oder nach Hoya ins Café fahren. Vor zwei Tagen hat mich mein Cousin kurz auf dem Hof besucht. Er war lange Jahre Kfz-Meister bei BMW in Paris – ein angepaßter langweiliger Typ mit Bauch schon und Büroarsch. Dann wurde er plötzlich entlassen, arbeitslos. Und jetzt hat er sich mit einem Freund zusammen einen Pferdehof in der Nähe von Paris gekauft. Vielleicht könnte Dirk mich zu ihm hinbringen, ich arbeite dann einige Zeit bei ihm auf dem Hof und dann bringt er mich mit seinem Pferdeanhänger in die Pyrenäen. Auch eine Möglichkeit. Jetzt schreibe ich gerade eine Auftragsarbeit (ich bekomme zwei Weinbrand dafür): für Pinki, der in die Volksschulabschlußklasse geht, einen Aufsatz über “Werbung”. Der Aufsatz ist sehr schön geworden. Hoffentlich bekommt Pinki wenigstens eine Zwei oder eine Drei dafür.
21. Dezember
Leinchen ist seit drei Tagen mit dem Pony auf der großen Weide, bei der ich den Zaun repariert habe. Und seit drei Tagen versuche ich schon, ihr das Halfter umzulegen. Sie läßt es nicht zu. Läßt mich nicht ran. Heinz, Dirks Schwiegervater sagt: “Wenn das mein Pferd wäre, dem würde ich aber was anderes erzählen. Damit käme das bei mir nicht durch.” Ich lache darüber. Aber im Grunde bin ich wütend. Warum sind sie nicht einfach gespannt auf den Ausgang meiner Bemühungen? Warum müssen sie alles in eine Gerade biegen? Dirk schimpft jeden Tag darüber, dass die Zeit so verrinnt, dass wir nicht genug schaffen, dass noch zu viel zu tun ist … und er ist ehrlich verbittert darüber und nervös. Und dann fahren wir irgendwohin Besorgungen machen. Alle möglichen größeren Bauteile (Mehlsilo, Rohre, Tränken, etc.) müssen wir uns aus irgendwelchen zwielichtigen Quellen besorgen, weil nicht genug Geld da ist, die Sachen einfach so zu kaufen. Und auf dem Weg dahin oder auf dem Weg zurück, kommen wir dann an einer Kneipe vorbei und beschließen, ein Bier zu trinken. Aber nur eins. Und jedesmal werden es mindestens zehn. Zuerst fange ich an zu drängeln und dann schließlich fahre ich allein nach Hause und er trinkt mit anderen Leuten weiter – bis in die Nacht. Und Edith steht unglücklich deswegen in der Küche, weil er wieder nicht zum Mittag und zum Abendbrot nach Hause gekommen ist und wieder rumsäuft. Und noch am nächsten Morgen kommt er nicht richtig in Gang. Manchmal beobachte ich neidisch, wie die Frauen zusammenarbeiten. Es kommt nicht besonders oft vor, aber wenn, dann sind sie fröhlich, ausgelassen und geschwätzig bei der Arbeit. Wir dagegen werkeln mit verkniffenem Gesicht und nie ist es genug, immer hätte man mehr schaffen können. Und im Vergleich zu den Frauen trifft das auch wirklich zu. Sie schaffen immer mehr als die Männer.
Heute habe ich bei der Genossenschaft einen Zentner Hafer gekauft. Vielleicht gelingt es mir damit, Leinchen das Halfter umzulegen und sie zusammen mit dem Pony in den Stall nachts zu bringen. Das Pony läuft immer so hinter dem Pferd her. Aber umgekehrt funktioniert das nicht. Die beiden müssen jetzt jedoch langsam nachts im Stall bleiben, weil es schon empfindlich kalt wird: Frost und ein scharfer Wind seit einigen Tagen. Aber sie macht irgendwie den Eindruck, als würde ihr das alles nichts ausmachen. Die letzten drei Tage war sie lustiger als sonst – sprang herum und wälzte sich im Gras. Doris und ich fahren nach Hoya mit dem Auto. Doris kneift mir ins Knie. Ich ziehe das Knie weg, wir balgen uns ein wenig im Auto. Ein Bullenauto überholt uns, stoppt mich. “Sie sind eben im Zickzack gefahren. Haben Sie getrunken? Zeigen Sie mal Ihre Papiere. Wem gehört der Wagen?” Wir müssen eine halbe Stunde warten. Ich habe einen Berliner Personalausweis.
22. Dezember
Alles redet von Weihnachten. Alles klar, sauber und heile machen für Weihnachten. Was für ein gigantischer Schwachsinn. Im Radio nur Weihnachtslieder. Ebenso im Fernsehen. In den Zeitungen rührselige Weihnachtsgeschichten. In den Einkaufsstraßen der Kreisstädte Weihnachtsdekorationen. Die Frauen im Dorf hetzen von einem Einkauf zum nächsten, von einer Weihnachtsfeier zur anderen. Die Kinder – sauber herausgeputzt – hinter sich herziehend. Mir gefällt allerdings der Brauch, dass sie alle untereinander ihr Weihnachtsgebäck austauschen. Ich sitze wieder wie fast jeden Mittag im Café in Hoya. Die Bedienung begrüßt mich schon wie einen alten Mitarbeiter. Einige machen schon freche Bemerkungen mir gegenüber. Am nettesten und fröhlichsten ist immer die eine Bedienung, deren Ehemann Polizist ist und der bei uns in Magelsen immer die Razzien mitgemacht hat. Er war es auch, der uns – zusammen mit dreizehn Leuten aus einigen anderen Landkommunen – nach Hannover verfrachtet hat, wo wir eine Nacht im Knast übernachten mußten, um am nächsten Morgen bei Kaffee und Zigaretten auf die bohrenden Fragen der BKA-Beamten mit höflichem Schulterzucken zu antworten. Anschließend dann – ein Bauer aus der Nachbarschaft hatte inzwischen unsere Tiere versorgt (die Polizisten, die während unserer Abwesenheit unser Haus durchsuchten, hatten ihn mehr oder weniger dazu gezwungen) – fuhr uns der selbe Bulle auch wieder nach Hause. Er ist es übrigens auch, der auf seinen Streifenfahrten Doris immer anmacht. Und im Jagdverein macht er dann bedeutungsvolle Andeutungen über seine Abenteuer mit ihr. Er ist also mein Nebenbuhler. Fast.
Wären solche kleinen Schlenker nicht dauernd in den Alltag eingebaut, ich wäre schon lange verzweifelt. Neulich haben die Hoyaer Bullen einen ihrer eigenen Jagdgenossen erwischt. Einer der wenigen., der im Dorf Abitur gemacht hat und jetzt studiert. Er war besoffen und wollte nur mal eben seinen Vater mit dem Auto von der Kneipe abholen, um ihn nach Hause zu fahren. Eine hundert Meter lange Strecke. Auf halbem Wege – an der Kreuzung – erwischten sie ihn. Obwohl wir alle ein wenig schadenfroh grinsen mußten, trägt das natürlich mit dazu bei, dass die Bullen, die verwaltungsmäßig immer mehr zentralisiert eingesetzt werden und sich so immer weiter aus dem sozialen Zusammenhang entfernen, nur noch als Herrschaftsträger gesehen und gehaßt werden.
Spät in der Nacht fuhr ich nach Bremen. In einer Kneipe, die gerade dicht machen wollte, schloß ich mich einer Gruppe an, die gerade eine andere Kneipe suchen wollte, die noch auf hatte. Wir fuhren in eine Schwulenkneipe. Die spontan entstandene Gruppe war bizarr: drei Leute aus einer Landkommune, ein Dressman, ein Gelegenheitsarbeiter, eine geschiedene Frau, die seit zwei Jahren eine psychoanalytische Behandlung mitmachte, ein Bademeister, ein Eierdieb mit seiner thailändischen Freundin am Arm und ich. Als gegen morgen auch diese Kneipe dicht machte, fuhren wir zu Dagmar, um dort zu frühstücken. Anschließend brachte ich die halb psychoanalysierte Frau mit dem Auto nach Hause. Vor ihrer Tür im Wagen musste sie kotzen. Es war ihr furchtbar peinlich. Als sie ins Haus ging, bat sie mich, sie an einem der nächsten Tage zu besuchen. Dann fuhr ich zu einer Wohngemeinschaft auf dem Land, um dort einige Stunden zu schlafen. Ich schlief, bis mir der Traum wehtat. Als ich endlich aufwachte, waren sie gerade dabei, einen herrlichen Weihnachtsbraten anzuschneiden.
Is die nich süß?!
Und der doch auch!?
2. Januar
Dirk hatte einen vermiesten Silvester. Er musste zusammen mit dem Löschzug der Freiwilligen Feuerwehr einen Brand in Hoya löschen. Gleich hier gegenüber vom Café, in dem ich jetzt wieder sitze und dies schreibe. Sie waren alle stinkbesoffen gewesen beim Löschen und dann sind sie noch alle pitschnaß geworden und mußten stundenlang in der Kälte stehen. Jetzt ist meine Mittagspause beendet und ich muß wieder auf den Hof zurück – was tun. Und um Fünf ist Kaffeepause und danach wird gefüttert und dann versuche ich wieder, Leinchen das Halfter umzulegen und danach ist Abendbrot und dann TV und dann schlafen und dann aufstehen und füttern … Alles ist so dicht, dass ich nicht einmal dem kleinsten Zufall eine Chance geben könnte, an mich heranzukommen.
11. Januar
Wieder einige Tage in Bremen rumgehangen – keine Lust zum Arbeiten gehabt. Möchte statt dessen lieber in Bremen was machen. Lange schlafen, lesen, denken, Kaffee trinken, Leute besuchen, etc..
18. Januar
Dorothé rief mich aus Paris an, um mich noch einmal an das Tunix-Treffen zu erinnern, “weil ich ja auf dem Land von allen Informationsquellen abgetrennt bin”. “Das ist doch wohl Blödsinn”, meinte Dirk dazu. Er war am Vormittag gerade auf einer Diskussions-Veranstaltung für Zuckerrübenanbauer gewesen. Auf Einladung von Bayer, die diese Veranstaltungen organisieren, um gleichzeitig dort – bei Kaffee und Kuchen – für ihre Spritzpräparate zu werben. Dirk war, als er wiederkam, immer noch geladen. “Diese Weißkittel, diese Akademiker”, schimpfte er. Sie hatten den Bauern klarmachen wollen, dass sie für ihre Spritzmaschine zwei verschiedene Sortimente von Düsen benötigen. Daraufhin war Dirk sauer geworden, weil er zu Recht annahm, diese Weißkittel würden keine Ahnung davon haben, was für eine zeitraubende und schmierige Arbeit das ist, diese Düsen alle naselang auszuwechseln. Er hatte gemeint, dass es auch anders ginge, indem man eben ein anderes Mischungsverhältnis nimmt. Woraufhin der Weißkittel arrogant gesagt hatte, er wüßte, was für abenteuerliche Mischungen auf den Höfen manchmal zusammengebraut würden. Und mit dieser Bemerkung hatte er die Lacher auf seine Seite gebracht. Und Dirk war wütend nach Hause gefahren, ohne vorher noch den Kaffee zu trinken und den Kuchen zu essen. Ich hatte natürlich das Tunix-Treffen nicht vergessen, sondern sogar ein Flugblatt dafür geschrieben – einen “Zwischenruf”. Dirk hatte mir das Geld für den Drucker gegeben und Edith und er hatten mir sogar abends dann vor dem Fernseher geholfen, die Doppelseite zu falten.
Das ist hier mein Bild für Berlin – das schenke ich der Stadt.
25. Februar
Vom Tunix-Treffen aus Berlin zurück. Alles war rosa dort. Alles. Mein extra dafür geschriebenes Papier war für 1000 Leute geschrieben. 15.000 aber waren da. Es ging unter wie eben ein Zwischenruf. Viele, fast alle, alten Freunde wiedergetroffen. Es war sehr schön. Nachts dort – nach den Diskussionen und Veranstaltungen in der TU – immer mit einigen Leuten das Audi Max gefegt. Mit Walther zusammen den “Dschungel” gefegt. Jede Nacht in einer anderen Wohngemeinschaft geschlafen, immer bei anderen Leuten im Bett. Schöne Frühstückserlebnisse. Jede Minute war zum Platzen gefüllt. Aber jetzt. Im Café Uhde in Hoya sitzend, dies hier schreiben. Ich war auf einem anderen Stern. Dirk ist heute in Urlaub gefahren für einige Tage. Ich wurschelt allein vor mich hin. Es gibt so viel zu tun. Warum also überhaupt was tun?
6.März
In der Bremer Disko Lila Eule treffe ich Heike wieder, die ich vom Studium kenne, sie ist dann nach Amerika gegangen. Jetzt ist sie wieder da und weiß nicht, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen soll – und warum überhaupt. Das verbindet uns.
25. März
An Dirks Schweinestall müssen nur noch Kleinigkeiten gemacht werden. Heike kommt raus und hilft mir – jeweils an den Wochenenden.
10.April
Jetzt muß nur noch ein Gitter geschweißt werden, die Wände gekalkt und auf dem darüberliegenden Heuboden vier Schächte zum Herunterwerfen der Strohballen gebaut werden.
22.April
Mehrmals sind wir jetzt zur Bürgerinitiative gegen das AKW Esenshamm gefahren, wo Heike sich ein bißchen engagiert hatte, nachdem eine der Aktivistinnen, Linda, verhaftet worden war.
27. April
Wieder waren wir vor dem AKW in dieser öden Gegend bei Esenshamm, eine kleine 80-Leutedemo im Nieselregen. Abwechslung brachte nur eine Aktion von einem Typen, der den Schlüssel für eines der Haupttore stahl. Dort konnten fortan die Polizisten weder rein noch raus. Man stelle sich das vor: Das Atomkraftwerk ist tausendfach gesichert mit allen technischen Schikanen…und dann vergißt ein Polizist den Schlüssel abzuziehen und wir haben ihn! Obwohl, wir konnten ihn überhaupt nicht gebrauchen, ich glaube irgendwann schmiß jemand ihn in den Wassergraben.
29.April
Wir sitzen bei Heike in ihrem Wohngemeinschaftszimmer und planen. Der Schwager von Dirk will uns mit dem PKW und einen Pferdeanhänger bis nach Bozen bringen. Ich habe mir in der Zwischenzeit in Verden einen jugoslawischen Esel, für das Pferd, gekauft. Nun wollen wir mit beiden Tieren in die Toscana bei Arezzo, wo meine Freundin Heidi inzwischen wohnt. Mitte Mai soll es bereits losgehen.
…Das geht auch an die Adresse der Ordnungshüter da hinten.
Noch ein Text über Ediths und Dirks Hof: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/04/26/
Über Obstbauern im Alten Land und ihr Widerstand gegen die Airbus-Landebahn-Erweiterung dort: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/10/
Über Schäfer und Schafe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/15/
Sowie auch: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/25/schafchen-zahlen/
Zur Agrarindustrie: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/03/16/gen-kritik/
Über Milchbauern und Kühe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/08/05/milchkuehe/
Noch mal Milchbauern und Kühe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/07/14/power_to_the_bauer/
Über den Dorfschriftsteller Erwin Strittmatter: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/10/09/
Über Imker und Bienen: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/10/von-bienen-und-imkern/
Erntehelfer und Landarbeiter: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/20/landarbeitererntehelfer_-_gestern_heute_morgen/
Noch mal über Erntehelfer: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/07/31/konsumkritik/
Über selbstgebrannten Schnaps: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/14/rauschgifte-im-protestantischen-milieu
Ein exemplarisches Landbordell: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/30/
Einige Provinzlexika: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/09/17/
Über Kibbuz-Krisen: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/07/genossenschaften_7/
Die Hachscharas – Kibbuz-Ausbildungsstätten: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/08/23/brandenburg-geschichtehachscharah/
Weitere Agro-Kooperativen: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/15/
Sowie auch: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/29/
Alte und neue Agrarkommunen in den USA: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/10/13/
Sowie auch: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/01/07/new_world_utopias_37/
Polnische Bauern: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/10/18/polen_beruehren/
Schwedische Bauern: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/10/07/gluck-mit-westschweden/
Norwegische Kultur/Natur:
Naturschutz versus Menschenrechte: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/05/08/naturschutz_vs_menschenrechte/
Da gehörst du hin – lauf los, blöder Hofhund!
Einige Rezensionen:
1.
Noch immer gibt hierzulande alle 90 Minuten ein Bauer seine Landwirtschaft auf. Aber es macht sich auch eine gegenstrebige Tendenz bemerkbar – nicht zuletzt durch Hartz IV, denn damit werden immer mehr Unvermittelbare in die vom Kapital links liegen gelassenene Nischen – auf das Land, abgetrieben, wo sie versuchen, sich halbagrarische Ich-AGs aufzubauen. Dazu gibt es bereits eine Wiederbelebung der Diskussion über Subsistenzwirtschaften. Hinzu kommt nun noch, forciert durch die Ölpreis-Entwicklung, dass auf dem Land immer mehr Arbeitsplätze in der Bio-Energieerzeugung entstehen: Bald werden ganze Regionen zum Ölpflanzenanbau genutzt, verbunden mit großen Standorten für Windkraft- und Biogas-Anlagen – und damit rekapitalisiert, d.h. industrialisiert.
Auch die neubäuerliche Wirtschaftsweise ist also noch nicht aus dem Schneider und muß um ihre Nischen bangen. Wovon sich im Sommer eine Klasse der Kreuzberger Waldorfschule überzeugen konnte, nachdem man sie aufs Land geschickt hatte, wo sie sich für einige Wochen bei Bauern verdingten, zumeist auf Biohöfen, die aufgrund ihrer besonderen Wirtschaftsweise immer einen großen Bedarf an engagierten “Ranch Hands” haben. Die Ideen, Initiativen und Projekte der Bio-Landwirtschaft haben besonders in den Alpenregionen – von Slowenien bis Frankreich – eingeschlagen. Vorreiter ist hierbei die Schweiz, wo inzwischen fast das ganze Land biologisch bewirtschaftet wird, aufgrund einer besonderen Bodensteuer. Aber auch in Slowenien stieg die Anzahl der Biohöfe seit 2001 von 315 auf 1150. In Österreich begann diese Entwicklung mit der Verabschiedung eines “Bäuerlichen Manifests” – 1982, aus Anlaß des 450. Todestags von Michael Gaismair, dem wohl bedeutendsten alpinen Bauernführer während des Großen Bauerkriegs 1515.
Gleich beim ersten Punkt sträubten sich den antikommunistischen Agrarpolitikern in Wien die Haare: Das “Eigentum an land- und forstwirtschaftlich genutztem Grund und Boden ist vom Bauern mehr als Lehen denn als Besitz zu betrachten…” In das Manifest gingen daneben die Bildungsideen verschiedener Agrarreformer ein, u.a. die des “Mistapostels” – des Öztaler Priesters Adolf Trientl – zur “Verbesserung der Alpen-Wirtschaft”. Die Initiatoren sehen heute das Heil vor allem in der “Umstellung” auf biologisches Wirtschaften, ferner in der Entwicklung eines darin integrierten Tourismus sowie in der Veredelung und Vermarktung von Bioprodukten. Ihnen entgegen kommt dabei die UNESCO, die ein Alpental nach dem anderen als Biosphären-Reservat anerkennt. Und es entstehen diesbezüglich regionale Interessensvertretungen als Pressure-Groups. Berühmt wurde die Voralberger Konsumenten- und Produzenten-Arbeitsgemeinschaft KOPRA mit Sitz in Bregenz. Darüberhinaus gibt es auch noch den alpenweiten Verband “Pro Vita Alpina”. Ihr Vorsitzender Hans Haid hat jetzt im Böhlau-Verlag ein Buch über diese ganze Bio-Entwicklung veröffentlicht: “Neues Leben in den Alpen”.
Zuvor erschien im selben Verlag bereits ein Buch des steiermärkischen Historikers Kurt Bauer, das “Vom alten Leben auf dem Land” handelt. Der Autor hatte dazu 22 ehemalige Bauern, Knechte und Mägde interviewt, die zumeist in den Zwanzigerjahren geboren wurden und ihm erzählten, wie sie damals wirtschafteten. Ihre Berichte sind in einzelne Arbeitsbereiche gegliedert – wie Almauftrieb, Brot backen, Waschtag, Sauerkraut machen, Heuernte usw.. Einer der Interviewten war anschließend selber erstaunt, wieviel sich in wenigen Jahrzehnten in der traditionellen Landwirtschaft verändert hat – vom sich nahezu selbstversorgenden Hof mit vielen Helfern bis zur Mechanisierung der Betriebe und ihrer gleichzeitigen Konzentration, die aus den Bauern eine gesellschaftliche Minderheit (von heute 7-8%) machte – und das Dorf als ökonomische Gemeinschaft zum Verschwinden brachte. Im Endeffekt wurden dabei aus Bauern unterbezahlte Heimarbeiter für die Lebensmittelindustrie. Ob dieser Prozeß mit ihrer Ökologisierung rückgängig gemacht werden kann, bleibt abzuwarten, zumal inzwischen viele Euro-Regionen dabei konkurrieren.
2.
Der älteste Bioladen Berlins, die “Sesammühle” in der Knesebeckstraße 89, feiert Anfang 2004 sein 30jähriges Jubiläum. Die Diskussion und Planung dieses Kollektivbetriebes begann bereits 1973 – in einer Charlottenburger Wohngemeinschaft. Dort wurde das Pro und Contra derart ausführlich erwogen, dass es einem amerikanischen Gast, Sarah Kelloggs, zu viel wurde: Sie kaufte sich kurzerhand ein Buch über Seife, baute im Badezimmer eine kleine Seifenproduktion auf und verkaufte die Produkte anschließend auf dem Flohmarkt. Ihr Pragmatismus ermunterte die anderen, ebenfalls einfach loszulegen.
Damals gab es in vielen Städten innerhalb der “Alternativbewegung” solche Überlegungen und Pläne. Gleichzeitig zogen aber auch immer mehr junge Leute aufs Land – in so genannte Landkommunen, wo sie sich mit der Idee der Selbstversorgung anfreundeten. Und nicht selten entstanden daraus dann Kooperationen zwischen alternativ landwirtschaftlich tätigen Gruppen und den Bioläden. So verkauften z.B. Gerd, Karl und Gisela vom “Altenfelder Hof” im Vogelsberg jahrelang an mehrere Frankfurter Bioläden einmal in der Woche selbstgebackenes Brot und Ziegenkäse. Davon ließ sich wiederum eine Bäuerin im Nachbardorf, Frau Schott, inspirieren, die bald sogar täglich eine wachsende Zahl hessischer Läden mit ihrem Biobrot belieferte. Das Getreide dafür baut ihr Sohn an, nachdem er seine Landwirtschaft “umgestellt” hatte.
Die auf Selbstversorgung abzielende Landkommunen-Bewegung breitete sich in den Siebzigerjahren nicht nur in der BRD, sondern – in gleichsam klandestin individualisierter Form – auch in der DDR aus. Beide Bewegungen lassen sich auf die chinesische Kulturrevolution zurückführen: Zwischen 1966 und 1976 wurden in China rund 120 Millionen “gebildete Jugendliche” aufs Land geschickt, um von den Bauern zu lernen und um ihrerseits die Landwirtschaft zu modernisieren. Eine solche “Umerziehung” hatten auch hier die meisten Studienabbrecher, die aufs Land zogen, im Eigensinn. Und wie in China konnte dies nur dadurch geschehen, daß sie sich in die (Agrar-) Ökonomie einpaßten, die sie dabei umwandelten: – Was in der BRD nicht selten auf eine so genannte “alternative” bzw. “biologisch dynamische Wirtschaftsweise” hinauslief. Und diese widerum verlangte quasi zwingend auch entsprechende neue Vertriebswege, denn bekanntlich sinken die Erträge bei dieser alternativen Wirtschaftsweise, was durch einen höheren Preis wieder ausgeglichen werden kann.
Hans Müller-Klug, der heutige Alleinbesitzer der Berliner Sesammühle, besuchte 1974 die Landkommune Magelsen in der Wesermarsch. Dort war man gerade dabei, acht Apfelbäume hinterm Hof abzuernten. Anschließend sollten die etwa zehn Zentner Äpfel zu einer Obstpresse nach Hoya gebracht werden, was den Landkommunarden 100 Flaschen Apfelsaft eingebracht hätte. Allerdings wäre der Saft dabei nicht aus ihren Äpfeln gepresst worden, sondern von irgendwelchen in einem während der Erntezeit ununterbrochenen Fließbandverfahren. Hans, der bei der Apfelernte mithalf, fand dieses Verfahren unannehmbar, da es sich dabei ja theoretisch zumindest auch um Saft aus pestizidgespritzten Äpfeln handeln könnte. Er überredete die Kommunarden, ihre Äpfel ein paar hundert Kilometer weiter zu einer Saftpresse nach Lüchow-Dannenberg an die Elbe zu schaffen, wo sie zwar einen geringen Eigenbetrag für die 100 Flaschen zahlen mußten, jedoch anschließend sicher sein konnten, daß es sich dabei um Saft von ihren eigenen Äpfeln handelte.
Umgekehrt half einer der Kommunarden später ein paar Wochen lang in der Sesammühle aus, wo er morgens als erstes die verschiedenen Getreideflocken-Sorten in Kilotüten einwog. Einmal kam ein staatlicher Lebensmittelkontrolleur im Laden vorbei und nahm einige Haferflocken-Tüten mit. Anschließend mußte Hans 400 DM Strafe zahlen, weil vier der zwölf kontrollierten Tüten knapp unter 1000 Gramm wogen. Der Landkommunarde war darüber erbost, denn, so meinte er, eine solche Kontrolle wäre nur angebracht bei großen Ladenketten und Supermärkten, deren Haferflockenlieferanten mit einer automatischen Abfüllanlage arbeiten. Wenn hierbei ein paar Gramm in den Tüten fehlen würden, dann ginge das gleich in den Zentnerbereich und käme damit einem Betrugsversuch gleich. Während er in der Sesammühle die meisten Tüten eher großzügig – d.h. zugunsten der Kunden – abgewogen hatte. Hans beruhigte ihn: Die Lebensmittelkontrolleure seien insgesamt eine große Hilfe für den Laden, weil sie gar nicht die Eigen-Mittel und -Möglichkeiten hätten, jede Ware derart zu testen. So hätten sie z.B. lange Zeit ungeschwefeltes Trockenobst aus Griechenland verkauft – bis eine Lebensmittelkontrolle ergab, dass das Trockenobst nicht nur nicht ungeschwefelt war, sondern sogar noch über das zulässige Maß hinaus geschwefelt. Nach solchen Kontrollen würden sie gerne die Strafgebühren zahlen. Anschließend hätte die Sesammühle natürlich sofort den Trockenobst-Lieferanten gewechselt.
Ab Mitte der Achtzigerjahre machte der Sesammühle paradoxerweise vor allem das gestiegene Interesse der Kunden an Bio-Lebensmitteln zu schaffen, denn nicht nur richteten die Supermärkte dafür nun eigene Verkaufsregale ein und zogen damit wieder die Bioläden-Kunden in ihre Ketten zurück, daneben eröffneten auch immer mehr Bioläden, was zusammengenommen einen gewissen Preisverfall bei den Bioprodukten bewirkte. In den Neunzigerjahren eröffneten zudem die ersten “Bio-Supermärkte” – mit Sonderangeboten, aggressiver Werbung usw. Gleichzeitig stiegen jedoch die Ladenmieten, Gehälter, Sozialabgaben, Benzinpreise, usw. In der Sesammühle befürchtete das Ehepaar Müller-Klug und eine Aushilfs-Verkaufskraft bereits das baldige Aus für den kleinen Laden, der sich optisch seit 1974 kaum verändert hatte. Dafür hatte sich jedoch sein Umfeld – in der Knesebeckstraße – gewandelt: Viele alte Kunden waren weg – und aufs Land gezogen, mehrere linke Subkulturläden hatten dicht gemacht oder waren in den Ostteil der Stadt abgewandert. Und die wenigen neuen Kunden benahmen sich anders als die alten: Sie hatten weniger Zeit und kaum noch ein Interesse an längeren Ladengesprächen. Die Sesammühle offerierte ihnen ab einer bestimmten Einkaufssumme Lieferungen frei Haus. Ansonsten änderte sich jedoch nicht viel, wenn man davon absieht, dass Hans einem Apotheker immer ähnlicher wurde, der sein Vater früher einmal gewesen war.
Dafür kam auf Initiative der rotgrünen Regierung eine EU-Förderung für ökologisch wirtschaftende Agrarbetriebe zustande und es wurden immer mehr Anbauverbände (wie Demeter, Bioland, Naturland usw.) gegründet. Daneben entstanden neue Initiativen, wie die gegen genmanipuliertes Saatgut oder für regenerative Energiequellen (Windkraftanlagen, Biogasanlagen) sowie für lange Zeit vernachlässigte Agrarprodukte – wie etwa Hanf. Was sich z.B. in Brandenburg bereits zu einem kompletten ökonomischen Netzwerk entwickelte – vom Anbau über die Verarbeitung bis zur Vermarktung von Textilien und Kosmetika auf Hanfbasis.
In Summa hat sich die ökologische Landwirtschaft mit all ihren Nebenaspekten, alternativen Vertriebswegen und Kontrollinstanzen als fester Bestandteil der Volkswirtschaft – in vielen Ländern, bis hin nach China – etabliert. In Deutschland gibt es zudem seit einigen Jahren für junge Leute ein “freiwilliges ökologisches Jahr” (mit 23 Einsatzorten allein im kleinsten Bundesland Bremen). Wenn dieser Arbeitseinsatz demnächst als Alternative zu Militär- und Zivildienst ausgebaut wird, dann gilt auch hier, was Mao Tsetung bereits während der Kulturrevolution als Parole ausgab: “Die Landverschickung bietet der gebildeten Jugend ein weites Feld, um zu lernen und sich zu verwirklichen!” Und ebenso hat sich dabei dann eine ursprüngliche Basisinitiative mit Staatspolitik verklammert. Dem kleinen Berliner Bioladen “Sesammühle” ist darüber jedoch fast die “Nachhaltigkeit” und “Zukunftsfähigkeit” abhanden gekommen – und die “Kollektivität” sowieso. Im Sommer 2009 wollte ich mal wieder kucken, wie es Hans so geht – aber seinen “Bioladen” gab es nicht mehr. Wahrscheinlich waren er und Elfi ganz in ihr Bauernhaus im Wendland gezogen…
3.
Ist das nicht ein Oxymoron: “Fühlende Systeme”? Der philosophisch ausgebildete Biologe Andreas Weber hat dieses Problem kurzerhand auf zwei Bücher verteilt. Sein erstes heißt “Alles fühlt”. Gemeint ist damit der Entwurf einer “Schöpferischen Ökologie” (SÖ), die “Lebewesen nicht als Maschinen, sondern als Subjekte” begreift, wobei sie davon ausgeht, “dass sich Leben eher mit den Mitteln der Kunst als mit denen der Technologie verstehen läßt.” Dennoch hat der Autor neben einigen Exkursionen zu seltenen Tierarten vor allem wissenschaftliche Forschungsergebnisse zusammengetragen, um die tragenden Begriffe seiner SÖ – Seele, Selbstorganisation, Symbiose usw. – gewissermaßen mit Prosa zu füllen, wobei er von einer “Revolution der Lebenswissenschaften” spricht.
In seinem zweiten Buch “Bio-Kapital”, in dem es gleichfalls um die Versöhnung von “Wirtschaft, Natur und Menschlichkeit” geht, ist dagegen von einer “ökologischen Ökonomie” die Rede. Weber schildert darin “Orte” an denen dieses “neue Denken” bereits Früchte trägt” und stellt “Visionäre” vor, die es “entwickeln, und Möglichkeiten zu einem neuen, sinnerfüllten Leben ausloten.” Als erstes hat er dafür zusammen mit dem Biologen Edgar Reisinger von der Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie den einst von den Nazis auf ABM-Basis angelegten Truppenübungsplatz Ohrdruf besucht. “Wenn man es richtig anfängt, dann könnte man hier einen zweiten Krüger-Nationalpark erschaffen,” meinte Reisinger. Noch üben dort jedoch gelegentlich die Militärs. Deswegen gehen die beiden ins nahe Crawinkel, wo “bereits heute Geld damit verdient wird, dass Schönheit und Ursprünglichkeit zunehmen” – und zwar vom Landwirt Heinz Bley: ein Wessi, der nach der Wende die örtliche LPG übernahm, sein Betrieb ist jetzt eine “Agrar GmbH”. Das ehemalige Ackerland (6000 Hektar) wandelte er in eine “Weidewildnis” um, auf der heute 500 Pferde und 1500 Rinder grasen. Pro Jahr und Hektar bekommt Bley dafür 300 Euro von der EU als Zuschuß, daneben vermarktet er Bio-Rindfleisch und organisiert Kutschfahrten für Öko-Touristen. Damit kommt er gut hin. Ich kenne dort in der Gegend einige Weidewildnis-Wirtschafter, die das nicht schaffen: Sie haben aber auch nur 60 bis 80 Hektar jeweils. Auf 6000 Hektar EU-Territorium könnte wahrscheinlich jeder “humanistisch wirtschaften”.
Von Bleys “visionärer Landwirtschaft” kommt der Autor auf einige ebenfalls visionäre Ökonomen und Ökologen zu sprechen, die “den Markt für eigentlich nicht handelbare Güter öffnen” wollen, und gleichzeitig “neue Regeln und Grenzen in das alte Wirtschaftsdenken” einführen. Wieder wird hier eine Parade von “postautistischen” Wissenschaftlern aufgefahren. Darin hätte Weber gut auch den Berliner Künstler Andreas Wegner aufnehmen können. Der organisierte in Wien einen Supermarkt, in dem er normale und biologisch angebaute Lebensmittel verkaufte. In die Preise der ersteren rechnete er die gesellschaftlichen Kosten ihrer Produktion mit ein, so dass diese teurer wurden als die Bio-Lebensmittel. Weber erwähnt stattdessen eine wirtschaftswissenschaftliche Alternative zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), die von den Autoren Daly und Cobb “ISEW” genannt wird: “Index für nachhaltige ökonomische Entwicklung”. Würde man danach die “Beiträge der Natur zu unserer Wirtschaft ‘monetarisieren’ und als Leistungen in Geldwerte übersetzen,” dann kostete allein der Beitrag der Honigbienen zur Bestäubung von Nutzpflanzen in den USA 10 Milliarden Euro – wenn man ihn durch künstliche Bestäubung ersetzen müßte.
Der nächste Ort, den Weber besuchte, ist das Villgratental in Osttirol. Dort wohnt der Landwirt und Kaufmann Joseph Schett. Er hat einige Schafherden und verarbeitet 100 Tonnen Wolle im Jahr, daneben verkauft er Bio-Lammfleisch und Käse bis nach Wien. Sein Betrieb “Villgraternatur” ist der größte Arbeitgeber im Tal. Schett ist mit sich und der Welt zufrieden. Der Autor redete aber auch mit einigen Ortsbewohnern – und dabei stieß er ebenfalls immer wieder auf “herzliche Bescheidenheit” und “fröhliche Indifferenz gegenüber den pulssteigernden Insignien der Maßlosigkeit und des Zwanges zu optimieren, zu beschleunigen, mehr zu haben…” Für die meisten Menschen gilt dagegen jedoch: “Überall knickt die Glückskurve nach unten.”
Weber schreibt neben seinen Büchern auch noch Gutachten – z.B. über die “Zukunft Brandenburgs”. Um den Politikern verständlich zu bleiben, hat er sich leider jede Menge Phrasen angeeignet. So weiß er z.B. über die Villgratentaler noch zu sagen: “Überhaupt die alten Frauen hier – in Wahrheit sind sie es, die das Tal zusammenhalten.” Hat er das im Tal “gefühlt” oder einfach aus der Pavianforschung übertragen? Egal, denn sind es nicht sowieso in Wahrheit die Berge, die das Tal zusammenhalten?
Seine Ortsbesichtigungen und Literaturrecherchen gipfeln in 10 Gebote für ein “humanistisches Wirtschaften” – wie es ihm die Villgratentaler vorexerzieren. Ihren “Lebensstil” hat er jedoch um ein “bedingungsloses Grundeinkommen” für alle sowie um eine globale Re-Allmendisierung der Ressourcen erweitert, wobei die “grünen Gemeingüter” von “Trusts” verwaltet werden sollen, die ähnlich wie Stiftungen funktionieren.
Als Biologe zieht Weber gerne Anekdoten aus der Verhaltensforschung heran. Zur Beantwortung der Frage “wie das Leben wirtschaftet” bedient er sich bei einer Grashüpfer-Studie aus Colorado: Diese Insekten haben eine tägliche Todesrate von 2 Prozent – nach dem Sommer ist nur noch ein Drittel von ihnen übrig. “Wenn das kein Rahmen für den Kampf ums Dasein ist! Nach allen Regeln der Evolution müssten sich die Grashüpfer darum abkämpfen, so viel wie möglich zu fressen, so schnell wie möglich Kinder zu zeugen und so wenigen Artgenossen wie möglich dabei etwas übrig zu lassen.” Die Wahrheit sah jedoch ganz anders aus: “Die Tiere taten – nichts.” Kaum ein Viertel jeder Stunde ließen sich die Insekten zu einer Aktivität herab – manche knabberten ein bißchen Gras, andere paarten sich beiläufig, manchmal vertrieb einer den anderen aus seinem Revier. Aber meist hingen sie an einem Halm und verharrten dort regungslos. “Grashüpfer missachten eine Ökonomie, die sich nur für Energie oder Gene als Währung des Lebens interessiert,” so lautete das Resümee des Grashüpferforschers Jeffrey Lockwood, das Weber zitiert.
Im letzten Kapitel seines Buches heißt es: “Unser abendländisches Erlösungsmodell ist an ein Ende gekommen.” Noch läßt es sich zwar exportieren, aber… “die ‘Krise’ ist da” – und Weber weiß, wie sie zu beheben ist: Mit einem neuen “Erlösungsprojekt” – seinem nämlich, darüberhinaus listet er im Anhang noch 12 Emailadressen auf, wo man nähere Einzelheiten erfahren und sich beteiligen kann. Ansonsten setzt er wie alle anderen auch auf die Kreativität der angloamerikanischen Wissenschaftler, dem “Klassenkampf” erteilt er eine deutliche Absage.
Mir kommt dieses auf vier Bände angelegte “Projekt” wie gefühlter Überfluß vor. Um aber abschließend doch noch etwas Konstruktives beizusteuern, möchte ich hier 1. auf das sehr viel kleinräumlichere “Projekt Oderbruch” des “Büros für Landschaftskommunikation” in Eberswalde hinweisen (www.landschaft-im-wandel.de); es wurde kürzlich in einer Ausstellung vom “Forum Oderbruch e.V.” vorgestellt und gipfelte ebenfalls in “10 Thesen – zur Landschaftskommunikation”; 2. möchte ich das noch kleinere Projekt “Nicht-kommerzielle Landwirtschaft” der Lokomotive Karlshof in der Uckermark erwähnen (www.gegenseitig.de), das um Einiges radikaler, gleichzeitig aber auch sehr viel empirischer ist als die ganzen von Weber zusammengetragenen Weltverbesserungs-Konzepte angloamerikanischer Ökologen und Ökonomen.
4.
Nach Öko und Bio kommt jetzt EM. Es gibt bereits EM-Kaffee, EM-Gemüse, EM-Erdbeeren, EM-Äpfel, Käse aus Milchviehhaltung mit EM, EM-Eier, EM-Fisch, EM-Fleisch, EM-Wurst, EM-Wein – und demnächst EM-Bier sowie -Limonade. EM ist eine Lösung aus Zuckerrohrmelasse, von und in der “genau definierte” Milchsäuremikroben, Hefepilze und Photosynthesebakterien leben. Und EM steht für “Effektive Mikroorganismen”. In den Handel gelangt diese “braune Flüssigkeit” in Flaschen oder Kanister mit dem “internationalen Zeichen EM1”. Es ist eine Art Mikroben-Cocktail. Zur Anwendung gelangt EM1 in Form von EMa: Dabei handelt es sich um eine “Vermehrung keine Verdünnung” von 1 Liter EM1 zu 33 Liter EMa – binnen einer Woche bei 35-38 Grad Celsius.
Anwenden kann man dieses Konzentrat dann nahezu überall: auf Feldern, in Wäldern, auf Wiesen und Äckern, im Stall und in der Küche. Alles wird dadurch besser: die Lebensmittel schmecken intensiver, die Milch der Kühe ist haltbarer, die Tiere sind gesünder. Darüberhinaus gibt es noch viele weitere “EM-Lösungen”: Sie werden regelmäßig auf den Webseiten des “EM e.V.” und in den “EM-Journalen” vorgestellt. Was diese zusammengewürfelten aber kooperierenden Haufen von Bakterien und Pilzen nicht alles können? Sie “steigern die Qualität der Lebensmittel signifikant, indem sie mehr als herkömmliche Lebensmittel so genannte Freie Radikale binden” (das sind kurzlebige aber aggressive, sauerstoffhaltige Verbindungen mit einem freien Elektron, die verschiedene Vorgänge in den Zellen stören bzw. schädigen). Darüberhinaus sind sie in der Lage, “den Düngemittel-, Fungizid-, Insektizid- und Herbizit-Aufwand drastisch zu reduzieren, wenn nicht überflüssig zu machen.” Sie versetzen hauseigene Kläranlagen in einen “gepflegten Zustand” (wenn man 1 Liter EMa auf 1 Kubikmeter zusetzt). Als feinen Biofilm auf Wunden gepinselt lassen sie diese schneller verheilen. In Freibädern eingegeben verbessern sie die Wasserqualität – so z.B. in bisher über 300 japanischen Schulbädern sowie im Hollfelder Freibad, wo das “Zentrum für regenerative Mikroorganismen in Franken ,Der lebendige Weg’ mit Sitz in Hollfeld” dieses “EM-Projekt” mit Rat und Tat begleitet. Darüberhinaus arbeitet man daran, quasi die ganze BRD mit EM-Beratungsstellen zu besetzen.
Deren Mitarbeiter erstellen vor Ort – z.B. in Sonderkulturbetrieben wie den Erwerbsobstbau – “eine PC-gestützte betriebswirtschaftliche Analyse, die auch den Einsatz von EM und die entsprechenden Kosten darstellt. Die Beratung zielt darauf, nicht den gesamten Betrieb von heute auf morgen auf EM-Anbau umzustellen, sondern zunächst auf dem gleichen Schlag eine EM-Variante einzusetzen. Wichtig ist dabei, gleiche Bedingungen zu schaffen. Gleicher Schlag, gleiche Sorte, bei mehrjährigen Kulturen gleicher Pflanzjahrgang.” Dann kann der Kunde vergleichen, ob der EM-Einsatz etwas gebracht hat – und sich gegebenenfalls darüber mit anderen EM-Anwendern austauschen: Allein in Österreich gibt es inzwischen 15 EM-Stammtische, in Berlin einen. Daneben Jahreshauptversammlungen, Vorträge, Konferenzen, Exkursionen usw. an wechselnden Orten.
Hinter diesen ganzen “breitenwirksamen” EM-Aktivitäten steckt die Erkenntnis, dass die Mikroorganismen nicht nur schädlich sind (Lebensmittel verderben, Krankheiten übertragen etc.), sondern auch überaus nützlich: Ja, ohne die etwa 2 Kilogramm Bakterien und Pilze an und in unserem Körper wären wir, Tiere und Pflanzen, überhaupt nicht lebensfähig. Mit den meisten sozusagen körpereigenen Mikroorganismen leben wir in seiner Symbiose und sie untereinander ebenfalls: “Geht es den Mikroben in uns gut, geht es auch uns gut”, so sagen es die EM-Berater. Mikrobiologen wie Lynn Margulis gehen noch weiter: Sie vermuten, dass sich diese Einzeller einst zusammengeschlossen haben, um einen Vielzeller – nämlich uns – zu schaffen, damit sie immer ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben. Der Biochemie-Nobelpreisträger Richard J. Roberts kam jüngst zu dem Ergebnis, dass 90% der Zellen in unserem Körper Bakterien sind.
Der japanische Professor für Gartenbau Teruo Higa, Begründer der EM-Bewegung und der “EM-Research-Organisation” (EMRO), unterscheidet dabei zwischen für uns guten und schlechten Mikroben: “Wo gute sind, können sich schlechte nicht ansiedeln.” Um die guten in Form von EMa auszubringen, kann man auf “EM-Technologie” zurückgreifen. Auf den EM-Webpages werden dafür auch immer wieder selbstgebastelte Geräte vorgestellt. Von Professor Higa kann man außerdem “Bokashi” beziehen, das ist Kompost, mit dem sich Blumen düngen lassen, der aber auch eine “gute Grundlage für die Tiere ist”. In ihrem Buch über “EM-Lösungen für Haus und Garten” erklären die Autoren, der Diplomlandwirt Ernst Hammes und die EM-Beraterin Gisela van den Höövel, die beide im EM-Zentrum Saraburin in Thailand ausgebildet wurden, wie man “Bokashi” aus den unterschiedlichsten organischen Abfällen selbst ansetzen kann. Außerdem geben sie Beispiele, wie ihre “effektiven Mikroorganismen” als EM-Mix u.a. im Haushalt verwendet werden können: bei der Wasseraufbereitung, beim Wäschewaschen, in der Spülmaschine und bei der Schnitt- bzw. Topfblumenpflege… Einige weitere EM-Einsatzorte sind: in “selbstgemachten Joghurts”, bei der Sanierung alter Sofas sowie bei alten Holzmöbeln und – flächendeckend – auf der ersten “EM-Apfelplantage” in Weissrussland. Dort wurden zuvor bereits beim Rübenanbau gute Ergebnisse mit EM erzielt: So stiegen die Ernteerträge von 350 Zentner pro Hektar auf 600-650, auch die Qualitätsziffern wurden deutlich besser: Der Zuckergehalt lag bei 17-18% und Stickstoff gab es halb so viel wie auf den Vergleichsflächen. Ähnlich erfolgreich ist die Teppichreinigung von Thomas von Stinissen in Wien: 2007 gewann er mit seiner dabei angewandten EM-Technologie den Umweltpreis “Energy Globe Austria.”
Die Brandenburger “Bauernzeitung” berichtete, dass EM bereits in über 120 Ländern genutzt werde, allein in Deutschland gab es Ende 2006 über 3000 EM-Bauern. In dem Artikel wird namentlich der Milchbauer Thomas Unkelbach aus Hergolding erwähnt, der täglich seine Ställe mit einem “EMa-Wasser-Gemisch” aussprüht und dessen Kälberverluste seitdem von über 20% auf unter 5% sanken. Ferner der Hühnerzüchter Bernhard Hennes aus Langenspach: Er installierte einen “Vernebler” für das “EMa-Wasser-Gemisch in seinem Legehennenstall – und wurde damit der Milbenplage Herr. Sowie ein Dr. Franz Ehrnsperger von der Neumarker Lammbräu, wo die “EM-Technologie in nahezu alle Betriebsabläufe integriert wurde”, das beginnt bereits bei der Behandlung des Saatguts. Weitere Erwähnung fand eine Gänsezüchterin im norddeutschen Lohne, Iris Tapphorn, bei der in der Elterntierhaltung dank EM-Einsatz die Darmerkrankungen erheblich zurückgingen. Gute Erfahrungen mit EMa wurden außerdem bei der Silierung von Mais gemacht – was nahe liegt, da es sich hierbei um ein Milchsäuregärungsverfahren handelt, das man mit den zugefügten “Milchsäurenmikroben” gewissermaßen “effektiviert”.
Den EM-Beratern ist am Verkauf ihrer Produkte gelegen, sie bemühen sich daneben aber auch um ein immer genaueres Verständnis der Wirksamkeit ihrer Mikroben-Konzentrate. Dazu verfolgen sie die Arbeiten der Mikrobiologen. Die Süddeutsche Zeitung faßte eine Forschungsarbeit der Biologin Susse Kirklund Hansen von der TU in Lyngby, Dänemark, zusammen: “Bevor Bakterien sich zusammenschließen, gibt es eine Art Absprache. Jedes Bakterium sondert Signalmoleküle aus, um seine Anwesenheit zu demonstrieren. Erreicht die Konzentration dieser Stoffe einen Schwellenwert, fangen die Keime mit der Schleimproduktion an. Dieses Kommunikationssystem wird als ,Quorum Sensing’ bezeichnet.” Die EM-Experten Hammes und Höövel gehen davon aus, dass die Mikroorganismen dabei über Elektronen kommunizieren: “Jede lebende Zelle strahlt ultraschwaches Licht aus.” Dieser Forschungsansatz geht auf den russischen Biologen Alexander Gurwitsch (1874-1954) zurück und wird heute insbesondere von dem Biophotonenforscher Fritz Albert Popp in seinem Institut in Kaiserslautern weiterverfolgt. Die FAZ berichtete jüngst von einer Arbeit an einem Washingtoner Institut mit in Gewässern lebenden Bakterien der Art Shewanella oneidensis. Diese übertragen ihre elektrischen Ladungen über Nanodrähte, mit denen sie sich untereinander verbinden und die oft Dutzende von Mikrometern lang sind. Ähnlich können auch Cyanobakterien (Blaualgen) solche “elektrisch leitfähigen Strukturen” ausbilden. Anderswo beobachtete man einen “Elektronentransfer per Stromkabel zwischen Mikroben unterschiedlicher Art”.
Während also hierbei das Kommunikations-Medium erforscht wird, geht es der Biologin Susse Kirklund Hansen in Dänemark und der deutschen Susanne Häusler (am Braunschweiger Zentrum für Infektionsforschung) um das (soziale) Zusammenleben der Mikroben: “Ihre Versuche zeigen, dass viele Bakterien im Biofilm nicht einfach nur viele Bakterien sind, sondern eine organisierte, kommunizierende Gemeinschaft, die sich nur schwer zerstören läßt” – und manche nach einiger Zeit ausschließt. Robert Kolter von der Harvard Medical School spricht von einer “Stadt der Mikroben”: Das “Leben im Biofilm ist wie eine multikuturelle Gesellschaft. Man sucht sich die richtige Wohngegend mit passenden Nachbarn, profitiert von der Arbeit der anderen und wenn es unerträglich wird, zieht man wieder weg.” So werden aus Bakteriologen Stadtforscher. Ironischwerweise begann die (soziologische) Stadtforschung einmal – in englischen Armenvierteln – unter bakteriologischem Vorzeichen: Es ging dabei um Hygiene – und üble Krankheitserreger (z.B. im Trinkwasser). Den EM-Experten geht es nun u.a. ebenfalls wieder um Hygiene, die sie jedoch nicht mehr mit keimtötenden Mitteln erreichen wollen, sondern im Gegenteil mit keimvermehrenden Maßnahmen – u.a. in Badezimmern, Autowaschanlagen, Abwassersystemen und Kochtöpfen. Wobei sie jedoch zu bedenken geben, dass für einen erfolgreichen EM-Einsatz eine “Offenheit im Denken” erforderlich ist. Im Grunde ist dieses Denken eine Ausweitung bzw. Konzentration der Ökologie auf den nichtsichtbaren Bereich.
So bezeichnet dann auch Steven Gill vom “Institute of Genomic Research” in Rockville, Maryland, die Bakterienflora im Darm z.B., wo 10 bis 100 Billionen Bakterien der unterschiedlichsten Art leben, als ein “Ökosystem” bzw. als ein “Mikrobiom, das gewissermaßen ein zweites Ich darstellt”. Zur Aufbereitung unserer Speisen ist die “Zusammenarbeit mehrerer Gruppen von Mikroorganismen in einer Nahrungskette erforderlich”. Die Berliner Zeitung schrieb über Gills Forschung: “Beim menschlichen Stoffwechsel läßt sich kaum auseinanderhalten, welchen Beitrag der Mensch und welchen die Darmflora leistet. Dass Mensch und Mikroben in enger Symbiose leben, ist seit langem bekannt. Und man weiß auch, dass die winzigen Bewohner dem Wirt mehr nützen als umgekehrt. Sie bauen unverdauliche Nahrungsbestandteile zu verwertbaren Nährstoffen um, versorgen den Körper mit Vitaminen, die er sich selbst nicht beschaffen kann, und sie halten Krankheiten sowie Entzündungen in Schach.” Der Spiegel befragte dazu 2005 den britischen Chirurgen und Bakteriologen Mark Spigelman: “Sie schlagen vor, Chirurgen sollten vor einer Operation die Hände in Lösungen aus gutartigen Bakterien, wie etwa solche aus Joghurt, tunken. Was ist so falsch an der Desinfektion?” “Nichts. Antiseptische Seife ist unsere beste Waffe im Kampf gegen Bakterien. Aber wenn ich das als Chirurg den ganzen Tag mache, komme ich am Ende aus dem OP und habe sämtliche normalen, nützlichen Hautbakterien auf meinen Händen abgetötet. Das schafft erst den Raum für die fiesen Keime, sich dort niederzulassen.”
Auf der menschlichen Haut leben rund 180 Bakterienarten. Die Mikrobiologin Zhan Gao und ihre Kollegen an der New York University haben kürzlich herausgefunden, dass sie sich dem individuellen Lebenswandel der Menschen anpassen: “Nur eine kleine Gruppe von harmlosen Hautbakterien bleibt einem Menschen treu, die meisten Bakterien sind bloß vorübergehend zu Gast. Ihr Gedeihen wird beeinflußt von Faktoren wie Wetter, Licht, Hygiene und Medikamenteneinnahme,” berichtete die Berliner Zeitung 2007. Grundsätzlich gilt jedoch das, was die EM-Experten für die Landwirtschaft sowie die Viehzucht empfehlen und der Biochemiker Richard J. Roberts dem Menschen: “Der einzige Schutz vor krank machenden, pathogenen Keimen ist die Besiedlung durch nicht krank machende Bakterien. Lactobacillus oder Bifidobakterien im Joghurt sind vor allem deshalb gesund, weil sie andere, pathogene, Bakterien fernhalten. Der Trick ist, jede ökologische Nische auf und im Körper mit unschädlichen Keimen zu besetzen. Übertriebene Sauberkeit schafft dagegen erst Leerräume für die Besiedlung durch wirklich gefährliche Keime.”
Ende 2006 berichtete der Spiegel über Tom Baars, dem weltweit ersten Professor für biologisch-dynamische Landwirtschaft an der Universität Kassel in Witzenhausen: Der holländische Anthroposoph verpasse dort vermeintlich “Okkultem” wissenschaftliche Weihen – warnte das Magazin und zitierte dazu gleich mehrere Wissenschaftler, die entsetzt waren, wie leichtfertig die renommierte Agrarfakultät sich damit dem “Esoterik-Verdacht” aussetze. Zum “Beweis” referierte die Spiegel-Hausbiologin Rafaela von Bredow eines der biologisch-dynamischen Verfahren: “Eine von Rudolf Steiners Erleuchtungen verdanken die Bauern etwa die Anweisung, Kuhhörner (von weiblichen Tieren, die schon einmal gekalbt haben) im Acker zu verbuddeln, gefüllt mit zerriebenen Quarzkristallen (nach Ostern mit Regenwasser zu einem Brei rühren!). Mars, Jupiter und Saturn heißt es, strahlten über solche ,kieseligen Substanzen’ von unten nach oben und verströmen ihre kosmischen Kräfte, indem sie auf Blütenfarbe, Frucht und Samenbildung wirkten. Nach ein paar Monaten Lagerzeit graben die Anthroposophenbauern die Hörner wieder aus und kratzen deren Inhalt heraus. Braucht nun etwa ein Tomatenbeet kosmische Zuwendung, verrühren die Landwirte eine winzige Menge davon in einem grossen wassergefüllten Faß. So ,dynamisiert’ der bäuerliche Alchemist das Wasser. Den fertigen Zaubertrank schleudert er dann mit Hilfe eines Handbesens in Tröpfchen über das Gemüse.” Fast genauso könnten auch die EM-Berater und -Bauern über die Herstellung und Anwendung ihres Bakterien-Konzentrats sprechen – nur dass sie im vergrabenen Kuhhorn, gefüllt mit Quarz (sie würden allerdings japanische Tonerde vorziehen) weniger die “kosmischen Kräfte” als vielmehr die “mikrobiotischen” am Werk sehen. Auch die “Dynamisierung” dieses Prozesses in wassergefüllten Gefäßen durch Rühren und Abstehen lassen, wäre ihnen nicht fremd, nur dass sie statt von Verdünnen von Vermehren sprechen würden. Was an den “EM-Technologien” eher noch mehr stört als an der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, ist die ständige Betonung der “Effektivierung” – aller Lebensvorgänge im Hinblick auf ihre marktwirtschaftliche Verwertung.
Zwar wird wohl zugegeben, dass dieses Geschäft auch und gerade das mikrobiotische Miteinander zerstört hat – auf den Äckern, Wiesen, in Gärten und Ställen, ja sogar in den Wohnhäusern und Körpern , aber wieder ins Gleichgewicht gebracht werden soll es mit einem weiteren Produkt – EM1 , das sich in seiner Warenform als “Allheilmittel” anpreist, und somit sämtliche “Fehlentwicklungen” monokausal erklären muß. Am Ende hat ihre Bakteriologie als angewandte Wissenschaft alle anderen ersetzt. Ist das schon “offenes Denken” – oder noch Teil einer “Biopolitik der Unsichtbaren”, von der die neuen Studien einiger Autoren, darunter der “Anthraxforscher” Philip Sarasin, über “Bakteriologie und Moderne” handeln? Sie beschränken sich darin auf die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Mikroorganismen und verfolgen dabei die Wege zur allgemeinen Überzeugung, dass dies dringend notwendig sei – während die EM-Propagandisten uns nun genau das Gegenteil versprechen: einen Biofilm mit Happy-End.
5.
Barbara und Gunter Hamburger-Langer wohnen am Bodensee. Die Diplompsychologin leitet seit 20 Jahren “Visionssuchegruppen” und ihr Mann, Geschäftsführer des Diakonischen Werks in Konstanz, mindestens ebenso lange “Open Space Konferenzen”. Die beiden wurden von der spirituellen Ökologiebewegung in Amerika, dem “New Age” der Posthippiezeit, beeinflußt und machten sich 2001 elf Monate lang auf, um zu sehen, was davon übrig geblieben oder neu hinzugekommen war. Anschließend veröffentlichten sie ihre “Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft” als Buch.
Als erstes besuchten sie ein Camp von Regenwaldaktivisten (forest defenders) und die Hippiestadt Nimbim in Australien. Jedes ihrer Reise-Kapitel schließt mit einem Interview ab. Hier ist es eins mit John Seed vom “Rainforest Information Center”. Er hat eine typische New Age-“Karriere” hinter sich: Tune-In – erst Studium, dann Job bei IBM; Turn-On – mit LSD “die Augen öffnen”, sich für Buddhismus interessieren; Drop-Out – “Meditationsretreats in Indien und Nepal”, sich mit “Ökologie” befassen, in eine Landkommune ziehen und Biogemüse anbauen.
Als Baumschützer begeistert er sich derzeit für die Gaia-Hypothese. Er nennt das “Hitch your wagon on a star” – andere Visionen brauche er nicht. Die Gaia-Hypothese des Geophysiologen James Lovelock besagt, dass die Erde und ihre Atmosphäre ein einziger Organismus ist. Anfang November führte darüber die amerikanische Mikrobiologin und Symbioseforscherin Lynn Margulis im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Näheres aus. Das Ehepaar Hamburger-Langer nahm bereits bei Brisbane an einem Gaia-Workshop teil. Außerdem besuchte es ein Uni-Seminar von Ureinwohnern Australiens über “Aboriginal Studies”. Das anschließende Interview mit einem der Dozenten drehte sich um die “Bedeutung des Wissens der First People” und um deren “Zukunftsvisionen”. Dann ging es weiter nach Perth in Westaustralien, wo sie Jo Vallentine interviewten. Von Petra Kelly agitiert hatte diese in Westaustralien eine Grüne Partei gegründet, 1992 beendete sie jedoch ihre Parlamentsarbeit und ist nun wieder als Umweltaktivistin unterwegs. “Mein Engagement kommt direkt aus meinem Herzen,” sagt sie. So reden “New Age-People”. Es klingt immer ein bißchen wie schwäbischer Protestantismus. Und tatsächlich macht das Ehepaar Hamburger-Langer auch keinen großen Unterschied: zwischen religiösen (Quäker-)Aktivitäten, Friedensgruppen, Öko-Aktivisten, Indigenem Culturalism, Vegetarismus, Universitätsseminaren, Meditationsübungen, Riten des Übergangs für Trauernde und semiöffentlichem “Breast-Feeding”, das sich in Australien als ein “unter jungen Frauen verbreitetes Thema” erwies.
Auf Hawaii besuchten sie ein “Bildungszentrum für gewaltlosen Widerstand”. Dort organisiert man seit dem 11.9. “Friedensmahnwachen”, an denen sich auch Ureinwohner und Mitglieder einer Bibelrunde beteiligen.
In Kanada traf das Ehepaar sich dann mit einem Psychologen am “Yukon Hospice Center”: Er ist Sterbebegleiter für an unheilbaren Krankheiten leidende Ureinwohner. Anschließend besuchte das Ehepaar das “Yukon College”, eine Ausbildungsstätte für die Ureinwohner und fragten eine als Bibliothekarin tätige Angehörige des “Raven”-Clan der Nacho Nyak Dun First Nations People über die “Mythologie des Yukon” aus. Daneben nahmen sie an einem Seminar über die schädlichen Folgen von Alkoholgenuss bei schwangeren Müttern teil, das besonders die Ureinwohner aufklären soll.
Weiter ging es nach Kalifornien. Dort trafen sie eine Dozentin, die Seminare über “offene Systeme” abhält und “Schritte zum holonischen Wandel” entwirft. In ihrer Arbeit, so sagte diese, gehe es um die “Veränderung vom Ego-Selbst zum Öko-Selbst”. Ansonsten sieht sie seit der Verabschiedung des “Patriot Acts” die USA langsam faschistisch werden. In Oakland besuchte das Ehepaar die private “Universität für Schöpfungsspiritualität” von Matthew Fox, wo der anglikanische Bischof ebenso wie der Botaniker Rupert Sheldrake lehren. Letzterer versucht seit 1973 die vom russischen Biologen Alexander Gurwitsch aufgestellte Hypothese der morphischen Felder mit Medienexperimenten zu verifizieren. Laut Sheldrake bestehen die formbildenden Kräfte nicht aus Chromosomen oder Genen, sondern aus einem masselosen Feld – in das wir uns einem Radio ähnlich eintunen, damit ein Mensch, und nicht z.B. ein Esel aus unserem Keim wird. Sheldrake gehört zum Kern der kalifornischen New Age-Scene, die sich in den Achtzigerjahren u.a. in Esalen und in der Ojai-Foundation versammelte.
In San Rafael trafen Hamburger-Langer auf Ralph Gunter Metzner, dessen Bücher der taz-blogwart Mathias Broeckers ins Deutsche übersetzt. Der Harvard-Psychologe unternahm einst mit Timothy Leary und Richard Alpert LSD-Experimente – bis man sie von der Uni schmiß. Heute ist er Dozent am “California Institute for Integral Studies” (CIIS). Als Gründer der “Green Earth Foundation” will er “die Beziehungen zwischen Mensch und Natur heilen.” Die Amis müssen immer gleich die ganze Welt retten – unter dem tun sie es nicht! Dabei ist Metzner z.B. in seinem demnächst auf Deutsch erscheinenden Buch über “Krieg und Herrschaft” alles andere als optimistisch. In seiner US-anthropologischen Sichtweise zieht er Hoffnung allenfalls noch aus gewissen Affenforschungen: z.B. die des Kaliforniers Robert Zapolsky, der in Kenia Paviane erforschte, die nach dem plötzlichen Tod des ranghöchsten Männchens diesen Rang in ihrer Horde einfach nicht mehr besetzten – und fortan quasi führerlos, dafür aber um so fröhlicher weiterlebten. Als das Naturschutzgebiet und mit ihm die autonome Pavianhorde zerstört wurde, gab er seine Affenforschung auf. Statt weiter positiv zu denken beschäftigt er sich nun u.a. mit Depressionen. In seinem Buch “Warum Zebras keine Magengeschwüre bekommen” schreibt er: “Vereinfacht dargestellt können Sie sich das Auftreten einer Depression wie folgt vorstellen: Ihr Stammhirn entwickelt einen abstrakten negativen Gedanken und schafft es, den Rest des Gehirns davon zu überzeugen, dass er wirklich ist wie ein realer Stressfaktor.” Dass es der Zustand der Welt ist, der uns deprimiert, darauf will er sich in seinem Amimaterialismus nicht einlassen. Über nicht von einem ranghöchsten Männchen dominierte Pavianhorden forschte im übrigen auch jahrzehntelang der Zürcher Biologe Hans Kummer – in Äthiopien. Über eine andere Variante herrschaftsfreier Affenhorden referierte 1992 ein US-Biologe auf dem internationalen Primatenkongreß in Torremolinos: Er hatte den Kot einer Gruppe Kapuzineraffen genetisch untersucht – und dabei festgestellt, dass kein einziges Junges vom ranghöchsten Männchen abstammte – obwohl dieser quasi die alleinige Vaterschaft in der Gruppe beanspruchte.
Neben solchen Affenforschungen kann sich Metzner auch noch an einem Radiosender in San Francisco erfreuen, “der jeden Morgen nur gute Nachrichten verbreitet”. Ansonsten hat er jedoch das Gefühl, in einer Zeit “wachsenden Faschismus und Imperialismus” zu leben. Nach Metzner interviewte das Ehepaar den Afrikaner Mutombo Mpanya, den es bereits 1996 in einem Seminar am “Institute for Deep Ecology” in Seattle kennenlernte. Er meint,
In Oakland sprach das Ehepaar mit Marshall Rosenberg, den Gründer des “International Center for Non-violent Communication”. Die im Center gelehrte “mitfühlende Sprache” lasse sich auch mißbrauchen, meint Rosenberg – und erwähnte einen seiner Studenten, der später sehr erfolgreich selber “gewaltlose Kommunikation” lehrte – und zwar in einem Unternehmen, das die Mitarbeiter daran hindern wollte, Gewerkschaften zu gründen. Für Visionssuche-Gruppenleiter wie die Hamburger-Langers war ein Besuch im kalifornischen “Vision Valley” natürlich Pflicht. Anschließend besuchten sie den im Sterben liegenden Weltverbesserer Steven Foster. Mit ihm führten sie ein Interview an der “School of Lost Borders”, wo u.a. “Vision Fast”-Kurse stattfinden. Für Foster ist “eine Vision kein Luftschloss, keine Täuschung – sie ist eher etwas ganz Praktisches – das getan wird.” Zwischendurch besuchte das Ehepaar noch jemanden, der kirchliche Messen mit Technomusik veranstaltet und Exstacy zu therapeutischen Zwecken verwendet.
Ich fragte mich nach dieser langen Visionssuche, warum die Autoren unbedingt und ständig von “Visionen” sprechen (müssen) – von Halluzinationen also? Wo wir doch seit Platon, Morus und Fourier das schöne Wort “Utopie” haben – für einen Ort, den es (noch) nicht gibt. Wobei uns seit Foucault die “Atopie” sogar noch lieber ist – also etwas, das keinen Ort hat. Und da soll es auch bleiben. Besteht nicht das ganze Elend der Welt derzeit vor allem darin, dass hier permanent irgendwelche US-Super-Visionen in die Wirklichkeit eingebildet werden?
Der Schluß des Buches von Barbara Langer und Gunter Hamburger versöhnte mich wieder etwas mit ihrem dicken Buch: “Ursprünglich hatten wir geplant, zwei Wochen länger im Suskwa Valley zu bleiben, aber der bevorstehende Tod unserer Hündin Ora läßt uns früher abreisen. Der Abschied von liebgewonnenen Freunden fällt schwer. Gemeinsam tanzen wir noch einmal den Ulmentanz – auch für Ora.”
6.
Derzeit gibt es eine Fülle von quasi-ethnologischen Untersuchungen über das Kleinbauerntum in den Alpen, das am Aussterben ist: Es sind nur noch ungefähr 2% der Bevölkerung Kleinbauern, so dass man dort fast – wie bei der DDR – von einem abgeschlossenen Forschungsgebiet sprechen kann bzw. von den letzten “Zeitzeugen”. Eine Innsbrucker Studie – von Bernhard Kathan – mit dem Titel “Strick Badeanzug Besamungsset” bezeichnet sich denn auch als “Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur”.
Sie besteht aus einer liebevollen Sammlung von photographierten Gegenständen, zu denen jeweils ein Text gehört. Zwar meint der Autor am Schluß, “Es gibt keinen Grund, der Armut, den ständigen Bedrohungen, der Enge und Härte der kleinbäuerlichen Welt nachzutrauern,” aber dies bleibt reine Behauptung, denn tatsächlich ist in seinem Buch ständig von einem großen Verlust die Rede. So heißt es an einer Stelle – über unsere moderne Welt: “der Überfluß an Dingen führt zu ihrer konsequenten Entwertung, genaugenommen zu einer Entwertung der Arbeit, letztlich des Menschen selbst.” Kathan beruft sich dabei auf Pier Paolo Pasolini, der bereits ahnte, “dass eine Gesellschaft, in der die Dinge des täglichen Lebens so leichtfertig in Abfall verwandelt würden, das Leben selbst entwerte”. Insofern könne es uns nicht erstaunen, dass so viele der “heute Lebenden die Grundangst kennen, überflüssig zu sein, umgeben wir uns doch mit vielen Dingen, die überflüssig sind, letztlich ohne jeden realen Gebrauchswert.”
Der Soziologe Zygmunt Baumann spricht – in seinem 2005 erschienenen Buch “Verworfenes Leben” – ebenfalls von “überflüssigen Menschen” – deren Zahl fast schon in die Milliarden geht. Wir leben zwar in einer Welt, so Bernhard Kathan, “welche die Angst vor den Toten nicht mehr kennt, aber der Tod ist zur eigentlichen, wenn auch unbewussten Triebfeder des Lebens geworden.” Dazu erwähnt er die in Pflegeheimen verschwindenden Alten, wo sie zufällig zusammengewürfelt und von Menschen gepflegt werden, mit denen sie nichts verbindet, die oft nicht einmal ihre Sprache verstehen: “Sie leben an Orten, an denen sie selbst Gegenstand von Arbeit sind, sie selbst aber keine Aufgabe mehr haben”. Die heutigen Alten “werden ähnlich wie Nutztiere in großen Betrieben bewirtschaftet”. Und in solchen Agrar-Großbetrieben ist die kleinbäuerliche “Improvisation” abgeschafft – zugunsten einer “modernen Lebensmittelproduktion”, in der alle Handlungen “denkbar einfach, planbar und entmischt” sind. “Entmischung bedeutet die Schaffung kontrollierbarer Bedingungen”. Und diese wiederum sind Voraussetzung für die Profitabilisierung alles Lebensäußerungen. Alles wird in Tauschwerte verwandelt, wobei nach und nach ihr Gebrauchswert gen Null tendiert. Wer aus Supermärkten und Billigkaufhäusern “lebt”, wer überhaupt seinen Lebenssinn und seine Freuden nicht mehr in der Arbeit findet, sondern im Konsum, der gibt sich auf und wird nur noch von außen geleitet. Von Moden, Konjunkturen, Neuigkeiten. Der glaubt auch den Versprechungen der Werbung, der Regierung, des Staates. Der frißt jeden Dreck in sich rein, den die Schweinekonzerne ihm preisgünstig anbieten. Für den ist auch die moderne gentechnisch orientierte Medizin wie geschaffen. Und all die damit einhergehenden postfaschistischen Amerikanismen werden ihm zur Generallinie.
7.
Der Dokumentarfilm “Lieber nach Osten als nach Kanada” von Sophie Kotanyi und Ulli Frohnmeyer verfolgte die mehrjährige Enwicklung eines “landwirtschaftlichen Projekts” in Mecklenburg- Vorpommern von Anne Schritt und Wilhelm Höper aus Schleswig- Holstein. Als “weichende Erben” konnten beide den Hof ihrer Eltern nicht übernehmen. Schon immer waren solche Nachgeborenen dort nach Pommern ausgewichen.
Den beiden gelang es 1991, ein 300 Hektar großes kirchliches Gut in Strellin zu pachten, auf dem sie biologisches Getreide anbauen und eine Milchviehproduktion aufbauen wollten. Die Filmemacher sind schon lange mit den beiden befreundet: Ulli Frohnmeyer arbeitete einmal auf dem Hof von Wilhelms Eltern.
Für das junge Bauernpaar galt es erst einmal, sich einzurichten, Arbeitskräfte einzustellen und einen großen Kuhstall zu bauen. Die Landmaschinen wurden auf Kredit gekauft. Zur Einweihung des Stalls gab es ein Dorffest, und der Pfarrer der Nachbargemeinde, Schorlemmer, hielt eine Rede. Inzwischen kann die Ernte als biologisch anerkannt verkauft werden, so daß sich der Betrieb mit seinen 4 bis 5 Mitarbeitern zu einem Drittel davon trägt, ein weiteres Drittel bringt die Milchproduktion, und das letzte kommt über EG-Mittel herein.
Ihren filmenden Begleitern war bei diesem “Aufschwung Ost”- Beispiel wichtig: Wie würden die Nachbarn, das Dorf Strellin und die Mitarbeiter auf die Westler reagieren? Und würden sich diese als Kolonialisten gebärden beziehungsweise als solche angesehen werden? Anne und Wilhelm trafen zunächst tatsächlich auf Skepsis und Mißtrauen. “Wir hatten befürchtet, daß es schwer sein würde, dies zu dokumentieren”, meint Sophie Kotanyi, “aber die ,Einheimischen’ sprachen offen über ihre Gefühle vor der Kamera.” Unerwartete Probleme gab es jedoch umgekehrt – mit Anne und Wilhelm, “die sich bald vor uns fürchteten und versuchten, ein allzu glattes Bild von sich abzugeben. Es plagte sie die Angst, ihre Bemühungen um Akzeptanz in der Gegend könnten gefährdet werden, wenn sie sich offen über die Menschen in ihrer neuen Umgebung äußern würden. Sie versuchten deswegen zu kontrollieren, was in den Film hinein dürfte und was nicht. Neben der Anstrengung des Hof-Aufbaus produzierten wir mit unserer Anwesenheit als Filmteam zusätzlichen Streß. Außerdem bereitete unsere Kamerafrau aus der DDR, Julia Kunert, ihnen Mühe, offen zu ihren Meinungen zu stehen. Uns schubsten sie dafür mehr als einmal, damit wir unsere ,Berührungsängste’ mit den Einheimischen überwanden.”
In “Es lohnt sich heute mehr, nach Osten zu ziehen, als nach Kanada”, so der vollständige Gedanke von Anne, geht es auch um ihre immer noch unklare Rolle zwischen Haushalt, Kindern, Buchhaltung, Vermarktungsaktivitäten und ihrem Anspruch, Mit- Chefin auf dem Hof zu sein. Wilhelms Rolle als Chef ist vergleichsweise einfacher gestrickt, aber auch er – von antiautoritärem Gedankengut angekränkelt und bemüht, kein Besserwessi zu sein – kann und will dabei nicht einfach auf traditionelle Verhaltensmuster zurückgreifen. – Selbst wenn das bisweilen der eine oder andere Mitarbeiter verlangt, der eher autoritär gestrickte LPG-Kader gewohnt war, die zudem quasi wissenschaftlich in “Menschenführung” ausgebildet wurden und ihre Anforderungen stets mit dem “Weltfrieden” begründen konnten. Dafür gab es “früher” keine Entlassungen, selbst bei exzessivstem Alkoholkonsum nicht, wohl aber jetzt – bei dem neuen Gutsherrn, der nicht nur von staatlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen abhängig ist, sondern sich auch noch mit den Zwängen der europäischen Agrarförderung auseinandersetzen muß. Erst lief der Film in Berlin und dann auch im Dorf Strellin – er fand dort viel anerkennende Worte. Wir fragen seitdem die Filmemacher immer mal wieder: Wie geht es Anne und Wilhelm? “Gut, sie haben die Anfangsschwierigkeiten überwunden!”
8.
Die israelische Journalistin Amira Hass lebte einige Jahre in Gaza, dort lernte sie im Flüchtlingslager viele ehemalige Bauern aus Burayr kennen – ein Dorf ganz in der Nähe von Gaza, heute befindet sich dort der Kibbuz Bror Hayil. Die Dörfler waren 1948 vor der anrückenden israelischen Armee, die Dorf für Dorf eroberte, in den Gazastreifen geflüchtet. Dem israelischen Historiker Benny Morri zufolge handelte dabei jedes Dorf als autonome Einheit. Das Dorf als Ganzes beschloß entweder zu kämpfen, mit den jüdischen Nachbarn in Frieden zu leben oder zu flüchten. In Gaza wurden dann aus Bauern Arbeitslose. Da Ägypten sich weigerte, Gaza zu annektieren, wurden die dortigen Flüchtlinge zudem staatenlos. 1967 geriet Gaza unter israelische Verwaltung, in ihren Ausweisen stand jedoch fürderhin nicht mehr: geboren z.B. in Burayr – sondern in “Israel”. Nach und nach fanden die Dörfler dafür Arbeit – auf Baustellen “Innerhalb” (Israels). Sie bauten sich ihre Nothütten im Gaza aus, 1971 wurden jedoch wegen des anhaltenden palästinensischen Widerstands zweitausend von der israelischen Armee zerstört . und viele Leute “zum zweitenmal entwurzelt”.
Nach Beginn der Intifada und der Absperrung des Gaza, wurden sie erneut arbeitslos. Ihren Status als Flüchtlinge aus Burayr veränderten sie erst 1994, als die palästinenische Autonomiebehörde ihre Arbeit aufnahm – indem sie neben ihrer seinerzeit flüchtig gebauten Nothütte ein richtiges festes Haus bauten – erst das Osloer Abkommen machte ihnen klar, “dass wir niemals in unser Dorf zurückkehren werden”. Einige Jahre zuvor , so erzählte einer aus Burayr, war er aber doch noch einmal in seinem Dorf gewesen, wo er in den Ruinen seines Hauses einen eisernen Türpfosten ausgrub, den er dann nach Gaza mitbrachte: “Wir haben ihn für unsere Haustür verwendet”. Ein älterer Mann aus Burayr ging einmal mit seinem Enkel dort hin und zeigte ihm – nur anhand der noch identifizierbaren Baumstümpfe, wo was früher gewesen war. Am Anfang, als sie noch in Zelten lebten, sagte man den Kindern stets, um sie zu beruhigen: “Morgen kehren wir in unser Dorf zurück”. Später verkauften die Leute ihren Grund und Boden in Burayr untereinander – um z.B. Geld zur Ausrichtung von Hochzeiten zu haben. Und wie früher setzten sie sich in Gaza gerne auf die Dächer ihrer Flüchtlingshütten, um zu essen und sich Geschichten zu erzählen, z.B. über “die Schlacht um das Dorf”, wobei die Frauen Oliven einlegen, die jedoch nicht mehr selbst angebaut und geerntet, sondern auf dem Markt in Gaza-City gekauft werden. Der ländliche Tagesrhythmus” insgesamt hat in den Flüchtlingshäusern das Dorf überlebt. Daneben sind die beibehaltenen “religiösen Bräuche, Familienbande, die Arbeiten im Haus” und auch die Art und Weise, wie sie alle zusammen ihren Feierabend in der Öffentlichkeit genießen “Bollwerke gegen das Vergehen der Zeit”.
“Ich wußte, daß die Hoffnung auf Heimkehr nicht realistisch war,” erzählte Abu Ali aus Burayr, wenn er von seinen Phantasien von einer Rückkehr in sein Dorf sprach. “Aber sie gab mir eine Alternative, einen Ausweg aus unserer Situation”. Und egal ob später einer bei der religiösen Hamas oder bei der nationalistischen Fatah Mitglied wurde, man identifizierte sich auch weiterhin zuerst mit seinem Dorf. Auch bei den palästinensischen Wahlen versuchten die Kandidaten die Leute vor allem aus ihren Dörfern zu mobilisieren. Und sogar die Kinder, die in Gaza geboren wurden, sagen, dass sie aus dem und dem Dorf stammen. Auch sie gehören zum dörflichen Zusammenhalt, deswegen gibt es ihrer so viele in Gaza – und ihre Familien tun alles, damit sie eine gute Ausbildung bekommen. “Die Kinder sind unser Haus”, sagt man. Das fing mit den Ägyptern an, die in Gaza nichts in die Infrastruktur investieren wollten, dafür jedoch Schulen und Universitäten kostenlos machten. Hinzu kam noch die Arbeitslosigkeit: “Unsere Armut hat uns stark gemacht und uns Erfahrung gegeben, so daß nichts uns einschüchtern kann”.
9.
Um Material für eine Dokumentation über den bulgarischen Volksgesang zu sammeln, reiste die Sängerin Elwira Niewiera (29) durch die Dörfer der Rhodopenberge. Als erstes trifft sie eine alte Sängerin namens Baba Janka.
Unmittelbar nach meine Ankunft legt Baba Janka ihre Hand auf meine Brust und fängt an zu singen. Ihr kleines Häuschen beginnt von der Resonanz ihrer Stimme zu wackeln. Dabei bleibt ihr Körper so ruhig, als würde gar nicht sie selbst singen. Dann weint sie, weil ich immer noch unverheiratet bin. Sie war das einzige Mädchen im Dorf, das alleinstehend blieb, wegen ihrer Hässlichkeit, wie sie selbst sagt. Über Jahre, immer am 6. Mai, wurde sie auf einer Schaukel sitzend mit Brennesseln geschlagen, denn das bringt Schönheit und Fruchtbarkeit. Der Gesang war dabei ein unverzichtbares Hilfsmittel. Einst war das Heiraten hier das wesentliche Ereignis, wichtiger sogar als die Geburt und der Tod. Heute ist Baba Janka um die 90 Jahre alt und würde der Jugend gerne bei der Ehepartnersuche behilflich sein. “Es ist gar nicht so natürlich, dass man einen lebendigen alten Menschen in Ruhe lässt, gibt es in der Natur einen pensionierten Fuchs?” Ich nehme ihr Angebot an: In einem Jahr “heiratsfähig” wieder zu kommen. Die nächste Station ist das Dorf Ribnova, in dem die Sängerin Kadrje lebt. Kadrje 24 Jahre alt, eine ungewöhnlich hohe spitzige Stimme. Ohne Mikrofon und Keyboard-Begleitung will sie aber für mich nicht singen. Am liebsten möchte sie in das Musikgeschäft als Tschalgasängerin einsteigen. Die traditionellen Volksieder sind ihr zu langweilig geworden. Wie es sich für einen Star gehört, sorgte sie vor ein paar Monaten für einen Skandal. Drei Tage vor ihrer Hochzeitsfeier verschwand sie mit ihrem Handy in die Berge und drohte der Gemeinde mit Selbstmord, falls sie den Mann heiraten müsse.
Im Dorf Satovca lebt die Sängerin Baba Geza, sie ist 82. Die Familie und der Gesang waren die wichtigsten Begleiter ihres Lebens. Heute lebt sie alleine in Satovca. Als kleines Mädchen lernte sie das Singen von ihrer Großmutter. Die nahm sie gerne mit in die Berge, um Holz, Pilze und Kräuter zu sammeln. Rund 500 Lieder hat sie von ihrer Oma vermittelt bekommen. Der Aufbruch zur täglichen Feldarbeit war wie eine Prozession, bei der man Lieder je nach Jahreszeit oder bevorstehender Arbeit sang. “Später haben uns die Kommunisten unsere Felder weggenommen, dafür aber ein Kulturhaus gebaut und wir gingen dorthin singen”. Auf den Küchentisch liegen Papierblätter mit 98 Liedern, die sie aufgeschrieben hat. Ihre Enkelinnen wollen vom traditionellen Gesang nichts wissen. Mit Tränen in den Augen wiederholt Baba Geza mehrmals “Warum, warum, warum?” Trotz allem will sie nicht aufgeben. Vor kurzem sah sie im Fernsehen einen Professor der Plovdiver Universität: ” Er sprach sehr aufrichtig über die bulgarischen Lieder, wenn alles fertig aufgeschrieben wird, fahre ich nach Plovdiv, er soll sie alle haben – die Lieder”.
Im Dorf Pokrowan sind die Jüngsten um 60 Jahre alt. Einmal im Monat lebt das Dorf wieder auf. Durch Megafone des ehemaligen Kulturhauses werden die Bewohner von Pokrovan zur Rentenübergabe aufgerufen. Entmutigt und mit Wut gefüllt sind die Gesichter der Alten auf dem von prallender Sonne erhitzten Betonplatz. Die 15 Euro Rente reichen knapp für Brot und Strom. “Medikamente werden statt täglich, einmal die Woche eingenommen, so reicht es für länger” erzählt uns Zlata Teortchewa von der Caritas Station, die heute für die Kranken die Rente abholt. Das wahre, lebendige Zentrum ist die Schnapsbrennerei am Rande der Gemeinde. Das gut funktionierende Dorfunternehmen ist ein kleines Feldsteinhäuschen mit einer Feuerstelle und zwei Riesenboilern. Jeder der Dorfbewohner kann es in Anspruch nehmen. Es ist wohl die letzte intakte Einrichtung im Dorf. Jeder hat feste Termine und produziert im Durchschnitt um die 200 Liter Schnaps pro Jahr, für eine Kostprobe sind alle willkommen. Die Baba Rada sagt lachend: “Es wäre ein Segen Gottes, wenn unsere Leidenschaft fürs Trinken der tägliche Broterwerb sein könnte”. Ihr selbstgebrannter Feigenschnaps zergeht sanft auf der Zunge. “Zum Singen ist hier seit Jahren niemandem mehr zu Mute,” aber aufsuchen sollen wir die Elena Georgiewa und auch ihre Schwester, sagt sie.
Zum Abschied legt Baba Rada 6 frische Eier in meine Jackentasche und eine Flasche Feigenschnaps dazu. “300 Lieder, alles vergessen, einfach vergessen, gesungen habe ich seit 20 Jahren nicht mehr,” erzählt die 84 jährige Elena, während sie eine Wassermelone für mich aufschneidet. Mühsam versucht sie, sich an ein Lied zu erinnern. Um der Alten auf die Sprünge zu helfen, fange ich selbst an zu singen. Vergeblich. “Vielleicht mit meiner Schwester zusammen?” Elena wirft ein Tuch über den Kopf. In zügigen Schritten laufen wir die Strasse runter. Vor jedem Haus liegen Berge von Tabakblättern, die die Frauen zum Trocknen auffädeln. Aufgeregt erzählt Elena den Nachbarn, dass eine Fremde zum Singen gekommen ist. Ihre Schwester Trendafila wird aus dem Bett geholt. Sie kann kaum laufen. Inzwischen kenne ich einige Rhodopenlieder und überrasche die Alten damit. Die Frauen sind begeistert und fangen selbst an zu singen. Über eine halbe Stunde lang kommt ein Lied nach dem anderen. In den kurzen Atempausen schwelgen die Alten immer wieder in der Vergangenheit.
10.
Die Berliner “Neue Gesellschaft für Bildende Kunst” hat sich um ein besseres Verständnis von Rumänien verdient gemacht – mit ihrer Ausstellung und dem Katalog “Social Cooking Romania”. Es war mir z.B. neu, dass inzwischen 16000 italienische Unternehmen in Rumänien ausbeuterisch tätig sind. Und das auf der anderen Seite bisher über zwei Millionen Rumänen in Italien einen Billigjob gefunden haben oder ihn dort noch suchen. Da sieht man plötzlich die Tat eines durchgedrehten obdachlosen Rumänen, der am Stadtrand von Rom eine Italienerin erstach, in einem anderen, sozusagen tieferen Licht. “Die Gewalttat löste in Italien eine Ausländer-Raus-Stimmung selbst unter Linken aus, und eine Krise in den Beziehungen zu Rumänien”, schrieb “Die Zeit”. Die italienische Mitte-Links-Regierung erließ sofort eine “Notverordnung” mit der kriminelle Ausländer nun schneller abgeschoben werden können. Mit einer solchen Forderung – auch für Deutschland – bestritt schon weniger später der CDU-Ministerpräsident von Hessen, Ronald Koch, seinen Wahlkampf.
“Das Thema ‘Social Cooking’ wird meiner Ansicht nach besonders spannend, wenn man bedenkt, dass sich Rumänien während der letzten Jahrzehnte in einer Übergangssituation befand,” schreibt Horea Avram. Er ist einer von 27 Künstlern, die an der NGBK-Ausstellung beteiligt sind. Sie thematisierten das ganze Spektrum der Ernährung: Angefangen mit der rumänischen Landwirtschaft, die privatisiert wurde, wobei gemäß den EU-Vorgaben (Hygienevorschriften, Milchquoten etc.) 90% der 4,2 Millionen Bauern, das sind die, die weniger als 5 Hektar bewirtschaften, aufgeben müssen (damit die übrigen Betriebe konkurrenzfähiger werden). Künstlerisch bearbeitet wurde darüberhinaus auch das Ernten, Schlachten und die Lebensmittelverteilung. Derzeit erwirtschaften die 30% der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft arbeiten, nur noch 13% des Bruttoinlandsprodukts. Und schließlich widmeten sich die Künstler dem “Vorgang des Kochens und des Essens”. Simina Badica-Bucurenci schreibt: “Im Rumänien der 1980er-Jahre stand man Schlange” – lange und oft vergeblich. Es gab Schlangen, “in denen es drunter und drüber ging” und es sogar zu Prügeleien kam, aber auch andere, die selbst vorbildlich organisiert waren – und in denen die “Mitglieder der Schlange mit dem Verkäufer bestimmten, wie viel gekauft werden durfte: ein Stück Butter pro Person, ein Kilo Fleisch, ein Kilo Orangen.” Die damals Kinder waren, erinnern sich an diese Warteschlangen “als eine Art urbaner Spinnstube”. Die Autorin zitiert abschließend den englischen Historiker E.P.Thompson: “Der Markt war der Ort, an dem die Menschen,, weil sie zahlreich waren, für einen Augenblick fühlten, dass sie auch mächtig sein könnten.” Aus dieser widersprüchlichen Situation gerieten die Rumänen nach der Wende abrupt in eine “Konsum-Ekstase”.
Und dieser noch andauernde Übergang scheint für die Kunst produktiv zu sein, weswegen es eine ganze Reihe von Künstlern in Rumänien gibt, die sich mit der Ernährung und dem Vorgang des Kochens befasst haben. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil Rumänien von Agrarkonzernen wie Monsanto geradezu überfallen wurde – und nun in der EU führend ist beim Anbau von genveränderten Lebensmitteln: Mais, Auberginen und vor allem Soja (100.000 Hektar bis jetzt). Erinnerlich ist den Rumänen vor allem noch die “Sojawurst”, die ihnen zu einem Symbol für “die Zeit des Mangels” wurde. Während diese West-Konzerne immer mehr Fuß fassen, wird gleichzeitig den Produkten der Kleinbauern mit allen möglichen Verordnungen der EU der Marktzugang versperrt. Nicht einmal mehr ihren Schnaps (Tuica) dürfen die Rumänen bald selbst herstellen. Und die einstige “Kornkammer Europas” muß inzwischen sogar Getreide impotieren. Auf diese Weise wurde und wird dem Land “das Essen zum Bestandteil der zeitgenössischen Mythologie”.
Einer der Künstler drehte einen Film über Mehl “als ausdrucksstarke Materie” – mit dem Titel “Durchkneten”. Dan Mihaltianu erinnert sich im Katalog, das nach 1989 das “Vakuum in den Läden mit eingelagerten Waren aus der Ceausescu-Zeit gefüllt” wurde. Ihnen folgten die “Hilfsgüter”-Lieferungen aus Westeuropa, u.a. Walfleisch aus Dänemark. Parallel dazu entstand in der so genannten “Kent-Straße” am Rande von Bukarest ein immer größer werdender Schwarzmarkt. Die Westprodukte schlugen sich in der Alltags-Sprache nieder: So hießen z.B. Schweinefüße “Adidas” und Schweineköpfe “Computer”. “Die dritte Phase in der Lebensmittelversorgung wurde durch den explosionsartigen Zuwachs an Supermärkten in den großen Städten eingeläutet: Metro, Billa, Carrefour, Penny, Plus, Mega Image, Auchan, Cora, Kaufland…” Dan Mihaltianu sieht in der Beeinflussung der rumänischen Kunst über ihre Finanzierung durch die New Yorker Soros-Stiftung eine analoge Entwicklung, die er insgesamt als “McDonaldisierung” begreift.
Matei Bejenaru hat aus spanischen Erdbeeren, die von rumänischen Landarbeiterinnen gepflückt wurden, Marmelade gekocht und in Gläsern abgefüllt. Neben dem normalen Etikett klebte er noch ein weiteres, mit dem er darüber informiert, dass die Pflückerinnen 3 Euro 29 in der Stunden verdienten. Zoltan Rostas und Sorin Stoica haben eine der Pflückerinnen interviewt, die für drei Monate nach Spanien ging, um von dem Geld ihren Kindern einen Computer zu kaufen – aber eigentlich “bin ich aus Verzweiflung weggegangen”, sagt sie. In Bukarest mußte sie erst einmal beim Amt für Arbeitsmigration “fünf Stunden lang Schlange stehen”, Vordrucke ausfüllen, einen Paß beantragen, wieder Schlange stehen, eine Woche lang jede Menge medizinische Untersuchungen und sogar psychiatrische Tests über sich ergehen lassen, dann das Personal bestechen, Gebühren bezahlen usw….Während dieser Zeit “dachte ich, dass ich noch durchdrehe.” Aber ihrem “Gesuch” wurde schließlich stattgegeben: “Ich durfte nach Spanien fahren.”
Dort warteten schon die Arbeitgeber auf den Frauenbus aus Rumänien. Der eine wollte “10 Mädchen, davon 3 Nichtraucherinnen”, der andere “14 Mädchen, alle Nichtraucherinnen”. Die Interviewte kam mit ihrer Mädchengruppe auf einer Erdbeerfarm unter, wo man sie in einem “getünchten Stall” einlogierte. Trotzdem befand sie am Ende – nach drei Monaten: “na ja, es war gut, warum sollte ich lügen.” Ihr gespartes Geld reichte für viele Geschenke, sie erweiterte ihren Horizont und gewann im getünchten Stall neue Freunde, mit denen sie noch einmal als Erdbeeerpflückerin nach Spanien fahren will: “so bald wie möglich”.
Die Künstlerin Aura Cumita widmete sich der rumänischen Agrarpolitik. “Aus historischer Sicht hat die rumänische Bauernschaft – aus dem Altreich, der Moldau und der Dobrudscha – keine sehr lange Tradition im Bewirtschaften privater Höfe.” Genaugenommen begann und endete diese in der Zwischenkriegszeit. Daraus, wie sich ihr jetzt mit der EU-Förderung und den -Bestimmungen, die vor allem dem ausländischen Kapital entgegenkommen, der rumänische Agrarsektor darstellt, zieht Aura Cumita den Schluß: “Wir werden also Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gebündelt wiederfinden, in einem Produkt, dessen Zielgruppe Leute mit einer sehr hohen Kaufkraft sind.” Das Land vollzieht dabei “wie im Zeitraffer” alle westeuropäischen Prozesse auf dem Land nach, wo es heute ebenfalls um die Vermarktung von Regionen geht, die sich in “Standortkonkurrenz” zueinander befinden, wobei die Bauern hier nur noch eine Minderheit darstellen (in Deutschland weniger als 1% der Bevölkerung). In Rumänien sind es noch fast 50%.
Hilke Gerdes schreibt: “Ein Zusammenschluss zu Genossenschaften scheint hier der einzige Lösungsweg zu sein, dem steht aber die weit verbreitete Abneigung gegen alle Kollektive im Weg.” Alleine haben sie nicht genug Kapital, um ihre Produkte weiter zu verarbeiten. Und hierbei zu improvisieren, verbieten die EU-Richtlinien, u.a. gibt es für gebrauchte Produktionsanlagen keine EU-Kredite, neue können sich jedoch nur die Westkonzerne leisten, was zur Folge hat, dass die EU-Subventionen wieder aus dem Land fließen – und “Friesland, Danone, Dorna und Hochland bereits 40% der milchverarbeitenden Industrie in Rumänien besitzen.
Ob all dieser Übergansgphasen – hin zu einer “atomisierten Gesellschaft” in “Konsum–Ekstase” kommt Irina Cios zu dem Ergebnis, dass es in Rumänien geradezu eine “Obsession des Essens” gibt… “Vor diesem Hintergrund gleicht das Soziale einer mit sämtlichen Zutaten ausgestatteten Küche, in der die Künstler – entgegen dem Zeittrend – eines oder mehrere Gerichte kochen können”. Irina Cios’ Beitrag zur Ausstellung besteht u.a. in einer Reihe von Interviews mit in Rumänien lebenden Bürgern aus europäischen Staaten, denen sie die Frage stellte: “Was sie von der Idee halten, in Rumänien eine Schneckenfarm zu gründen.”
11.
In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hielt vorgestern der Leiter des Harvard-“Center for European Studies” David Blackbourn die “Besondere Vorlesung” – über “Landschaft und Umwelt in der deutschen Geschichte”. Organisiert wurde die Veranstaltung von der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Akademie “Globaler Wandel – Regionale Entwicklung” und ihrer acatech-Arbeitsgruppe “Georessource Wasser” – im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2009 “Forschungsexpedition Deutschland”. Sie hatten Blackbourn als Autor eines Buches über deutsche Umweltgeschichte – “Die Eroberung der Natur” – eingeladen, das hierzulande auf großes Interesse gestoßen war. So beschäftigte die taz sich gleich mehrmals mit dem Buch und in ihrer Beilage “Le Monde Diplomatique” veröffentlichte Neal Ascherson einen zweiseitigen Text dazu: “Herren der Landschaft” betitelt. Er gipfelte – ganz im Sinne von Blackbourn – in einer Kritik des deutschen “grüne Denkens”, das eine “totale Verantwortung des Menschen” für seine Umwelt reklamiere: Ein Anthropozentrismus, der “die realitätsferne Vorstellung eines ‘Gleichgewichts der Natur’ beinhaltet – als ob in der Umwelt zu Lande wie zu Wasser eine konstante und unveränderliche ökologische Balance herrsche, die nur durch die Intervention der Menschen ‘aus dem Lot’ gebracht würde.”
Bereits 2002 hatte der grüne Umweltminister Jürgen Trittin den auf Deutschland spezialisierten Umwelthistoriker Blackbourn zu einer Tagung über “Nationalsozialismus und Naturschutz” eingeladen. Dabei, so führte er in der Akademie nun aus, gab es über den Zweiten Weltkrieg hinaus eine Kontinuität, aber zu Zeiten des Umweltkanzlers Willy Brandt “machte die Sache des Naturschutzes einen Linksruck.” Im übrigen seien die seit 250 Jahren erfolgten “Eingriffe in die Natur” – speziell die Trockenlegung des Oderbruchs, die Veränderung des Rheintals und die Errichtung der Stauseen im Sauerland – “nicht nur negativ gewesen”; zudem im Vergleich mit den “großen hydrologischen Projekten” der Sowjetunion und den USA noch harmlos. Aber die “Wasserkriege” wurden in Deutschland nicht selten mit Hilfe des Militärs angegangen und dienten ihm auch insofern, als die Trockenlegung der Sümpfe und Moore den Deserteuren ihre Verstecke nahm. Blackbourn beruft sich dabei auf eine äußerst gründliche, aber auch kleinräumigere Studie der Berliner Historikerin Rita Gudermann über die Kultivierungsprojekte in Westfalen und Brandenburg mit dem Titel “Morastwelt und Paradies”. Ihrem Werk, das sich auf den Zeitraum von 1830 bis 1880 beschränkt, ist zu entnehmen, dass der Meliorationsprozeß keinesfalls linear “vom Schlechteren zum Besseren verlief, sondern ganz im Gegenteil von harten Auseinandersetzungen geprägt war.” Er nahm nämlich den Armen das Gemeindeland (Allmende) und privatisierte es. Dadurch kam es auch auf dem Land zu einer Spaltung zwischen Konsumenten und Produzenten.
Obwohl Blackbourn für die Geschichte – z.B. der deutschen Moorgebiete – so unterschiedliche Quellen wie die Balladen von Annette von Droste-Hülshoff, Pollenanalysen und Moorarchäologie heranzieht, kommen die gravierenden sozialen, ökonomischen und politischen Folgen der “Umgestaltung der deutschen Hydrologie” bei ihm viel zu kurz. Von den Nutzern, zwischen denen jeder Eingriff in die Natur “Zwietracht sähte”, erwähnt er nur Jäger/Fischer, Bauern, Binnenschiffer, Wassermühlenbesitzer, die Industrie, Badende/Touristen und die auf das Trinkwasser Angewiesenen. Wenn man Blackbourns Studie mit der von Rita Gudermann und mehr noch mit den auf das Oderbruch beschränkten Arbeiten des Eberswalder “Büros für Landschaftskommunikation” (siehe taz v. 19.6.2008) vergleicht, dann ist es eher ein populärer Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte als eine (neue) Umweltgeschichte. Dafür spricht auch, dass Blackbourn als “typisch deutsch” in dieser Hinsicht nur unsere (übertriebene) Liebe zum Wald gelten läßt, der jedoch nicht sein Thema, sondern das seines ähnlich populärwissenschaftlich ambitionierten Harvard-Kollegen Simon Schama ist.
Mehr zur Trockenlegung und Wiederversumpfung von Ländereien: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/04/01/deutscher_sumpf/
12.
Wenn man in Rom eine Kartoffel mit der rechten Hand über die linke Schulter in den Trevi-Brunnen wirft, dann sollen angeblich alle Wünsche wahr werden. Dieser Aberglaube wird von der Stadtverwaltung wissenschaftlich, genauer gesagt: volkswirtschaftlich gewendet, indem man die 200.000 Kilogramm, die Bedienstete jährlich aus dem Brunnen fischen, verkauft. Siehe dazu auch “Macht und Magie in Italien” von Thomas Hauschild – eine ethnologische Studie, die sich bemüht, die Aufklärung nicht schlicht gegen den Aberglauben ins Feld zu führen. So wie es z.B. noch Friedrich Engels tat, als er sich 1878 kurz der “Geisterwelt” zuwandte. Er war noch äußerst optimistisch, dass die aufklärerisch-wissenschaftliche Arbeit diesem Spuk früher oder später ein Ende bereiten werde. “Hat es aber schon die Arbeit von Jahrtausenden erfordert, bis wir einigermaßen lernten, die entferntern natürlichen Wirkungen unsrer auf die Produktion gerichteten Handlungen zu berechnen, so war dies noch weit schwieriger in bezug auf die entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen dieser Handlungen.” Dazu erwähnt Engels den Anbau der Kartoffel in Europa “und in ihrem Gefolge die Ausbreitung der Skrofeln.” Dabei handelt es sich um leichte Vergiftungen, hervorgerufen durch den Verzehr der grünen Teile von Kartoffelpflanzen: Die Forschung hat dieses anfangs aus Unkenntnis entstandene Problem schnell beseitigt. Danach stand dem massenhaften Anbau und Verzehr von Kartoffeln in Europa erst einmal nichts mehr im Weg. Um auf den unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad von “natürlicher” und “politischer Ökonomie”, von Natur und Kultur, zu sprechen zu kommen, fragte Engels weiter: “Was aber sind die Skrofeln, gegen die Wirkungen, die die Reduktion der Arbeiter auf Kartoffelnahrung auf die Lebenslage der Volksmassen ganzer Länder hatte, gegen die Hungersnot, die 1847 im Gefolge der Kartoffelkrankheit Irland betraf, eine Million fast nur kartoffelessender Irländer unter die Erde und zwei Millionen über das Meer warf.”
Danach wurde dann der Kartoffelkäfer zum Problem. Während die Kartoffel aus Südamerika stammt, kommt der Käfer aus Nordamerika, genauer gesagt: aus Colorado, weswegen man ihn in den USA auch “Colorado Beetle” nennt. Seine ursprüngliche Nahrungspflanze war die Büffelklette (Solanum rostratum), die auch zur Familie der Nachtschattengewächse gehört. Den Übergang auf die Kartoffel ermöglichte ihm das Vordringen der weißen Siedler, die Kartoffeln aus Europa mitbrachten und anbauten, “so wurde dem Käfer seine neue Nahrungspflanze praktisch entgegengebracht”, heißt es bei Wikipedia. In Europa hatte der Kartoffelkäfer keine natürlichen Fressfeinde, seine Warnfarben schützten ihn. Erst in den letzten Jahrzehnten begannen einheimische Vogelarten, u.a. Fasane, den Kartoffelkäfer als Beute anzunehmen. Vor allem versucht man, der Käferplage durch Chemikalien und eine gezielte Infizierung der Käfer mit dem Bacillus thurengiensis Herr zu werden. Auf kleineren Feldern wird er auch heute noch meist per Hand aufgelesen und vernichtet.
Im Zweiten Weltkrieg behauptete die Nazi-Propaganda, dass die Amerikaner Kartoffelkäfer als biologische Waffe einsetzen würden, indem sie sie aus der Luft über deutsche Felder abwürfen. Als um 1950 herum fast die Hälfte aller Kartoffelfelder in der DDR vom Kartoffelkäfer befallen wurde, machte die staatliche Propaganda erneut die Amerikaner dafür verantwortlich. Gleichzeitig mobilisierte die DDR-Regierung alle Schüler und Studenten, um die “Amikäfer” und seine Larven auf den Feldern abzusammeln. Unterdes forderte die amerikanische Regierung von der Bundesrepublik Deutschland, propagandistische Gegenmaßnahmen zu unternehmen. Diese beschloss daraufhin einen Postversand an sämtliche Gemeinderäte der DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem aufgedrucktem “F” für “Freiheit”. Die etwas unglückliche Aktion bestärkte die DDR noch in ihrer Annahme, es mit einer großangelegten US- bzw. Nato-Sabotageaktion zu tun zu haben, die darauf abzielte, eine Hungersnot in den sozialistischen Ländern herbeizuführen. Auch Polen wurde 1950 über die DDR von einer Kartoffelkäferplage heimgesucht: “Unerhörtes Verbrechen der amerikanischen Imperialisten”, titelte im Mai die “Trybuna Ludu”. Bis dahin war man dort davon ausgegangen, dass es die deutsche Wehrmacht gewesen war, die 1939 den Kartoffelkäfer in Polen eingeschleppt hatte. Die Deutschen hatten dort im 18 Jahrhundert auch schon die Kartoffel eingeführt, weswegen man die Knollen in Polen als “Berliner” bezeichnete. 1950 wurde nun ebenfalls das halbe polnische Volk mobilisiert, um der Kartoffelkäferplage Herr zu werden. Bereits 1946 war dazu eine Kampfschrift: “Der Kartoffelkäfer – ein bunter Saboteur” von Irena Ruszkowska veröffentlicht worden. (3)
2001 stand die Kartoffel in Polen erneut im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit: Die Danziger Künstlerin Julita Wojcik hatte eine Performance in einer Warschauer Galerie angekündigt, die darin bestand, dass sie 50 Kilogramm Kartoffeln schälen wollte. Das sei keine Kunst, wurde ihr daraufhin vorgeworfen, ihr gehe es nur um den Skandal, denn “nach der Performance würden die Kartoffeln nicht verzehrt, es handle sich also um Verschwendung und Rowdytum,” schreibt Sebastian Cichocki in “Alphabet der polnischen Wunder”. 2006 wurde der polnische Präsident Lech Kaczynski von der Berliner tageszeitung mit einer Kartoffel verglichen, woraufhin dieser eine offizielle Entschuldigung von Deutschland, mindestens von der tageszeitung verlangte. Das tat der taz-Journalist, Peter Köhler, auch – allerdings nicht beim Präsidenten, sondern bei der Kartoffel.
2007 wurde in Deutschland die Sorte “Linda” zur Kartoffel des Jahres erklärt. Es gibt sie seit 1974, kreiert hat sie das Pflanzenzuchtunternehmen “Europlant”, das 2004 den Sortenschutz, der bis 2009 gültig war, an das Bundessortenamt zurückgab, weil die Firma inzwischen eine neue Sorte gezüchtet hatte, die ihr noch profitabler als “Linda” dünkte. Die Kartoffelanbauer, aber auch viele Konsumenten, die sich inzwischen an Linda gewöhnt hatten, protestierten dagegen. Im Kartoffelanbaugebiet Lunestedt, zwischen Bremen und Hamburg gelegen, sowie in Barum bei Lüneburg gründete sich zur Rettung der alten Sorte erst ein regionaler “Linda-Freundeskreis”, der sich bemüht, sie wieder – für viel Geld – zugelassen zu bekommen, nicht nur in Deutschland, und sodann eine bundesweite “Ackerfront”, in der u.a. die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und der Verband “Bioland” sowie der Verein “Slow Food Deutschland” vertreten sind. Die “Ackerfront” hat nun zusammen mit dem Künstler Torsten Haake-Brandt eine “Hommage an die beste Kartoffel der Welt” in Form eines Buches veröffentlicht – im Berliner “Karin Kramer Verlag”. Die Autoren stammen zumeist aus Lunestedt und Umgebung: “Kartoffelbauern wie die Familie Wrede, Erntehelfer, Freunde und Liebhaber der Kartoffel. Sie alle leben mit Linda in enger Verbundenheit,” schreibt Haake-Brandt im Vorwort. Einer, Jürgen Bahlmann, bezeichnet darin die Züchter von Europlant als “Agrarhampelmänner” und meint, dass sich ihre Linda-Ersatzsorte “Belana” wie eine Slipeinlage anhöre. Bis der Streit mit der Firma, die laufend gegen die Linda-Rettungsaktivitäten klagt, ausgestanden ist, hat er für seine Kartoffeln eine “provisorische Insellösung” – im Blumentopf – gefunden, wie er schreibt und mit einem Photo beweist. Andere Beiträge beschäftigen sich z.B. mit Kartoffelroder, Kartoffelschälen, Kartoffelschnaps und dem eingangs bereits erwähnten Kartoffelwerfen in Rom.
Bei der “Ackerfront” und ihren Buchautoren handelt es sich um eine westdeutsche Initiative. Das eigentliche Kartoffelanbaugebiet war jedoch Ostdeutschland: Einmal wegen der sandigen Böden in weiten Teilen des ostelbischen Junkerlandes und zum anderen wegen der großflächigen Anbaumöglichkeiten. Hier galt z.B. der mehrmalige Gutsverwalter und spätere Schriftsteller Hans Fallada als “Kartoffelexperte” – angeblich konnte er fast 1000 Sorten auseinanderhalten. Nun macht dort in Brandenburg seit einigen Jahren eine Initiative für “nicht-kommerzielle Landwirtschaft” (NKL) von sich reden. Sie begann unter der Parole “Kartoffeln für alle!”, wozu u.a. auch solche von der Sorte Linda gehören. Dazu verschickten die Diplomlandwirte von der “Lokomotive Karlshof” 2006 einen “Aufruf zur Selbstorganisierung” an rund 200 Wohn- und Landprojekte, um deren Bedarf an Kartoffeln zu erfassen. Sie kamen schließlich auf 4150 Kilogramm, woraufhin sie auf 0,7 Hektar Kartoffeln pflanzten. Mit 50 Helfern ernteten sie dann 4,5 Tonnen. 2007 erweiterten sie wegen des gestiegenen Bedarfs die Anbaufläche auf über einen Hektar, bekamen jedoch Probleme mit dem Kartoffelkäfer. 2008 ernteten sie bereits 15 Tonnen, die Erntehelfer wurden immer weniger, dafür schafften sie sich immer mehr Maschinen an. Ein Teil der Ernte wird in Berlin über sogenannte “Kartoffelcafés” abgesetzt. In ihrer Broschüre “NKL – ein Erfahrungsbericht” heißt es, dass sie über das “Kartoffel-Experiment” hinausgehen wollen – und müssen: “Schritt für Schritt wollen wir auch diese Herausforderungen angehen und im NKL-Rahmen finanzieren. So läuft gerade eine Finanzkampagne an, um Geld für einen größeren Traktor und weitere Bodenbearbeitungsmaschinen zu organisieren, die wir für die Grundbodenbearbeitung benötigen. Wir glauben, dass das ‘Netz’ aus vielen es schafft, auch für die nächsten Jahre die Finanzierung in Angriff zu nehmen, und das gibt uns Mut.” Die Finanzkampagne der NKL besteht im wesentlichen aus Spendenaufrufen
Dazu merkt einer ihrer Erntehelfer aus der Nachbarschaft, dem es ziemlich viel Spaß gemacht hat, mit ca. 20 anderen Kartoffeln aufzusammeln, an: “‘An die Stelle des ökonomischen Werts der Dinge als indirekte und feteschistische Vermittlung trete die menschlich-soziale Kommunikation als direkte Vermittlung, die den kapitalistischen Irrationalismus ausschließe’. Wenn ich dieses Marx-Zitat richtig verstanden habe, heißt das, dass sich die Kartoffeln vom Lebensmittel zum Kulturgut verwandeln. Und so hab ich es auch erfahren, die Arbeit verwandelt sich in ein Ferienlager. Das hat was von vorweggenommener Utopie. Aber ein wenig absurd find ich es doch, wenn den Lebensmitteln, die ich mit produziert habe, auf der einen Seite ihr Geld-Wert entzogen wird, und auf der anderen Stelle, begründet mit der praktischen Kapitalismuskritik, wiederum Geld-Mittel eingeworben werden müssen, um NKL möglich zu machen.”
Ich möchte dazu abschließend bloß noch anmerken, dass die Kartoffel schon bei den Inkas ein “Kulturgut” war und es erst recht jetzt in Form und Substanz der Sorte “Linda” ist. Kultur beschränkt sich nicht nur auf die Assoziation von Subjekten, sondern schließt auch die Objekte mit ein, um so mehr, wenn sie – wie in diesem Fall die Kartoffeln – gewissermaßen im Lebensmittelpunkt stehen. Es ist aber noch ein weiter Weg, bis wir wirklich von der Naturgeschichte der Art “Kartoffel” (Solanum tuberosum) und der Zuchtsorte “Linda” zur Kulturgeschichte der Kartoffel Linda – als Individuum – kommen. Dazu oder dabei müßte erst einmal die Dichotomie von Natur und Kultur (Gesellschaft) und die von Objekt und Subjekt überwunden werden.
In diesen neodarwinistischen Restaurationszeiten geht es jedoch wohl erst einmal in die entgegengesetzte Richtung:
So kam bei den Bundestagswahlen 2009 eine Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDPzustande. Diese Parteien handelten daraufhin einen Koalitionsvertrag aus – in dem die IG Bauen Agrar Umwelt Seltsames entdeckte: “Es findet sich darin kein einziges Wort zum Schuldenabbau, wohl aber über eine vom Konzern BAYER entwickelte Kartoffelsorte: ‘Der Anbau der gentechnisch veränderten Stärkekartoffel Amflora für eine kommerzielle, industrielle Verwertung wird unterstützt,’ heißt es im Regierungsvertrag von CDU/CSU und FDP. Der Konzern bemüht sich seit zwölf Jahren um eine Zulassung für die Kartoffel. Jetzt sehe man, wer der Regierung die Feder führe, meinen Kritiker der Gentechnik.” (4)
Anmerkungen:
(1) Im Internet findet sich dazu die Eintragung: Alle grünen Teile der Pflanze, die Beeren und die am Licht ergrünten Teile der Kartoffel, enthalten das für die Gattung Solanum typische Glyko-Alkaloid Solanin, das eine unangenehme Hautreizung hervorruft, leicht zu verwechseln mit den Skrofeln. Und das neue Gewächs roch in den Blättern anders als die bisher gekannten Pflanzen. Wenn Lager- oder Winterkartoffeln ungeschützt im Freien liegen, so werden sie grün. Nach ein bis zwei Tagen werden sie giftig und können weder gegessen noch verfüttert werden.
“Ein hübscher Knabe namens Brosi besaß einen Raben,/ der hatte aber im Herbst zu viele junge Kartoffeln ins Futter bekommen und war gestorben und … begraben”, schrieb Hermann Hesse. Die Blätter und Knollen sind dann stark blausäurehaltig. Insofern ist verständlich, wenn behauptet wurde, der Genuß der Kartoffeln rufe Aussatz, eine der gefürchteten Krankheiten jener Zeit, hervor. Sicherlich hat eine Rolle gespielt, die Knollen zwar zu kochen, aber nicht zu schälen oder zu pellen. Kartoffeln wurden auch in Preußen-Brandenburg verantwortlich gemacht für Gicht, Bleichsucht, Hautausschläge und Rheumatismus sowie für andere Krankheiten.
Karl Marx diskutierte das Kartoffelproblem etwas anders: “die Kartoffel, die Baumwolle und der Branntwein sind Gegenstände des allgemeinsten Gebrauches. Die Kartoffeln haben die Skrofeln erzeugt; die Baumwolle hat zum großen Teil die Schafwolle und das Leinen verdrängt, obwohl Leinen und Schafwolle in vielen Fällen von viel größerem Nutzen sind, sei es auch nur in hygienischer Beziehung. Endlich hat der Branntwein über Bier und Wein gesiegt, obwohl der Branntwein als Genußmittel allgemein als Gift anerkannt ist. Während eines ganzen Jahrhunderts kämpften die Regierungen vergeblich gegen das europäische Opium; die Ökonomie gab den Ausschlag, sie diktierte dem Konsum ihre Befehle. Warum aber sind Baumwolle, Kartoffeln und Branntwein die Angelpunkte der bürgerlichen Gesellschaft? Weil zu ihrer Herstellung am wenigsten Arbeit erforderlich ist und sie infolgedessen am niedrigsten im Preise stehen. Warum entscheidet das Minimum des Preises in bezug auf das Maximum der Konsumtion? Vielleicht etwa wegen der absoluten Nützlichkeit dieser Gegenstände, wegen der ihnen innewohnenden Nützlichkeit, wegen ihrer Nützlichkeit, insofern sie auf die nützlichste Art den Bedürfnissen des Arbeiters als Mensch und nicht des Menschen als Arbeiter entsprechen? Nein – sondern weil in einer auf das Elend begründeten Gesellschaft die elendesten Produkte das naturnotwendige Vorrecht haben, dem Gebrauch der großen Masse zu dienen. (aus: “Das Elend der Philosophie”)
(2) Die Kartoffelkrankheit “Braunfäule” ist ein mit der Kartoffel aus Südamerika eingeschleppter Schmarotzerpilz, der zwischen 1845 und 1850 nahezu alle in Europa angebauten Kartoffeln erfaßte. “Als wirksamstes Mittel gegen den Pilz hat sich das zwei- bis dreimalige Bespritzen der Pflanzen mit einer fein zerstäubten Kupfervitriolkalklösung (Bordelaiser Brühe) bewährt,” schreibt Meyers Lexikon. 2002 gelang Forschern des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung in Köln die Isolierung eines Gen, das Kartoffeln vor dieser sog. “Kraut- und Knollenfäule” schützt: Das zum Resistenz-Gen R1 gehörende Protein alarmiere die Kartoffelzellen, wenn eine Pilzspore eindringe. Weltweit richtet der Erreger der Ernteschäden von rund zwei bis drei Milliarden Euro jährlich an. Unter Leitung von Christiane Gebhardt sei es dem Kölner Forscherteam gelungen, das Gen R1 auf dem fünften von zwölf Chromosomensträngen der Kartoffel aufzuspüren und zu isolieren, teilte die Max-Planck-Gesellschaft mit. Das Gen codiere ein Protein von etwa 1300 Aminosäuren, die im Fall von Eindringlingen eine hypersensitive Reaktion in der Pflanzenzelle auslösten. Die Zellwände würden dicker, so dass sich die Pilzsporen nicht ablagern könnten. Außerdem stoße die Zelle Stoffe aus, die für den Erreger (Phytophthora infestans) giftig sind. Mit dem isolierten Gen hätten die Wissenschaftler nun “eine Art Prototyp” in der Hand, erklärte der MPI-Mitarbeiter Agim Ballvora. Im Erbgut der Kartoffel lägen mehrere andere Resistenzgene in unmittelbarer Nähe, darunter Gene zur Abwehr des Fadenwurms (Globodera). “Wir hoffen, dass die verschiedenen Resistenzgene eines Tages so weit erforscht sind, dass wir den gesamten Abwehrmechanismus der Kartoffel verstehen und für die Entwicklung neuer Sorten nutzen können”, sagte Ballvora.
(3) An einer Stelle geht es darin um einen Lehrer, der die Kinder und Erwachsenen über die mit der US-Sabotageaktion verbundenen Gefahren aufklärt, um sie zum Kampf gegen die Kartoffelkäfer zu motivieren: “Wenn der Feind die Oberhand gewinnt, wird die Kartoffel vielleicht eines Tages zu einer Delikatesse, die nicht für jedermann erschwinglich ist, so wie Orangen oder Bananen.”
(4) Am 11.6.09 hatte dpa zunächst gemeldet: “EU-Behörde bestätigt Sicherheit von Gen-Kartoffel – Die genveränderte Kartoffel Amflora ist nach einem Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) sicher für Mensch und Umwelt. Ungeachtet von Unsicherheiten seien schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt nach derzeitigem Wissensstand unwahrscheinlich, teilte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) in Parma in Italien mit. Es gebe aber Unsicherheiten bei der Prüfung und Bewertung. Für Amflora lag bisher keine EU-Zulassung vor. Der Chemiekonzern BASF teilte mit, damit habe die EFSA erneut die Sicherheit von Amflora bestätigt. Die Bundesregierung hatte den Versuchsanbau zugelassen. Die Industrie will die Kartoffel zur Stärkegewinnung nutzen.”
Am 19.6. kam jedoch die Nachricht: “Keine Zulassung für Stärkekartoffel Amflora. Der Chemiekonzern BASF hatte sich zu früh gefreut. Vergangene Woche hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) erneut eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für die gentechnisch veränderten Stärkekartoffeln Amflora der BASF ausgestellt.” Negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt seien “den derzeitigen Erkenntnissen zufolge unwahrscheinlich”, heiß es in dem Efsa-Papier. “Wir hoffen, dass die derzeitige EU-Kommission nun handelt”, sagte BASF-Vorstand Stefan Marcinowski. Die Stellungnahme gebe der “gesamten EU-Kommission die abschließende Klarheit, um Amflora zuzulassen”. Doch angesichts der EU weiten Widerstände gegen Gentech-Pflanzen wird die Kommission die Amflora-Zulassung nicht weiter betreiben. In den vergangenen Jahren musste die EU-Kommission mit ihren industriefreundlichen Gentech-Entscheidungen im Ministerrat eine Niederlage nach der anderen einstecken. Für keine in den letzten Jahren erteilte Gentech-Genehmigung hatte die Kommission eine Mehrheit im Ministerrat hinter sich. Diese Situation soll jetzt beendet werden. Die Kommission werde auch bei Amflora nichts gegen die im Ministerrat vorherrschende Position zu gentechnisch veränderten Organismen unternehmen, verkündete vor wenigen Tagen der zuständige EU-Generaldirektor für Umwelt, Karl Falkenberg. Praktisch heißt das: Obwohl die EU-Kommission den Vertrieb und Anbau der Stärkekartoffel zulassen könnte, wird sie es nicht tun. Denn bisher gab es auch dafür im Ministerrat keine qualifizierte Mehrheit. Für die BASF muss das wie ein Wortbruch klingen. Im Mai vergangenen Jahres hatte Kommissionspräsident José Manuel noch erklärt, sobald das Efsa-Gutachten vorliege, werde die Zulassung erfolgten. Vor zwölfeinhalb Jahren schon hatte BASF den Genehmigungsantrag bei der EU eingereicht. Als ein Problem stellte sich jedoch heraus, dass die Kartoffeln aus technischen Gründen ein Resistenzgen für ein Antibiotikum enthalten, das auch medizinisch genutzt wird. Nach den derzeit gültigen EU-Richtlinien sollen jedoch keine Resistenzgene für medizinisch relevante Antibiotika in Gentech-Pflanzen genutzt werden. Um hier das Risiko besser einschätzen zu können, hatte die EU-Kommission die Efsa gebeten, Gutachten über die Nutzung des Resistenzgens zu erarbeiten. Bei dem Gen ging es vor allem um die Frage, ob es auf Bakterien übertragen werden könnte und welche Folgen dies hätte. Mehrheitlich meinte das Efsa-Gremium, es bestehe keine Gefahr. Zwei Wissenschaftler jedoch wollten sich der Efsa-Mehrheit nicht anschließen. Zwar sei der Transfer “unwahrscheinlich”, erklärte der Efsa-Experte Christophe Nguyen-Thé. Sollte er aber doch stattfinden, wären die Folgen “bislang unabsehbar”.
Ähnlich wie die Markteinführung von “Amflora” war zuvor auch schon die von “Walli” gescheitert. Dies erfuhr ich aus Michael Rutschkys Internet-blog “www.das-schema.de”, wo er im April 2009 mitteilte: “Einst setzte man in der bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft große Hoffnungen in eine eigene Genkartoffel mit Namen Walli. Sie sollte die Produktion von Stärke ebenso vereinfachen wie vervielfachen, Stärke für die Lebensmittel – ebenso wie für die chemische und die Papierindustrie. Jetzt ist diese Etwicklungsarbeit eingestellt, genau besehen schon seit einem Jahr. Christian Sebald erzählt in der SZ die komplizierte Geschichte. Die bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft und ihre Walli wurden von BASF überholt, die eine eigene Genkartoffel entwickelt. Und das holländische Unternehmen Avebe züchtete eine konventionelle Kartoffel, die Wallis Aufgaben ebenso gut erfüllt. Schließlich: es hätte eines großflächigen Anbauversuchs mit Walli bedurft, und die Landesanstalt für Landwirtschaft beantragte ihn bei der Südstärke GmbH in Schrobenhausen. Aber heftige Proteste der Bürger, Kundgebungen und Demonstrationen schüchterten die Südstärke GmbH so ein, dass sie auf den Großversuch verzichtete.”
13.
1996 veröffentlichte der Wiener Soziologe Roland Girtler ein Buch “Vom Untergang der bäuerlichen Kultur” – mit dem Titel “Sommergetreide”, und 2002 eine Studie über “Echte Bauern”, die es nur noch in einigen vergessenen Winkeln der Weltgeschichte gäbe. Gleich am Anfang heißt es darin: “Ich behaupte, daß sich seit der Jungsteinzeit, also seit über 5000 Jahren, als der Mensch seßhaft und zum Bauern wurde, in unseren Breiten nicht soviel geändert hat wie nach dem letzten Krieg und vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als bei uns die alte bäuerliche Kultur allmählich zu Ende ging.”
Ein Rezensent schrieb: “Girtler fand echtes Bauernleben im indischen Gujarat und im rumänischen Siebenbürgen. Er kennt und benennt die ‘Agrarindustrie’, die ‘Chemisierung des Brotes’, den ‘Gigantismus’ der Tierfabriken, die ‘Erniedrigung der Tiere’, die brutale ‘Gewinngier’.
Girtler macht sich keine Illusionen: “Auch die sogenannten Bio-Bauern sind Spezialisten, die sich jedoch bemühen, einigermaßen natürlich, also ohne viel Chemie und freundlich gegenüber den Hühnern und anderem Vieh zu wirtschaften. Mit echten Bauern haben sie nicht viel zu tun.” “Der echte Bauer”, definiert Girtler, “stellt so ziemlich alles, was er zum Leben braucht, selbst her. Er übersteht Krisenzeiten wie Kriege mit Würde und Tüchtigkeit. Er widerspricht einer langweiligen, konformistischen Konsumkultur.” Heute hingegen wird der Bauer “dirigiert und geknechtet”. – “Der echte Bauer war autark und auf sich bezogen. Er benötigte keine Förderungen und Ausgleichszahlungen, um überleben zu können.” “Girtlers ‘echter Bauer’ ist ein Archetyp, den wir vor uns hingestellt kriegen, ob es ihn nun nicht mehr gibt oder doch wieder geben wird, ist bei solcher Wesensschau seltsam gleichgültig. Die Wahrheit ist uns zumutbar. Der ‘echte Bauer’ ist eine würdige Gestalt der Trauer wie der Hoffnung.” Er verschwindet heute als Projektemacher oder Agrar-Experte ( bzw. -Manager), früher verschwand er vorübergehend als Wilderer und dann auch als Partisan im Wald bzw. im Gebirge oder in sonstwie unwegsamen Gelände. Auch über den Wilderer veröffentlichte Roland Girtler inzwischen mehrere Studien – zu seiner Verteidigung, denn er, der bäuerliche Wildschütz, akzeptiert das (herrschaftliche) Privateigentum an Wald und sonstwie unbebauten Fluren ebensowenig wie der nomadische Viehzüchter.
Das sind die Überreste des Geburtshauses von Jan Zischka. Steht hier.