vonImma Luise Harms 31.12.2021

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Reichenow ist traditionell in drei Teile geteilt – geografisch und sozial. Es gibt das alte Dorf, die Schäferei und die Neue Dorfstraße. Diese Ortsteile liegen alle etwa einen halben Kilometer auseinander. Der alte Ortskern besteht aus einem kleinen Anger, mehreren Bauernhäusern, der ehemaligen Schule, der Kirche und dem Feuerlöschteich. Hier stand früher auch das alte Gutshaus derer von Barfuß. Der große, man müsste sagen: riesige Wirtschaftshof lag etwas außerhalb Richtung Westen und bildete selbst ein kleines Dorf, bestehend aus Stallungen, Heuböden, Kornspeicher, einer Brennerei und anderen Gewerken, die zum Betrieb des lukrativen Landunternehmens erforderlich waren.  Neben diesem Wirtschaftshof baute sich die Familie derer von Eckardstein, die das Gut im 19. Jahrhundert übernommen hatte, ein repräsentatives Schlösschen. Nördlich von Gutshof und Schloss erstreckten sich Äcker und Weiden.

Richtung Süden bildete sich ein weiterer Ausleger, die Schäferei. Eckardsteins waren nämlich durch die Lieferung von Uniformen fürs Heer zu Reichtum gekommen und für die zuverlässige Lieferung der Kriegs-wichtigen Güter vom Preußenkönig geadelt worden. Die Uniformen waren aus Wollstoff und diese Wolle kam von den Merinoschafen, die Landwirtschaftsreformer Anfang des 19. Jahrhunderts in dieser Region eingeführt hatten. Der Schafstall hatte ähnliche Ausmaße wie die Wirtschaftsgebäude am Schloss und bildete einen südlichen Ausläufer der Ortschaft.

Wer bewirtschaftete nun die Felder, versorgte die Tiere, hütete die Schafe, bediente die Herrschaften? Zum Teil vielleicht die Kinder der Bauernfamilien aus dem alten Ortskern, zum größeren Teil aber sicher die aus dem Osten zugewanderten armen Menschen ohne Land, ohne Beruf und ohne Perspektive, und deren Kinder, Jungs und Mädchen, die mit einer Unterkunft, Essen und ein wenig Lohn zufriedenzustellen waren: Knechte und Mägde.

„Witwenhaus“ auf dem alten Dorfanger

Für die Knechte und Mägde und die Familien, die sie gründeten, wurden Arbeiterhäuser gegenüber der Schäferei gebaut, langgezogene niedrige, Kasernen-artige Gebäude. Sie stehen zum Teil heute noch. Wenn die Männer starben, mussten die Frauen die Wohnungen räumen und in ein eigens für sie gebautes „Witwenhaus“ auf dem alten Dorfanger umziehen. Auch dieses Haus steht nach wie vor. Dort wohnen jetzt – Ironie der Geschichte – alleinstehende Männer, die hoffnungslos aus ihren sozialen Zusammenhängen herausgefallen sind und mit Trinken ihre Zeit verbringen.

Mitte der 30er Jahre entstand in der Schäferei ein weiteres Gesindehaus, das sogenannte Schweizerhaus. „Schweizer“ war die Bezeichnung für die Facharbeiter unter den Melkern, gewissermaßen die Poliere des Gewerks. Hier sollten aus den Knechten und Mägden ordentliche deutsche Männer und Frauen geformt werden, die nicht dem Gutsherrn, sondern dem Führer treu und brav folgen würden. So gehörte ein großer Versammlungssaal zur Ausstattung des neuen Arbeiterquartiers, in dem ganz sicher nicht gegen die Grundherren aufgewiegelt wurde.

Der Krieg ging verloren, die Front durchquerte den Ort, die Gutsherren-Familie war nach Westen verschwunden. Nach den Russen kamen die Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Sie bevölkerten das nun leer stehende Schloss und alles, was vorübergehend Raum bot. Das Dorf war plötzlich auf sich selbst gestellt. Man beschloss eine Erweiterung des Ortes in nördliche Richtung; die sogenannte Stalinallee wurde angelegt; die Flüchtlinge und andere landlose Menschen, so auch die Knechte (und Mägde?) bekamen ein Baugrundstück, Material, einen Hektar Land und einen Hektar Wald, um sich versorgen zu können. An der Neuen Dorfstraße entstanden auf beiden Seiten die typischen Siedlerhäuser, bestehend aus Küche, Stube und Schlafraum. Auch diese Häuser stehen nach wie vor, inzwischen um Badanbau und Carport erweitert.

Nachbarschaft und Belegschaft fielen zusammen

Aus den angesiedelten Menschen und den herrenlosen Knechten und Mägden ließ sich ohne große Umerziehungsmaßnahmen die Belegschaft der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, der  Nachfolgerin des Gutsbesitzers, aufbauen. Gingen sie früher zu Felde und in Stellung, versahen sie jetzt ihre Arbeit als Traktoristen und Melker. Die LPG-Führung war vielleicht etwas anonymer als die alte Herrschaft und die Führungselite weniger glamourös als der Herr Baron und die gnädige Frau Baronin. Aber man hatte sein Auskommen, die Männer konnten weitgehend ungestört trinken und die Frauen hielten LPG und Haushalt zusammen. Mit dem, was so abfiel, konnte man sich das eigene Häuschen allmählich ausstatten. Es gab eine Nachbarschaft und es gab eine Belegschaft, aber im Grunde war das alles eins.

Dann kam die Wende. Rübergemachte kehrten zurück, landdurstige StädterInnen kamen aus Berlin, fanden leerstehende Häuser, siedelten sich an. Neubauten füllten sich in Baulücken, Grillplätze wurden angelegt, die Vorgärten wurden mit modischen Ziergehölzen bepflanzt. Von den Alteingesessenen fielen viele in die Arbeitslosigkeit, andere wurden zu PendlerInnen, die nur noch zum Schlafen herkamen. Die jungen Leute zogen in die Stadt. Alte Frauen blieben zurück, alte Männer blieben zurück. Die Frauen konnten ihre Einsamkeit durch gemeinsames Jammern ausleben, die Männer durch gemeinsames Trinken.

Dann kam die Nachwendezeit. Die StädterInnen holten sich Haus um Haus, zum Teil, um auch von hier ihrer städtischen Arbeit nachzugehen, bzw. jetzt zu tele-worken, zum Teil, wenn das Wetter dazu einlädt, um hier mit Familie und großem Anhang ihre Wochenenden zu verbringen. Es entstanden aber auch jede Menge „Projekte“ wie Hotels, Tagungshäuser, Gestüte, Wohnprojekte, kleine Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe.

Neue TagelöhnerInnen

Wer neben seinem städtischen Leben eine ländliche Existenz unterhält, wer ein „Projekt“ aufbauen will, braucht Hilfe. Hilfe im Garten und im Stall, Hilfe beim Abriss und beim Dachausbau, Hilfe beim Putzen und in der Küche, Hilfe bei der Kinder- oder Hundebetreuung. Natürlich ist die neue Oberschicht (nach englisch-historischem Vorbild könnte man sie die “Normannen” nennen) nicht viel zu zahlen bereit, auf keinen Fall den Stundensatz, den sie für ihre städtischen Tätigkeiten in Rechnung stellen; dann könnten sie sich das Ganze hier ja gar nicht leisten! Und die Menschen vor Ort haben, so lautet häufig die Rechtfertigung, nicht den gleichen Lebensstil, brauchen also weniger Geld. Natürlich kriegen sie ihr Geld ohne Abrechnung, weil sie es sonst gegen den Hartz IV Regelsatz abrechnen müssten. Das trifft sich gut für die AuftraggeberInnen.

So verdingen sich junge Menschen ohne Ausbildungsplatz, hinzuverdienende Ehefrauen oder alleinstehende Männer mit Zeit und ohne Perspektive bei den neuen Grundherren und –damen als TagelöhnerInnen. Sie räumen die Pferdescheiße weg, schneiden die Hecke, sie putzen und heizen ein, bevor die EigentümerInnen zum Landurlaub kommen. Sie lassen sich als Treiber bei der Jagd einsetzen. Sie fahren, ohne zu klagen, mit dem Fahrrad durch Schnee und Regen ins nächste Dorf, um den Hof zu kehren oder die Fenster zu putzen. Und das Praktische ist: sie bringen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre gute dörfliche Vernetzung mit. Wenn wo ein Anbau abgerissen werden muss, kennen sie jemanden mit einem Radlader. Bei einem größeren Arbeitseinsatz bringen sie Freunde mit.

Die neuen Knechte begehren nicht auf, wenn sie schlecht bezahlt werden; sie machen es wie früher, halten sich ein bisschen am Material schadlos, wenn es sich so ergibt, mogeln vielleicht mal bei ihrer Arbeitszeit-Abrechnung. Wenn sie schlecht behandelt werden, kommen sie einfach nicht mehr.

„Gnädige Frau“ als Anrede

Gibt es sowas wie ein Klassenbewusstsein unter den Knechten und Mägden? Hat es das jemals gegeben? Man sagt, die ostelbischen Verhältnisse waren paternalistisch. In der Aussichtslosigkeit der eigenen Lage war man bereit, den Patron für einen guten Menschen zu halten. Was die Unterordnung unter die Macht des Faktischen war, wurde als Treue umgedeutet. Und selbst die den Verhältnissen Unterworfenen haben es in ihrer Erinnerung so festgeschrieben. Noch nach 2000, als die greise Baronin Eckardstein zu einem Besuch auf ihrem ehemaligen Gut eintraf, wurde sie von einigen der alten DorfbewohnerInnen, ihren früheren Untergebenen, mit Ehrfurcht und Hochachtung empfangen und immer noch als „gnädige Frau“ angeredet.

Es gibt auch die andere Erzählung. Ende der 90er Jahre, auf einer WaldbesitzerInnen-Versammlung. Viele derjenigen, die durch die Landreform zu Eigentum an einem kleinen Stück Wald gekommen waren, verkauften es, weil sie doch nichts Rechtes mehr damit anfangen konnten. Eine ältere Frau war dazu nicht bereit. Ihrem Vater und seinen Vorfahren habe nie irgendetwas gehört, immer abhängig von der Gunst der Gutsbesitzer gewesen, erzählte sie. Durch die Landreform habe ihre Familie zum ersten Mal Eigentum gehabt, und das würde sie jetzt ganz gewiss nicht wieder hergeben.

Wie sehen die Knechte von heute ihr Verhältnis zu den neuen GrundbesitzerInnen?  Wohl nicht viel anders als die meisten Einheimischen: die Zugezogenen gelten als wohlhabend und arrogant. Und sie haben keine Ahnung! Sie werden gemieden, wenn es nicht um den Job geht. Man bleibt unter sich. Zu Verabredungen oder einem Zusammenschluss, um die Arbeitsbedingungen und –bezahlungen zu verbessern und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, kommt es allerdings nicht.  Die finanzielle Grundausstattung durch Transferleistungen, wenn auch mager und von Behördenwillkür abhängig, macht es möglich, bei jedem Arbeitsangebot individuell abzuwägen, ob es sich lohnt. So sind die neuen Knechte und Mägde wohl auch eher als TagelöhnerInnen zu bezeichnen – entgarantiert, aber unabhängig vom einzelnen Auftraggeber. Andererseits, das Spezifische im Knecht/Magd-Verhältnis, jederzeit verfügbar zu sein, sich sofort auf die Socken zu machen, wenn der Arbeitgeber ruft, nicht vorher groß Lohnverhandlungen zu führen, sondern dankbar anzunehmen, was gegeben wird, zeichnet auch die neuen privaten Beschäftigungsverhältnisse in den Dörfern aus.

In meiner ersten Zeit hier, als ich anfing, einen Tauschring in der Region aufzubauen, hielt mir P., ein erfahrener DDR-Dissident, entgegen, sowas brauche man auf dem Land nicht. Dort würden sich die Dinge auch ohne Organisation regeln: durch eine Mischung aus Schwarzarbeit und Nachbarschaftshilfe. Tatsächlich ist die Mischung eher eine Zweiteilung nach Klassen: die Schwarzarbeit für die „Normannen“ aus der Stadt und dem Westen, die Nachbarschaftshilfe für die „angelsächsischen“ Einheimischen.

 

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2021/12/31/rueckkehr-der-knechte/

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kommentare

  • Knechte und Mägde waren von ihren Herren und Damen nicht nur durch ihren Lohn abhängig, sondern auch durch ihre Unterkunft. Was es bei einem Rausschmiss für sie nicht leichter machte. Deshalb würde ich in der aktuellen Situation auf dem Land von TagelöhnerInnen schreiben. Es gibt welche die trinken und viele tun es nicht, deshalb finde ich es nicht ganz richtig dem Alkohol einen solchen Platz in der Geschichte einzuräumen. Es ist ja wohl deutlich, dass es einen Klassenkampf gibt, der hier stattfindet, mit und ohne TrinkerInnen auf beiden Seiten. Das Beispiel von Normannen und Angelsachsen hinkt aufgrund meiner Perspektive dann eben auch. Denn die Bourgeoisie gibt es auf dem Land genauso, wie in der Stadt, so wie auch das Proletariat. Das macht das Verhältnis in diesem Klassenkampf noch viel komplexer und damit komplizierter. Da ist die Dorfbourgeoisie, die den Stadtbourgeoisen in Habitus und Eigentumsfragen viel näher sind, als ihrem Dorfproletariat. Auf der anderen Seite ist da aber auch die Herrschaftsfrage. Wer setzt sich durch, wer wird BürgermeisterIn, DorfvorsteherIn… Und da setzt die Dorfbourgeoisie so lange es geht auf “ihre” Mehrheit und die wird über Eingeborene und Zugezogene geklärt. Noch sind die Eingeborenen in der Mehrheit, aber das kann sich schnell ändern, denn die Zugezogenen zahlen mehr für Haus und Land. Die Zugezogenen, das sind fast nur weiße deutsche Mittelklassemenschen, die den Klassenkampf nur von oben (Sie) nach unten kennen (Proletariat) und dabei meistens ihr bürgerlich liberales Weltbild zum Maßstab aller Dinge setzen: antirassistisch, antisexistisch, aber Turbo- kapitalistisch. Deshalb bin ich auch nicht für eine bessere Schulbildung, die das alles, in der Regel, zementiert sondern für eine andere, die sich traut Dinge in Frage zu stellen. Wie zum Beispiel das bürgerliche Eigentum, das nicht zu trennen ist von Rassismus und Patriarchat.

  • Ich denke, in Teilen wird es sich in dieser Richtung entwickeln. Wiederum bediene ich genau dieses “Tagelöhnerdasein” und fühle mich sehr wohl dabei. Die örtlichen Galabauer sind so ausgelastet und “teuer”, das ich zum Einen sehr gut davon leben kann, und zum Anderen mein Leben selbst strukturien kann.

    Sicher bringe ich als Städter, der seit zwanzig Jahren auf dem Land wohnt, bessere Vorraussetzungen mit. Eine gute Schulbildung und eine gewisse Karriere in der “schnellen Welt” lässt mich mit den neuem “Gutsherren” prima auskommen – denn wer meine Preise nicht zahlen möchte – muss sich jemand anderes suchen.
    Daher ist es die wichtigste Aufgabe der Politik, das Schulsystem auf lebensalltägliche relevante Beine zu stellen, und bestmögliche Fördermöglichkeite auch in der Fläche sicherstellen.

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