vonkirschskommode 29.04.2021

Kirschs Kommode

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In Leipzig wird es 2021 keine gewerkschaftliche Mai-Demonstration, aber immerhin einen Fahrradkorso geben. Er führt zu verschiedenen Punkten im Stadtgebiet, darunter auch zur Volkshochschule. Dort, wie an an allen anderen angesteuerten Orten, ist ein Redebeitrag vorgesehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir machen Halt an der Volkshochschule, einem Eigenbetrieb der Stadt Leipzig mit knapp vierzig regulären Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, ein Ort, an dem es, Ausnahmesituationen wie der jetzigen einmal außen vor gelassen, sicherlich recht angenehm ist zu arbeiten. Denn was man hier tut, ist sinnvoll und schön, die Organisation von Kursen für Leute, die gern einen Kurs machen möchten, dazu im öffentlichen Dienst, Tarifbezahlung und viele Urlaubstage – ein Träumchen. Es ist eigentlich nicht zu erwarten, dass dieses Haus ein sozialer Brennpunkt und Schauplatz langwieriger und immer wieder auch spektakulärer gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Und doch ist es das. Die Volkshochschule hat neben ihren dreißig bis vierzig regulären Angestellten, über siebenhundert regelmäßige, aber nicht reguläre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihr den tagtäglichen Lehrbetrieb personell absichern, die jedoch nicht als Personal behandelt werden, sondern als Gut, das man bewirtschaftet – keine Zigarette ohne Tabak, kein Kurs ohne Lehrkraft. Die Volkshochschule hat einen Vorrat an Lehrkräften, wie die Zigarettenfabrik ein Tabaklager hat, gibt es genügend Interessierte an einem Kurs, weiß die VHS, wo sie den Dozenten oder die Dozentin hernehmen kann. Bis dahin besteht die Aufgabe der Lehrkraft darin, sich zur Verfügung zu halten. Was ihr umso leichter fallen dürfte, je weniger sie selbst braucht, solange sie nicht gebraucht wird.

Für einen großen Teil der Lehrkräfte der VHS trifft das zu, sie geben seltene Kurse zu seltenen Themen, wenige Stunden im Jahr, sie brauchen den Verdienst daraus nicht unbedingt. Aber die meisten an der VHS gegebenen Stunden fallen in Dauer- und Intensivkursen an, für Anfänger, Mittelstufe, Fortgeschrittene, Buchführung 1, 2, 3, Alphabetisierung A, B, C. Die hier tätigen Lehrkräfte übernehmen jährlich Lehrverpflichtungen, die denen von Lehrern und Lehrerinnen an Regelschulen entsprechen. Sie leben davon. Aber sie bleiben Lehrkräfte von der Halde, eingesetzt und bezahlt strikt nach Bedarf des Auftraggebers, ohne alle weitere Absicherung, ohne Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ohne Tarifurlaub, ohne Arbeitslosenversicherung. Und jetzt liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfte klar sein, weshalb die Volkshochschule ein Ort gewerkschaftlicher Kämpfe ist. Wir Lehrkräfte sind mehr als Abrufware von der Halde, wir haben ein Leben. Und euch wird außerdem klar, wie Corona hier reingehauen hat: Wir wurden samt und sonders ins Lager zurückgeschickt, als wären wir tote Ware und hätten kein Leben.

Inzwischen gibt es Online-Kurse, die einigen Kolleginnen ein Auskommen in der Not ermöglichen. Aber die gleichzeitig alles verschärfen, wogegen wir in den letzten Jahren mit vielen sehenswerten und fantasiereichen Aktionen gekämpft haben: Online-Arbeit bürdet uns noch mehr unbezahlte Vor- und Nachbereitung für unsere Kurse auf, umgerechnet auf die Arbeitszeit sinkt unser Einkommen. Außerdem ermöglicht und verlangt Online-Arbeit mehr Flexibilität – auf Kosten der Planbarkeit und Sicherheit sowohl unseres Alltags als auch unseres Berufslebens. Wir waren schon vorher Einzelkämpfer, jeder in seinem Kurs, und es war oft schwer, den kollegialen Zusammenhalt herzustellen und zu pflegen, aber jetzt ist das Einzelkämpfertum auf die Spitze getrieben. Falls wir uns mal sehen, ist jeder von uns ein kleines bewegtes Bildchen, alle nebeneinander auf dem Computer angeordnet, mit Humphrey Bogart gesagt: Schau mir in die Augen, Kleines, ich bekomme es nicht mit.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, in euren Betrieben und eurem Arbeitsumfeld. Aber uns zerkrümelt hier gerade alles, was wir uns an gewerkschaftlicher Macht in den letzten Jahren aufgebaut haben. Seit über sieben Jahren kämpfen wir hier, übrigens nicht nur hier an der Volkshochschule sondern auch bei anderen Bildungsträgern, für höhere Honorare, dafür, dass sich an Gesetze gehalten wird und wir den uns nach Tarifvertrags- und Bundesurlaubsgesetz zustehenden Urlaub bekommen, um Krankengeld, Mitbestimmung, bezahlte Weiterbildung, kurz, um Tarifverträge, jetzt wissen wir nicht einmal mehr, wer von uns Lehrkräften wirtschaftlich überlebt hat, wer überhaupt noch da ist. Das grottige Pandemie-Management, das sich nie entschließen konnte, mit bezahltem Urlaub für alle einen Monat lang einmal richtig durchzugreifen und das uns so von Welle zu Welle weiter zermürbt, ist aus der Sicht der Auftrag- und Arbeitgeber ein Segen. So vereinzelt, so verunsichert, so bedürftig, beschäftigt zu werden und Geld verdienen zu können, hatten sie uns lange nicht. Und die Kassen sind leer und die Zeiten sind schwer, hurra, wer schreit, der kriegt nichts – Tarifvertrag? War das nicht so eine seltsame Idee im letzten Jahrhundert? Wir, die Lehrkräfte gegen Prekarität, sind sehr erfahren im Kämpfen und werden sie nicht so einfach davonkommen lassen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmt euch für dieses Jahr, von Mai zu Mai, schon einmal fest vor, eure Kampfbereitschaft enorm zu steigern. Je öfter und stärker ihr auf den Tisch haut, umso besser. Der Raubzug gegen uns, die wir nichts haben außer unsere Arbeitskraft, hat gerade erst so richtig begonnen.

Wir werden zusammenhalten müssen wie Pech und Schwefel. Mehr noch, wir werden versuchen müssen, unsere gewerkschaftlichen, sozialpolitischen Aktivitäten über Betrieb und Arbeitsumfeld hinaus miteinander zu verbinden. Lehrkräfte gegen Prekarität hatte vor Kurzem ein ver.di-Netzwerktreffen angeregt und mit durchgeführt „Mit ver.di durch die Krise“, bei dem wir mit vielen Kolleginnen und Kollegen, natürlich online, über ihre Situation in der Pandemie sprechen konnten. Die Vereinzelung durch die zermürbenden Umstände, Spaltungen in den Belegschaften, Homeoffice, drohende Erwerbslosigkeit und durch vieles mehr waren dort Thema. Eine Konsequenz, die wir aus dem Treffen gezogen haben, war, dass wir die örtlichen Strukturen stärken müssen, damit wir wissen, wer wo aktiv ist, um uns gegenseitig unterstützen und helfen zu können. Der Ortsverein könnte in ver.di dafür geeignet sein. Denkt auch in euren Gewerkschaften und eurem Umfeld über so etwas nach. Und ich hoffe, wir treffen uns  bald wieder.

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