vonkirschskommode 12.05.2021

Kirschs Kommode

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Ich habe mich schon manchmal gefragt, ob mein Staat mich eigentlich als Verfassungsfeind einordnen würde. Es ist eine reichlich eitle Frage, wenn ein Mensch so wenig zur Militanz neigt wie ich. Ich bedrohe Leute, mit denen ich politisch nicht einverstanden bin, eher nicht, nicht einmal verbal, möchte niemanden einsperren, es sei denn, im Fall, dass es wirklich einmal nicht anders geht, in ein norwegisches Reformgefängnis. Schon gar nicht möchte ich jemandem weh tun. Zum Beispiel wäre, dass ich der Polizei als Institution nicht immer traue, niemals ein Motiv für mich, einzelne Polizisten zu schlagen. Einerseits täten sie mir sofort Leid, wenn ich sähe, dass ich ihnen Schmerz zugefügt habe. Andererseits täte ich, schon im nächsten Augenblick, mir selbst Leid, denn ich bin so schlecht im Schlagen, wie ich leicht zu schlagen bin; eine Konfrontation mit der Polizei ginge wahrscheinlich sehr zu meinen Ungunsten aus. Ich bin mithin ein recht harmloser, gegenüber der Polizei sogar ein folgsamer Staatsbürger. Sie jagt mir im Zweifelsfall Angst ein und beuge ich mich ihren Anweisungen.

Etwas komplizierter liegen die Dinge mit meiner Militanz bei der sogenannten Gewalt gegen Sachen. Die wird so genannt, wenn, aus Gründen der politischen Propaganda, eine Sachbeschädigung etwas aufgeblasen werden soll – geschieht das Aufblasen aus moralischen Gründen, wird eher von „Vandalismus“ gesprochen. Wie auch immer, sinnlose Beschädigung brauchbarer oder gar schöner Dinge betrübt mich im Allgemeinen. Aber ich bin zu sehr Gewerkschafter, um nicht zu verstehen, dass soziale Akteure ihre vielfach stärkeren Gegner wirtschaftlich schädigen müssen, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen. Die Grenzen von Streik, von Boykott oder von Blockaden zur Sabotage sind jedoch fließend; es dürfte kein Kunststück sein, selbst den friedlichsten friedfertig Streikenden, Boykottierenden oder Blockierenden Gewalt gegen Sachen zu unterstellen. Der Beweis dafür wäre schon erbracht, wenn sie einem Fahrzeug, das sie an der Weiterfahrt hindern wollen, die Luft aus den Reifen ließen, anstatt einzig und allein, ohne jedes Hilfsmittel oder gar Waffen, ihre Körper einzusetzen. Trotzdem wird niemand, bloß weil ich Verständnis für den Einsatz von an Sabotage grenzenden Kampfmitteln habe, folgern, ich sei ein gewaltaffiner Gegner der bestehenden Ordnung. Weder mit meiner umstürzlerischen Energie noch mit meiner die Grundfeste des Staates unterhöhlenden Wühltätigkeit scheint es allzu weit her zu sein. Ich denke mir meinen Teil zur Politik und in der Gewerkschaft tue ich dazu meinen Teil. Ich kann mir aus Eitelkeit auf die Radikalität meiner Gedanken einbilden, was ich will, als Verfassungsfeind falle ich entweder gar nicht auf oder gleich ganz durch.

Dachte ich. Und zwar genau bis letzte Woche. Da erfuhr ich durch eine Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken im Bundestag, dass es in Deutschland 2021 genügt, Marxist zu sein, um als erwiesen linksextremistischer, gewaltbereiter Verfassungsfeind zu gelten. Nun sehe ich die blauen Bände in meinem Bücherregal mit ganz anderen Augen. Band 24, den ersten Band des Kapitals, habe ich durchaus gründlich studiert, wie Bleistiftstriche und Randbemerkungen zeigen; auf meiner Kommode steht ein gerahmtes Porträt des Philosophen; über die Lektüre von Lenin bin ich auf Diderot gekommen, den ich sehr liebe; die marxistischen Dichter Brecht und Hacks halte ich für die größten deutscher Sprache im letzten Jahrhundert. Mir mangelt es an der dialektischen Geschliffenheit mancher neomarxistischer Ökonomen, will ich das Weltgeschehen aus den Produktionsverhältnissen erklären, aber ungeachtet dessen wüsste ich keinen Weg, es anders zu erklären. Mithin, Marx prägt mein Denken und würde jemand mich als Marxisten bezeichnen, ich könnte es nicht von der Hand weisen.

In der Anfrage der Linken ging es um die Beobachtung und Bewertung der Tageszeitung Junge Welt durch den Verfassungsschutz, die für das Presseorgan gravierende Folgen hat. So wird sie Gefangenen oft nicht ausgehändigt, die Bahn gibt ihr keine Werbeflächen, Bibliotheken abonnieren sie nicht. Auch müssen alle, die für sie schreiben oder sie nur lesen, Angst haben, als Unterstützer*innen der Zeitung in das Visier des Inlandsgeheimdienstes zu kommen. Leser*innen der taz ist der Vorfall unter Umständen verborgen geblieben, denn er war der taz-Redaktion meines Wissens bislang keinen Bericht wert – so weit geht der Einsatz füreinander und für die Pressefreiheit unter Kolleg*innen und Konkurrent*innen vielleicht eben doch nicht. Obwohl die taz selbst mit betroffen ist, arbeiten doch einige ihrer Autor*innen für beide Zeitungen, am bekanntesten vielleicht Helmut Höge, der in der taz über „Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung“ und in der Jungen Welt über die „Wirtschaft als das Leben selbst“ schreibt. Ein Journalist, eine Journalistin, der oder die in der Jungen Welt veröffentlicht, macht aber in den Augen der Bundesregierung und ihres Geheimdienstes immer gemeinsame Sache mit den staatsgefährdenden, linksextremistischen Bestrebungen der Zeitung, es gebe, so die höchstoffizielle Einschätzung, keinen Meinungstreit in der Jungen Welt, keine Darstellung verschiedener Standpunkte. Vielmehr gehe es bis zum letzten Komma um ein einziges Ziel, den gewaltsamen Umsturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit der Zeitung zu informieren und damit ihre Arbeit und Verbreitung möglichst zu behindern, sei deshalb unbedingt geboten.

Nun erscheinen in der Jungen Welt keine Feindeslisten bürgerlicher Politiker*innen oder reicher Aktienbesitzer*innen. Auch Anleitungen zum Bomben- oder Barrikadenbau sucht man, frau, maus vergeblich. Das Themenspektrum ist größer als beispielsweise in der ver.di-publik, mancher Kommentar ist schärfer und unversöhnlicher, aber die Tendenz, sich prinzipiell auf die Seite der Ärmeren, der Erwerbstätigen, der Mieter*- wie der Rentner*innen, der Eingewanderten, der von Umweltverbrechen Geschädigten, kurz, sich auf die Seite der Schwächeren zu schlagen und gegen die Interessen und Propaganda der Stärkeren und Besitzenden Stellung zu beziehen, ist bei der Jungen Welt und der ver.di-publik sehr ähnlich. Warum ist die eine Zeitung erwiesen linksextremistisch und die andere nicht?

Die Junge Welt bezeichnet sich selbst als marxistisch. Und jetzt lerne ich von der Bundesregierung und ihrem Verfassungsschutz, dass genau das in einer Demokratie nicht sein darf, marxistisch sein. Die Begründung ist hanebüchen, intellektuell weit unter dem Niveau jedweder Satire, aber als Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken erscheint sie der Bundesregierung offenbar schlau genug. Dem Sinn nach wiedergegeben, ist der Marxismus mit der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde deshalb unvereinbar, weil Marxist*innen davon ausgehen, dass die Menschen in einer Klassengesellschaft leben. Diese Annahme degradiere die Personen zu Objekten, sie würden nur als Angehörige ihrer Klasse wahrgenommen, nicht als individuelle Subjekte, die zu freier Entscheidung fähig seien. Zudem strebe der Marxismus die klassenlose Gesellschaft an und zwar mittels einer Revolution, also dem gewaltsamen Sturz der demokratischen Ordnung. Bummbah!

Die regierungsamtliche Argumentation ist fast zu dumm, um sie auseinanderzunehmen. Ich, als Marxist, bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass ich sowohl Individuum als auch Angehöriger einer Klasse sein kann. Und ich wüsste auch nicht, aus welchem anderen Grund ich eine klassenlose Gesellschaft überhaupt anstreben sollte. Gerade die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit ist es doch, die mir in der Klassengesellschaft unerträglich eingeschränkt zu sein scheint, jedenfalls wenn ich das Pech habe (und ich habe das Pech), über kein Eigentum zu verfügen, meine Haut auf den Markt tragen und für meinen täglichen Bedarf buckeln zu müssen. Und weil die bürgerlichen Demokratien selbst ihre Entstehung einer Revolution verdanken, einer im eigenen Land oder ersatzweise der französischen bzw. amerikanischen, gibt es in jeder bürgerlichen Verfassung ein eingeborenes Recht auf Revolution, in der deutschen Verfassung versteckt in dem Hinweis (meiner Erinnerung nach in der Präambel), sie gelte, bis das deutsche Volk, moderner gesagt: die deutsche Bevölkerung, sich in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gebe. In welchen Formen diese freie Selbstbestimmung sich dann manifestiert, darüber steht selbstverständlich nirgends ein Wort, schlicht, weil niemand hellsehen kann.

Noch fadenscheinig-dümmer ist das Bemühen des Groß- und Schwammwortes Menschenwürde, um eine Verfassungsfeindlichkeit einer Denkart zu begründen. Ein Nulltarifargument, das in jede Richtung funktioniert. Widerspräche nicht die Auffassung, Atheisten würden für ihren Unglauben für alle Ewigkeiten in der Hölle Qualen leiden müssen, genauso jeder Menschenwürde? Aber die Vertreter dieser Denkrichtung dürfen mir jeden Tag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer Morgenandacht kommen. Oder der alte sozialdemokratisch-neoliberale Glaubenssatz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“, reduziert er nicht das Individuum ganz radikal auf seine Eigenschaft als Arbeitstier und nimmt ihm durch Drohen mit dem Hungertod jegliche Möglichkeit zur freien Entscheidung? Weshalb ist so etwas mit dem Grundgesetz und der Menschenwürde vereinbar, der Satz „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ aber nicht? Es ist bloß absurd.

Dass eine Zeitung, die der Regierung politisch nicht genehm ist, mit geheimdienstlichen Mitteln beschattet, von ihr als verfassungsfeindlich eingestuft und damit in ihrer Arbeit behindert wird, ist das eine. Von der taz bis zur FAZ müssten sie alle einmütig und lauthals „Skandal!“ schreien – die Pressefreiheit ist immer die Pressefreiheit der Andersdenkenden, so ähnlich hat Rosa Luxemburg es ausgedrückt. Allerdings war sie ebenfalls Marxistin und das könnte erklären, warum sich in diesem Fall niemand auf sie berufen mag. Das andere ist, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage der Linken zur Jungen Welt eine ganze philosophische Richtung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, als der Menschenwürde entgegengesetzt, als erwiesen linksextremistisch und gewaltaffin. Es ist also, bitte mitschreiben, denn die Regierung sagt es, verfassungsfeindlich – nämlich, noch einmal, erwiesen linksextremistisch und gewaltaffin – mit Marx zu denken, wohlgemerkt: zu denken, dass eine Klassengesellschaft existiert und überwunden werden muss. Ich denke allerdings, seit ich denken kann, dass sie existiert und überwunden werden muss. Dürfen, ja müssen meine Mitmenschen mich jetzt bei den Behörden als gefährlichen Linksextremisten anzeigen? Oder ist das doch eher übertrieben? Sollte ich lieber überwacht werden, obwohl ich in diesem Fall ein einziges Mal mit dem Bund der Steuerzahler einer Meinung wäre und sagen würde, das wäre eine reine Verschwendung von Steuergeldern? Ist der Befund, dass ich der Logik von Verfassungsschutz und Regierung zufolge als Verfassungsfeind gelten müsste, also lediglich Nahrung für meine Eitelkeit oder muss ich mich vor Konsequenzen fürchten, unter Umständen sogar davor, meine Lizenz als Lehrkraft für Integrationskurse zu verlieren? Welche Folgen hat es, wenn ein positiver Bezug auf Marx, das Denken marxistisch inspirierter Gedanken oder das Festhalten an der Beschreibung dieser Gesellschaft als Klassengesellschaft –  eine Gesinnung, gedankliche Dinge – schon ausreichen, um als Linksextremist und für gefährlich zu gelten? Was wird da ausgebrütet? Wo wird es enden?

 

Nachtrag: Am 19. 05. hat die taz schließlich berichtet. Und auch ein Kommentar wurde veröffentlicht. Mein Eindruck bleibt allerdings, die Angelegenheit wird eher auf die leichte Schulter genommen. Dass ein Marxist, eine Marxistin von der Bundesregierung per Definition, somit quasi automatisch als Verfassungsfeind oder Verfassungsfeindin eingestuft wird, scheint niemanden weiter zu beunruhigen. Mich ängstigt es.

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