Nachdem ich die aktuelle Politik, in der Theorie, aber mit praktischen Vorschlägen, zufriedenstellend neu ausgerichtet, die Bundeswehr aufgelöst, das Streikrecht reformiert, die Fünfprozentklausel annulliert, die Eigentumsfrage gestellt, die Sterbehilfe in den Kommunismus vertagt, das Gendersternchen auf eine Artikelfrage gebracht und nebenbei sogar die Sprache der Wetterberichte klimakompatibel gemacht habe, fange ich an die Leitartikler*innen und Kolumnist*innen zu bewundern: Wie machen die das? Ich bin nach sieben Folgen mit der Politik so gut wie fertig und habe kaum noch Vorschläge zu machen, weder welche zur Güte noch solche im Zorn. Aber ihnen fällt Tag für Tag, Woche für Woche oder zumindest Monat für Monat etwas Neues ein. Ist nicht irgendwann einmal alles gesagt?
Ich mache eine beunruhigende Beobachtung. Das Neue muss, wenn ich dafür Zustimmung einfordere, in greifbarer Nähe sein. Es muss als realistische und realisierbare Erwartung von vielen meiner Mitmenschen nicht nur geteilt, es muss von ihnen, prekär, unter Kampfbedingungen oder im Windschatten anderer Ereignisse, auch schon ausprobiert werden. Wenn nicht, ist es gleichgültig, ob ich die Bundeswehr abschaffen oder eine Landkommune auf dem Mars gründen will. Ich habe niemanden oder nur die üblichen drei Spinner*innen (auch bekannt aus dem Grimmschen Märchen), mit denen ich mich darüber verständigen könnte. Die besten meiner Vorschläge zur Güte lassen sich auf ein einziges Wort verkürzen: Nein.
Nein, nein und nochmals nein, zu Krieg, zu Ausbeutung, zu Unterdrückung. Wie konnte ich als Mensch, der das vertritt, zu jemanden werden, dessen Vorstellungen fernliegend, ja „marsig“ wirken – falls der rote Planet das Eigenschaftswort hergibt. Wie kommt es, dass die Landkommune dort oben in der Zukunft sogar näher zu liegen scheint als die Auflösung der Armee, die schließlich eher im Auftrag der kommenden Regierung gegen China bütikofern als je verschwinden wird? Wo sind die Vielen hin, denen meine drei Neins so wie mir reinste, klarste Selbstverständlichkeit waren? Nämlich mit Brecht und völlig zu Recht: “Du willst unter dir keinen Sklaven sehen und über dir keinen Herrn.” Das war die Richtschnur, für jeden Plan. Darum gehörten die Panzer verschrottet, die Fabriken selbstverwaltet, die Häuser besetzt. Wenn nicht heute, dann morgen. Weil der Mensch ein Mensch ist. Natürlich ist das die Perspektive der siebziger Jahre, ich bin alt genug, in einem vergangenen Jahrhundert sozialisiert. Aber ist das heute rettungslos News from Nowhere?
Sicher, es gab die anderen immer auch, selbst in den Siebzigern. Diejenigen, die witzelten, sie hätten nichts gegen Neger, jeder solle einen haben, und die sich dabei genau deshalb ungeheuer komisch fanden, weil sie es so meinten, wie sie es sagten – wobei sie in ihrem Selbstverständnis mitnichten Rassisten waren: „Neger“ bedeutete für sie, völlig unabhängig von allen phänotypischen Merkmalen, ganz einfach “Sklave“. Oder diejenigen, die mir mit der Freiheit kamen, von der mein Erfolg und mein Stand abhängig seien, einzig und allein meine Wahl und Verantwortung, Hammer oder Amboss sein; sie waren immer der Hammer. Die ersten kämpfen heute gegen Denkverbote und cancel culture, die zweiten sind sowieso Legion, smarte, durchsetzungsfähige Held*innen im Daseinskampf auf allen Kanälen. Aber was ist aus den vielen geworden, die nicht mitmachen wollten, die wie ich einen körperlichen Ekel vor den Zumutungen der Konkurrenzgesellschaft und ihrem martialischen (wieder Mars!) Lärm verspürten? Sind sie der Welt abhanden gekommen? Bin ich allein?
Ein Nein ist ein kurzes Wort, dem ich nicht viel hinzuzufügen habe, wenn meine Gründe für es nirgends als Basis für eine Diskussion dienen können. Wer redet sich schon über Landkommunen auf Nachbarplaneten die Köpfe heiß? Es ist meiner wie auch immer journalistischen Arbeit also abträglich, mich gedanklich abseits des großen Konsenses mit all seinen Teil- und Schnittmengen zu bewegen. Der Journalist, die Bloggerin, der oder die mitdiskutieren möchte, braucht mindestens eine Blase der Zustimmung von Gleichgesinnten. Sonst fällt ihr oder ihm schnell nichts mehr ein, kein einziger Gedanke blitzt auf, der noch zu entwickeln wäre. Die Randständigkeit ist eine Position des Schweigens. Stehe ich dort, ist es mir, um nur ein Beispiel zu geben, mehr als egal, ob der Kanzlerkandidat Söder oder Habeck heißen soll, da keiner von beiden, so wenig wie ihre innerparteilichen Konkurrent*innen, in der Lage sein wird, ins dritthöchste Staatsamt gewählt die dringendsten sozialen oder umweltpolitischen Probleme mit der nötigen Entschiedenheit anzugehen. Womit mein Kommentar zu ihrem Schaulaufen sich auch schon erledigt hat, mein Text bleibt ungeschrieben und ungeschriebene Texte sind schlecht zu platzieren. Wer Meinungen veröffentlichten will, darf sich von der allgemeinen Meinung nicht zu weit entfernen.
Das bis hier Gesagte, so traurig es für mich als Blogger ist, gibt mir doch eine gute Gelegenheit, einmal den Unsinn der Hufeisentheorie, nach der die radikalen Ränder sich politisch ähneln würden, zu demontieren. Nicht, dass das nicht andere vor mir getan hätten, aber ich habe meine eigene Methode. Es gibt zwei Grundfragen, an deren Beantwortung ich politische Radikalität festmachen kann, Marktwirtschaft (vulgo: Kapitalismus) oder nicht und Demokratie oder nicht. Das demokratische Lager reicht von radikalsten linken Anhänger*innen der Rätedemokratie bis in die CDU, in der sich durchaus noch Demokrat*innen finden lassen, wenn auch kompromissbereite, nicht immer ganz standfeste. Die Marktwirtschaft hat ihre Anhänger*innen angefangen bei den Nazis, die einen völkischen Kapitalismus nach dem Führerprinzip propagieren, bis weit hinein in Linkspartei, in der genug Genoss*innen das bestehende Wirtschaftssystem für unüberwindlich, aber reformierbar halten, weshalb sie es keineswegs abschaffen, sondern staatlicherseits sowohl hätscheln als auch einhegen wollen. Der große Konsens ist also Kapitalismus plus Demokratie, letztere meist als Parlamentarismus verstanden. Der eine radikale Rand, der rechte, will es blutiger und steht für Kapitalismus minus Demokratie. Der andere, der linke, verlässt den großen Konsens, indem er für ein alternatives, nicht auf Privateigentum und Profit beruhendes Wirtschaftssystem (vulgo: Kommunismus) eintritt, er steht mithin für Demokratie (über den Parlamentarismus hinaus) minus Kapitalismus; die beiden Ränder könnten einander nicht entgegengesetzter und fremder sein, Hufeisentheorie demontiert.
Doch mache ich die Gleichung so auf, springt ins Auge, welcher der beiden radikalen Positionen momentan kulturell einflussreicher, gesellschaftlich akzeptierter, eben weit weniger randständig ist: die rechte. Was wahrscheinlich schlicht daran liegt, dass viele Leute irgendwie spüren, irgendetwas müsse sich irgendwann mal relativ durchgreifend ändern – allein der Mieten wegen, die einer oder eine zu zahlen hat, oder wegen der Viren, die der wirtschaftshörigen Regierung aus lauter Verstocktheit nicht gehorchen wollen, bitteschön nur in der Freizeit ansteckend zu sein, ganz zu schweigen vom Klima. Aber gleichzeitig scheint es sehr viel einfacher zu sein, die Demokratie abzuschaffen, als den Kapitalismus. Und so ist die Forderung nach einem Durchregieren populärer als die nach Enteignung.
Bis sich daran etwas ändert: Nein, nein und nochmals nein.
P.S.: Ich ahne schon den Einwand, dass es durchaus Strömungen in der Linken gegeben habe, die zwar gegen Privateigentum an Produktionsmitteln gewesen seien, aber mit dem „plus Demokratie“ eher kurzen Prozess gemacht haben oder hätten. Das ist selbstverständlich richtig. Die Frage ist, ob dieser Einwand die heutige antikapitalistische Linke trifft. Der Verfassungsschutz wird das bejahen, aber kaum mehr als anhand einer oder zwei winzig kleiner Parteisekten belegen können. In ihrer übergroßen Mehrheit ist die radikale Linke heute weltweit basisdemokratisch bis zur skrupulösten Umständlichkeit, wie jeder Besuch eines ihrer Plena beweist.